Extra Krimi Paket Sommer 2021

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»Dichtete Schiller und übersah auf der Korrekturfahne den Druckfehler.«

Dass Rogge es vier Tage im Stockauer Bären ausgehalten hatte, beeindruckte Dörte, aber bei der Begründung für seinen Recherchenurlaub schüttelte sie zweifelnd den Kopf: »Das ist verdammt weit hergeholt, lieber Jens.«

»Kein Widerspruch. Aber alles andere hat Grem wirklich gründlich untersucht. Bis eben auf diesen Punkt: Kann es Zeugen auf dem Parkplatz gegeben haben?«

»Und du hoffst...«

»Hoffen ist der richtige Ausdruck.« Jetzt schwenkte Rogge seinen Zeigefinger vor ihrer Nase: »Alles verrate ich nicht, Frau Staatsanwältin.«

»Aber hoffentlich, wie lange du da noch rumhängen willst.«

»Erst mal die nächste Woche noch. Wenn das Wetter so schön bleibt.«

Die Unterredung mit Simon verlief nicht so erfolgreich, wie Rogge sich das vorgestellt hatte. Der Kriminalrat musterte ihn kühl und hörte wortlos zu; dass Rogge sich einfach so für eine Woche verabschiedet hatte, wurmte ihn.

»Sie haben mir den Fall aufgedrängt.«

Nach einer Weile zuckte Simon mit den Schultern.

»Ich decke auch nicht immer alle Karten gleich auf, aber mich stört, dass Sie nicht einmal zugeben wollen, dass Sie noch Karten in der Hinterhand haben.«

»Das vermuten Sie nur«, berichtigte Simon höflich.

Darauf antwortete Rogge nicht und für drei lange Minuten trat ein unbehagliches Schweigen ein. Beide beherrschten sie die Kunst, den Mund zu halten und sich nicht nervös machen zu lassen. Im Präsidium war Simon immer äußerst korrekt gekleidet, Anzug, einfarbiges Hemd und dezente Krawatte; mit Sakko und Hose fiel er schon auf. Nun hatte Rogge an der Tür geblinzelt: Den Kriminalrat in Kordhosen und Sweatshirt hatte er sich in seinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt. Auch nicht, dass sein Chef einem Hobby frönte. Aber Simon hatte ihn ohne jede Erklärung in den Keller des Reihenhauses geführt, wo eine riesige Modelleisenbahn aufgebaut war, an der er gerade bastelte. Die Platte für den großen Rangierbahnhof füllte fast einen ganzen Raum und aus diesem Raum liefen Schienen in die Nachbarkeller, auf schmalen Brettern montiert, die mit Winkeleisen an den Wänden befestigt waren. Das Ganze wurde digital gesteuert, Simon hatte an einer Platine gearbeitet und mit einem leisen Seufzer den Lötkolben ausgeschaltet, auf den er immer wieder sehnsüchtig schielte, während Rogge seine Geschichte vortrug und seinen Wunsch äußerte: »Das ist nicht mehr unser Bezirk und Sie müssten klären, wer den Einsatz übernimmt.«

Die Eisenbahn imponierte Rogge. In der Anlage mussten einige zehntausend Mark stecken.

»Also gut«, urteilte Simon schließlich knapp. »Wenn Sie meinen, es sei einen Versuch wert ...«

»Ich möchte noch die nächste Woche im Bären bleiben. Auf der Feltenwiese werde ich mich nicht mehr blicken lassen, die Amateurprostituierten interessieren nicht.«

»Aber ihre Freier ...«

»Nur so weit, wie man sie befragen könnte.«

»Schön. Sie vermuten Hehlerei?«

»Wenn dieser Junge von dem Ökohof nicht übertrieben hat ja. Aber auch das raubt mir nicht den Schlaf.«

»Mit anderen Worten - Sie glauben, dass diese Inge Weber nicht zufällig auf diesem Parkplatz gestrandet ist?«

»Glauben wäre zu viel gesagt. Aber ich akzeptiere Grems These von der zufälligen Strandung nicht mehr ohne Vorbehalt.«

»Eine solche Formulierung würde Ihre Staatsanwältin begeistern«, kommentierte Simon trocken. »Aber nach meiner Aktenkenntnis scheint Inge Weber nicht in das Schema einer Gelegenheitsnutte zu passen.«

»Nein, das unterstelle ich auch nicht. Aber was, wenn sie Zeugin einer Straftat geworden ist?«

»Sicher, möglich ist fast alles. Aber die Amnesie ist damit noch immer nicht erklärt.«

»Ich bin noch keine Woche dran, Herr Simon.«

Der Einwand vergrätzte den Kriminalrat, weil er nicht widersprechen konnte. »Na schön, ich will sehen, was ich tun kann.«

»Gut, danke, bis zum nächsten Wochenende.«

Oben begegnete Rogge Frau Simon, die ihm erfreut die Hand entgegenstreckte: »Ein seltener Gast. Wie geht es Ihnen?«

»Danke, gut, Frau Simon.« Unwillkürlich lächelte er, sie war eine fröhliche Frau mit viel Humor, die wahrscheinlich verhindert hatte, dass aus ihrem ernsten Ehemann ein mürrischer Muffel wurde.

Die Villa in Steinfurth hatte Rogge schon bei seinem ersten Besuch voller Neid betrachtet. Der Bauherr hatte es großzügig geliebt, aber offenbar mit Hilfe eines guten Architekten vermieden, dass der Bau großkotzig ausfiel. Inzwischen verbarg sich das Haus hinter dichten Sträuchern und hohen Bäumen; unten auf der Straße, am Tor, das mit einer Fernsehkamera gesichert war, erkannte man nur die Auffahrt und die Doppelgarage. Um den riesigen Garten zogen sich hohe Mauern und Zäune, und Rogge hatte Grems zynischer Interpretation zugestimmt: Ein Mann wie Schönborn musste sich vor seinen zahlreichen Feinden schützen, die er aufs Kreuz gelegt hatte. Oder betrogen, wie immer wieder gemunkelt wurde, aber gerichtsfeste Beweise dafür waren nie gefunden worden. Für Schönborns Ehrlichkeit und Integrität wollte sich keiner verbürgen, aber die hässlichen Gerüchte hatten sich nie bis zu einem konkreten Verdacht, geschweige denn zu einem Ermittlungsverfahren verdichtet.

Rogge klingelte und schaute zur Kamera hoch. Nach dreißig Sekunden fragte eine Männerstimme: »Ja, bitte?«

»Guten Tag, mein Name ist Rogge, Kriminalpolizei, Ich möchte gerne mit Frau Weber sprechen.«

Nach einer halben Minute knackte der Lautsprecher wieder: »Kommen Sie.«

Zwei Riegel schnurrten mechanisch zur Seite und Rogge stieß das Tor auf. Das hellgrau gestrichene Haus mit den weiß lackierten tiefen Fenstern lag höher als die Straße und er erinnerte sich von seinen früheren Besuchen, dass der Garten auf der Rückseite des Hauses den ganzen Südhang der kleinen Erhebung einnahm. Achim Schönborn stand in der Tür und lächelte spöttisch: »Wir haben Sie schon früher erwartet.«

»Guten Tag«, erwiderte Rogge nur.

Schönborn war Mitte vierzig, ein mittelgroßer, kräftiger, sportlicher Typ mit einem kantig hässlichen Gesicht, das viel Härte, aber auch Charme zeigen konnte. Wenn Schönborn wollte, brachte er seine männlichen Gesprächspartner mit arroganter Überheblichkeit in null Komma nichts auf die Palme und wickelte Frauen regelrecht um den Finger, Rogge war sich nie klar geworden, was an Schönborn echt und was Schauspielerei war. Als Gegner durfte man Schönborn nicht unterschätzen, er wusste sich zu wehren und warnte selbst, dass er nachtragend sei. Wer sich von ihm einschüchtern ließ, hatte schon verloren.

»Inge muss jeden Moment kommen.«

»Ich würde auch gern mit Ihnen sprechen.«

»Das überrascht mich nicht.«

Das Wohnzimmer war ein Traum aus Weiß und Goldgelb. Vier Fenstertüren gingen auf die Veranda, und als Rogge beim ersten Mal sein Erstaunen über die Größe des Raumes und die spärliche Möblierung nicht verbergen konnte, hatte Schönborn seltsam scheu erklärt: »Miriam bekam keine Luft.« Damals hatte Rogge ihn sofort verstanden. Diesen Drang, sich zu bewegen und doch in einem geschützten Areal zu bleiben, keinem anderen Menschen zu begegnen, verspürte er selbst oft genug. Schönborns kurzer Satz hatte Rogges Antipathie nicht gemindert, aber den Verdacht gegen den Ehemann abgeschwächt.

Jetzt lag ein großer Teppich auf dem Parkett und Rogge murmelte: »Viel verändert hat sich nicht.«

»Nein«, stimmte Schönborn zu und deutete auf einen Tisch. »Trinken Sie einen Kaffee mit mir?«

»’Gerne.«

»Was wollten Sie mich fragen?«

»Sie sind ein reicher Mann.«

»Behauptet das Finanzamt.«

»Würden Sie mir verraten, was Sie unternommen haben, um Inge Webers Identität festzustellen?«

Schönborn sah ihn ausdruckslos an: »Habe ich etwas unternommen?«

»So wie ich Sie einschätze - ja.«

»Was hätte ich unternehmen können oder sollen?«

»Zum Beispiel eine große Belohnung für sachdienliche Hinweise aussetzen. Oder eine ganze Kompanie von Privatdetektiven engagieren.«

»An beides habe ich gedacht«, bejahte Schönborn und hockte sich auf eine Sessellehne. »Aber ich habe es nicht getan.«

»Und warum nicht, Herr Schönborn?«

»Sie kennen doch Rolf Kramer, den Privatdetektiv?«

»Ja.«

»Kramer hat einige Aufträge für mich erledigt und natürlich wollte ich ihn auf Inges Identität ansetzen. Er hat sich ihre Geschichte angehört, etwas herumgehorcht und dann den Auftrag abgelehnt. Mit der Begründung, dass ich nur viel Geld für eine aussichtslose Sache ausgeben würde.«

»Für einen Einzelkämpfer wie Kramer ist es in der Tat aussichtslos.«

»Natürlich habe ich nichts hinter Inges Rücken eingefädelt. Sie war bereit, mit Kramer zu reden, hat es auch getan, aber sie wollte nicht, dass eine Hundertschaft von mehr oder weniger seriösen Detektiven hinter ihr herschnüffelt.«

»Ja. Und die Belohnung?«

»Die hat Ihr Kollege Grembowski verhindert.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Als ich Grem wegen einer Belohnung ansprach, sprang er unter die Decke. Das verbitte er sich, er habe keine Lust, hinter den Märchen der Spinner und Geldgierigen und berufsmäßigen Halbidioten herzurecherchieren.«

»Die Gefahr besteht wirklich.«

»Das bezweifele ich auch nicht. Trotzdem hätte ich die Belohnung ausgesetzt, aber Inge hat mich gebremst.« Schönborns Blick wurde hart. »Die Menschen sind verschieden, Herr Rogge, mich schüchtert ein Grembowski nicht ein, aber Inge hatte zum Schluss richtig Angst vor ihm.«

 

Was Rogge sich nur zu gut vorstellen konnte. Angst war sicherlich nicht der richtige Ausdruck, sie hatte auf ihn nicht den Eindruck gemacht, als fürchte sie andere Menschen, erst recht nicht mit dem Geld und dem Einfluss eines Achim Schönborn im Rücken. Aber Grem hatte nie lernen wollen, dass er mit seiner Art die Menschen verschreckte, zumindest dazu veranlasste, nicht freiwillig mit ihm zusammenzuarbeiten.

»Kollege Grembowski hat den Fall abgegeben.«

»Ich weiß.« Schönborn schnitt eine Grimasse, »Inge hat’s mir erzählt und daraufhin habe ich ihr gebeichtet, dass und wie wir uns kennen gelernt haben.«

»Das wäre meine nächste Frage gewesen.«

Schönborn runzelte die Stirn, zuckte aber schließlich die Achseln: »Ich habe nie bestritten, däss ich das Morphium illegal beschafft habe. Es ist nämlich nicht schön, einer Frau, die man liebt, nach so kurzer Ehe nur noch ein halbwegs friedliches Sterben ermöglichen zu können.« Weil er danach die Lippen zusammenpresste, schwieg Rogge. Wenn Inge Weber erfahren hatte, unter welchen Umständen Miriam Schönborn gestorben war, und trotzdem bei ihm blieb, hatte Rogge diese Entscheidung nicht zu kritisieren. Und für Schönborns Geschäfte trug Inge Weber keine Verantwortung.

»Da kommt sie«, murmelte Schönborn und stand auf. Rogge hatte das Geräusch des Schlüssels schon gehört.

»Oh - Hallo, Herr Rogge.«

»Guten Tag, Frau Weber.« Er war ebenfalls aufgestanden und sie gab ihm die Hand, etwas neugierig und eine Spur besorgt, dann küsste sie Schönborn flüchtig, der sich wieder auf der Sessellehne niederließ.

»Gibt’s was Neues?«

»Nein. Leider nicht.«

»Sie sind doch nicht extra vorbeigekommen, um mir das zu sagen.«

»Das nicht. Ich würde gern ein kleines Experiment mit Ihnen anstellen.« Über ihre süßsaure Miene musste er lachen. »Nichts Schlimmes. Ich nenne Ihnen jetzt ein paar Namen und Sie sagen mir, ob einer der Namen irgendeine Erinnerung auslöst.«

»Also haben Sie doch etwas herausgefunden.«

»Nein. Ich stöbere noch herum.«

»Versuchen können wir’s, nicht wahr, Achim?«

Energisch drehte sie sich zu ihm um und Schönborn blinzelte wie ein ertappter Sünder. Dass sie ihn auf diese Weise nach seiner Meinung fragte, gefiel ihm nur mäßig, aber vor einer Antwort konnte er sich nicht drücken: »Klar, warum nicht.«

»Also dann, Herr Rogge.«

»Angelika Vogt. Monika Ziegler. Andrea Wirksen. Gertrud Leiwen. Johann Thelen. Benno Brockes. Anton Lohse. Olli.« Bei jedem Namen hatte sie nur den Kopf geschüttelt, doch bei dem Namen Olli kicherte sie: »Olli kenne ich.«

»Und wer ist das?«

»Seinen richtigen Namen weiß ich nicht. Olli kommt jeden Tag vorbei und holt sich altes Brot und altes Gebäck. Ein Stadtstreicher. Olli liebt Mürbeteilchen mit Vanillecreme und Kirschen. Manchmal kann er sie sogar kaufen, aber meistens bittet er sehr höflich darum, dass man ihm eins schenkt.«

Auch Schönborn schmunzelte, aber weniger über Olli als über ihre Lebhaftigkeit.

»Nur Vanille mit Kirschen. Andere Teilchen lehnt er sehr höflich, aber entschieden ab.«

»Wenn man das Beste nicht kriegen kann, verschmäht man oft das Gute.«

»Das muss ich Olli beim nächsten Mal verklickern. Er benimmt sich, als sei er ein gebildeter Mann, und sein Hund sitzt sehr brav draußen vor der Tür und wartet.«

»Den Olli meinte ich leider nicht. Bei den anderen Namen regt sich nichts?«

»Gar nichts.«

»Schade.« Rogge sah Inge Weber nachdenklich an. »Dann muss ich weiter herumsuchen.«

»Das heißt, mein Fall wird immer noch nicht abgeschlossen?«

»Nein.« Weil ein Schatten über ihr Gesicht flog, hielt Rogge inne. »Ist etwas, Frau Weber?«

»Warum lassen Sie mich eigentlich überwachen?«

»Wie bitte?«, gab Rogge erstaunt zurück. »Überwachen?«

»Sie haben doch Männer abgestellt, die mich bewachen oder beschatten sollen - oder wie immer man das nennt.«

»Nein. Wie kommen Sie denn darauf?«

»Weil mir heute wieder so einer nachgefahren ist.«

»Das verstehe ich nicht.«

Sie starrte ihn an und ballte zornig die Fäuste. »Ich komme direkt vom Geschäft. Mit dem Fahrrad. Und die ganze Zeit ist ein Mann hinter mir hergeradelt. Bis hier vors Haus.«

»Das muss ein Zufall sein.«

»Von wegen Zufall! Erst einmal habe ich den Mann schon früher bemerkt, wie er hinter mir herschlich. Dann ist uns heute außerdem wieder ein Auto gefolgt, das parkt unten neben der Einfahrt. Nix Zufall, Herr Rogge.«

Besorgt trat er einen Schritt vor: »Frau Weber, ich habe keine Überwachung angeordnet.«

»Wer denn dann?«

Unwillkürlich blickte er zu Schönborn, der sofort schaltete: »Ich auch nicht, Herr Rogge. Kein Leibwächter, kein Privatdetektiv. Inge hat mich schon danach gefragt.«

Wollte Inge Weber ihn auf den Arm nehmen? - Nein, so viel Verstellung traute er ihr nicht zu und warum sollte Schönborn jetzt lügen? Da stimmte doch was nicht.

»Ich werde mir das Auto und diesen Fahrradfahrer einmal ansehen.«

»Tun Sie das! Und schicken Sie beide zum Teufel!« Sie fauchte vor Erregung, sehr zu Schönborns Unbehagen.

»Wenn ich die Auffahrt runtergehe, sehen mich die beiden. Gibt es eine andere Möglichkeit, das Grundstück zu verlassen?«

»Das Törchen neben dem Gerätehaus«, schlug Inge Weber vor und Schönborn rieb sich das Kinn: »Ja, wenn wir bei Dembuschs - Moment, ich muss mal telefonieren.«

Schönborn ging rasch aus dem Zimmer und Inge Weber betrachtete Rogge, als wolle sie ihm noch nicht trauen. Sie besaß Temperament, auch ein gerüttelt Maß an Aggressivität, und wenn sie zornig geworden war, dachte sie nicht daran, aus lauter Höflichkeit mit ihrer Meinung hinter dem Berg zu halten. Rogges prüfendem Blick hielt sie ohne Verlegenheit stand. Jeans, Sweatshirt, Sandalen mit hohem Absatz: eine ganz normale junge, selbstbewusste Frau, der nicht anzusehen war, dass ihr die Vergangenheit fehlte.

»Was schauen Sie mich so an? Gefalle ich Ihnen nicht?«

»Doch, Sie gefallen mir schon«, besänftigte Rogge. »Aber Sie bereiten mir auch Kummer.«

»Ich hab Sie nicht gebeten, mir zu helfen.«

»Nein, das hat mein Vorgesetzter angeordnet und der will Ihnen nicht helfen, sondern endlich eine Akte schließen.«

»Also bin ich nur ein Aktenzeichen für Sie?«

»Für mich nicht, für den Apparat, in dem ich arbeite - ja.«

»Sehr tröstlich«, knurrte Inge, aber ihr Zorn verrauchte.

Schönborn kam zurück. »Ich hab mit unseren Nachbarn telefoniert. Wir könnten über deren Grundstück auf die Straße gelangen. Ein Haus weiter.«

»Okay, dann machen wir das mal.«

Zu dritt verließen sie das Haus über die Veranda und marschierten quer durch den Garten, der immer noch gepflegt aussah, aber in den Jahren seit Miriams Tod düsterer, dichter geworden war; Rogge erhaschte einen verhangenen Blick, Schönborn hing ähnlichen Gedanken nach. Direkt am Zaun, von der Villa aus nicht zu sehen, stand ein Häuschen für die

Gartengeräte und am Tor zum Nachbargrundstück wartete bereits eine rothaarige Frau, die ihre Neugier nur schwer zügeln konnte.

»Christine Dembusch, unsere Nachbarin«, stellte Schönborn vor und sie schüttelte Rogge begeistert die Hand, Ein richtiger Kommissar, wie aus dem Fernsehen.

»Ich gehe mit. - Nein, du schließt hinter uns ab und gehst ins Haus zurück! Und da bleibst du auch!« Mit diesem Schönborn hatte Rogge früher zu tun gehabt, höflich, fast besorgt im Ton, aber eisenhart, und Inge Weber fügte sich.

»Tschüss, Herr Rogge.«

»Tschüss, und ein schönes Wochenende.«

Das Dembusch-Haus lag wie Schönborns Villa auf der Kuppe der kleinen Höhe und die Auffahrt mündete etwa achtzig Meter entfernt. Auf der Straßenseite wuchsen alte Bäume, die Sichtschutz boten. Wenn der Radfahrer nicht längst das Weite gesucht hatte ...

Schweigend stürmten sie durch das Haus, Als Rogge sich bei Christine Dembusch bedankte, hüstelte sie: »Keine Ursache, für Inge tun wir doch alles ...«

Während die Männer zur Einfahrt hinunterliefen - das ferngesteuerte Tor glitt schon zur Seite -, warnte Rogge: »Das ist meine Aufgabe, Herr Schönborn.«

»Nein, Nur zu Hälfte. Niemand belästigt meine Partnerin.«

Langsam bogen sie von der Einfahrt in die Straße ein und bummelten wie zwei alte Bekannte auf den Eingang von Schönborns Villa zu. Vor der Einfahrt parkte tatsächlich ein Wagen, in dem ein Mann hinter dem Steuer saß, doch ein Fahrradfahrer war breit und breit nicht zu erkennen.

»Was will der Kerl da?«, knurrte Schönborn,

»Vielleicht holt er nur jemanden ab«, versetzte Rogge trocken.

Ein dunkelroter Opel, Kennzeichen GG-KL 2521. Ob der Fahrer gewohnheitsmäßig alle zwanzig Sekunden in den Rückspiegel schaute?

»Und was machen wir jetzt?«, drängte Schönborn.

»Gar nichts, wir spazieren gemeinsam an dem Wagen vorbei und kehren nach hundert Metern um. Dann verabschieden Sie sich.«

»Zu gerne würde ich ...«

»Nein! Es ist nicht verboten, in seinem Auto zu sitzen und zu warten. Oder ist hier Halteverbot ausgeschildert?«, setzte Rogge nach einer Pause hinzu.

»Nein«, brummte Schönborn.

Wenn kein harmloser Fahrer, dann ein Anfänger, der die Zwanzig-Sekunden-Regel nicht beachtete. Rogge hatte die Figur hinter dem Steuer scharf im Auge behalten und registrierte, dass der Unbekannte zusammenfuhr, als er sie endlich bemerkte.

»Nicht hinschauen!«, befahl Rogge Schönborn. Wie zwei gute Nachbarn schlenderten sie an dem dunkelroten Wagen vorbei, der sichtlich einige Jahre auf dem Buckel hatte.

Noch immer kein Fahrradfahrer zu sehen.

»So, jetzt kehren wir um.«

Damit hatte der Fahrer nicht gerechnet, viel zu spät und viel zu hastig bückte er sich und tauchte mit einem Buch oder einer Karte in der Hand wieder auf. Schönborn fluchte, er hatte das Manöver richtig beurteilt.

»Keine Dummheiten, Sie schließen Ihr Tor auf.«

Äußerst widerstrebend gehorchte Schönborn, verabschiedete sich und wandte sich dann der Schließanlage zu.

Als er den Motor des Tores summen hörte, ging Rogge auf die Fahrertür des Wagens zu. Der Mann ließ die Karte sinken und beäugte ihn misstrauisch. Ende zwanzig, dunkle, scharfe Augen, lange dunkle Haare. Er war auf der Hut.

Rogge blieb neben der Tür stehen und widerwillig kurbelte der Fahrer die Scheibe herunter: »Ja?«

»Guten Tag, mein Name ist Rogge, Kriminalpolizei. Würden Sie sich bitte ausweisen?«

»Was?« Dem Jüngling fiel der Unterkiefer herunter.

»Ja. Würden Sie bitte aussteigen und mir Ihren Ausweis oder Führerschein zeigen?«

»Wie komme ich denn ...« Er verstummte, als ihm Rogge seinen Dienstausweis unter die Nase hielt, doch danach reagierte er nicht richtig. Ein normaler Mensch hätte protestiert oder verwirrt gehorcht, aber in seinen Augen zuckte es, während er mit der rechten Hand zu hastig nach unten langte, Rogge ahnte eine Zehntelsekunde vorher, was der junge Mann plante, und duckte sich, sah die Pistole noch schemenhaft, während er sich über die Schulter nach hinten abrollte, um außer Reichweite zu gelangen; der Schmerz zuckte durch seinen Körper, als er mit der linken Schulter gegen die scharfe Kante des hinteren Radausschnitts stieß. Eine Sekunde flimmerte es vor seinen Augen, doch zu seinem Glück dachte der Bewaffnete mehr an Flucht als an Heldentaten, Rogge konnte sich gerade noch zur Seite wälzen, als der Motor ansprang, und den Rest der Szene verfolgte er wie ein gelähmter Zuschauer.

Wie vom Himmel gefallen hetzte ein zweiter Mann auf den startbereiten Opel zu; aus Schönborns Ausfahrt preschte ein Schatten hervor, erreichte den Laufenden, aber der hatte im letzten Moment die Gefahr gewittert und sich einen festen Stand verschafft; Schönborn stürzte sich auf den Mann und konnte dem Tritt nicht mehr ausweichen, der ihn zu Boden schleuderte; sein Gegner verschwendete keinen weiteren Blick an ihn, die Beifahrertür wurde von innen geöffnet und der Mann warf sich in den schon losfahrenden Wagen, der mit aufheulendem Motor davonschoss.

Ausgerechnet die linke Schulter. Während Rogge sich aufrappelte, musste er die Zähne zusammenbeißen. Auch Schönborn hatte Mühe, auf die Beine zu kommen, sie hinkten wie zwei schlachtennarbige Krieger aufeinander zu.

 

»Was war das?«, presste Schönborn heraus.

»Keine Ahnung«, krächzte Rogge. »Jedenfalls haben sie uns prima abgeschüttelt.«

»Wenn ich den Kerl erwische ...!«

»Haben Sie gesehen, woher der zweite kam?«

»Nein. Leider nicht.«

Bewegung half gegen Schmerzen, sie suchten zehn Minuten lang die Straße und alle Einfahrten ab, fanden aber kein Fahrrad. Ob so ein Klapprad in den Kofferraum passte? Oder war der Radfahrer längst abgezogen und der dritte Mann hatte einen anderen Beobachtungsposten bezogen?

»Was machen wir jetzt?«, stöhnte Schönborn. Er hatte Schmerzen und umklammerte mit beiden Händen seinen Oberschenkel.

»Nichts. Sie gehen ins Haus und erzählen Frau Weber am besten gar nichts. Ich lasse nach den Kerlen fahnden.«

»Nichts erzählen? Aber die sind doch hinter Inge ...«

»Keine unnütze Panik! Vielleicht beschatten die Ihre Freundin, okay, aber denkbar ist auch, dass sie hier etwas ausbaldowert haben ... Doch, Herr Schönborn, hier wohnen keine ganz armen Leute. Warnen Sie Ihre Nachbarn, sie sollen ein Auge auf Unbekannte haben, die sich hier herumdrücken, das hilft Ihnen und Ihrer Partnerin.«

Einen weniger angeschlagenen Schönborn hätte er nicht wegschicken können, das war Rogge klar, aber zu seiner Erleichterung gehorchte Schönborn und humpelte in die Einfahrt.

Das Handy lag in Stockau, sein privater Wagen hatte kein Funksprechgerät, also fuhr Rogge ins Präsidium. Allmählich breitete sich die Wut auf Simon in seinem Körper aus und vertrieb den Schmerz; die Reaktion des Fahrers hatte Rogge viel mehr erschrocken, als er Schönborn eingestanden hatte. An Einbrecher glaubte er nicht, die stellten sich selten so dämlich an, das war ihm nur auf die Schnelle eingefallen, um Schönborn abzulenken. Jetzt musste Simon endlich mit der Sprache herausrücken!

Der Hauptmeister an der Pforte grinste: »Sind Sie unters Auto geraten, Herr Rogge?«

»Wie kommen Sie ... Oh, verdammt.« Das war Rogge noch nicht auf gefallen, Hose und Jacke voller Flecken und beide Teile zerrissen, großartig, das hatte ihm noch gefehlt.

»Kann ich Ihnen helfen?«

»Danke, nein, ich hatte nur einen kleinen Zusammenstoß.« Er zwinkerte dem Hauptmeister zu und grollte heimlich, diese Geschichte würde natürlich die Runde machen. KHK Rogge prügelte sich! Am dienstfreien Wochenende! Auf der Treppe tröstete er sich mit dem schönen Spruch: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt man völlig ungeniert.

Simon war nicht zu Hause, wie seine Frau bedauerte: »Kann ich etwas ausrichten?«

»Nein, vielen Dank, ich lege ihm einen Bericht auf den Schreibtisch.«

»Fein, ein schönes Wochenende noch, Herr Rogge.«

Das erhoffte er sich kaum, nachdem er den Computer angeworfen und sich in das Kfz-Kennzeichen-Register eingeloggt hatte: GG-KL 2521. Nicht vergeben.

Großartig. Mühsam tippte sich Rogge durch die Menüs, verirrte sich ein paar Mal und landete mehr zufällig im Bestand Groß-Gerau: KL 2521 war vor acht Monaten abgemeldet worden. Der Opel trug also keine Dublette, sondern eine Nummer, die im Moment amtlich nicht zugeteilt war.

Zufall? An dem hinteren Kennzeichen war ihm nichts aufgefallen, TÜV-Plakette und Siegel, scheinbar alles ganz normal.

Rogge stellte sich ans Fenster und starrte auf die Kastanie. Am Montag war ihm ein Wagen gefolgt, nachdem er Inge Weber zu ihrer Gymnastik begleitet und anschließend sein Auto geholt hatte, das nahe der Bäckerei stand. Auch nur ein Zufall? Und wenn es keine Zufälle waren - was wusste Simon? Welche Einzelheiten verheimlichte der Rat?

Nein, nicht mit ihm! Er würde keinen Bericht für Simon schreiben! Vertrauen war immer noch eine Zweibahnstraße.

Entschlossen schaltete Rogge seinen Computer aus und lauschte danach auf die ungewöhnliche Stille im Haus. Seit seiner Krankenhauszeit überkam ihn manchmal das Gefühl, nicht mehr dazuzugehören. Dagegen half nur, etwas zu unternehmen, bevor ihn der Trübsinn überwältigte.

Er legte Hertha Wassmuth einen Zettel auf den Tisch: Bleibe noch eine Woche weg!, und fuhr nach Hause, um sich umzuziehen.

Auf dem Weg zur Autobahn bog Rogge ab und hielt vor dem Friedhof. Er ging nicht oft zum Grab, weil er sich jedes Mal mit einem Vorwurf herumplagte. Ihre Ehe war zum Schluss ohne Höhen und Tiefen verlaufen, gleichförmig, für seine Frau vielleicht sogar langweilig, und er grübelte, ob er ihr nicht früher hätte gestehen sollen, was ihm erst nach ihrem Tod aufgefallen war: dass er sie brauchte. Leicht hatte sie es nie gehabt, je älter er wurde, desto weniger konnte er abends seine Fälle an der Garderobe aufhängen wie seinen Mantel. Seine Frau hatte lange mit sich gerungen, bis sie seine wachsende Verschlossenheit nicht mehr auf sich bezog, die Ursache nicht in ihrer Person, in ihrem Zusammenleben suchte. Ob sich deshalb die Kinder so selten bei ihm meldeten?

»Auf dem Friedhof raucht man nicht!«, quäkte eine alte gebückte Frau neben ihm, ihre Knopf äugen glitzerten vor Abscheu und Kogge fröstelte. »Sie haben ganz Recht, es stört die Toten mehr als die Lebenden.«

Im Bären war weniger Betrieb, als Rogge vermutet hatte; Olli zapfte in seiner gewohnten Stellung und warf ihm nur einen gelangweilten Blick zu. Von den jungen Leuten ließ sich keiner sehen und Gertrud wusste auch, warum: »Die sind alle zur Disko nach Herlingen.«

»Und Sie?«

Halb enttäuscht, halb wütend winkte sie mit dem Kopf Richtung Tresen: »Olli behauptet, er findet für Samstagabend keine Aushilfe.«

»Das tut mir Leid für Sie.«

»Lässt sich halt nicht ändern!«, schickte sie sich tapfer drein. In einer Disko würde sie mit ihrer Ausdauer und nicht zu bremsenden Energie Furore machen.

Keine Minute später durfte sie unter Beweis stellen, was sie leisten konnte. Eine Wandergruppe, an die vierzig Männlein und Weiblein, fiel ausgehungert und halb verdurstet in den Bären ein; Olli kratzte sich den Kopf und verzichtete auf seine Handstütze; nach einer Viertelstunde tauchte seine Frau auf und half Gertrud beim Aufträgen.

Die gute Laune der Fußfreudigen hob sich mit dem Bierverbrauch, der Lärm belästigte Rogge und deshalb verdrückte er sich.

Sonntag, 17. September

Die Wirtin sah müde aus und Rogge erkundigte sich, wie lange es denn gestern noch gegangen sei.

»Um Mitternacht kam endlich der Bus, da haben wir sie vor die Tür gesetzt. Einige haben aber hier übernachtet«, gestand sie.

»Au weia. Eine Frage hätte ich: Wie kommt man zum Scherkenhof?«

»Ganz einfach. Sie gehen die Brückenstraße hinunter und dann auf dem Weg immer geradeaus. Zu Fuß ist es allerdings eine gute Stunde.«

»Also ein schöner Spaziergang.«

Sie lächelte ihm zu, bevor sie ging. Ihre Vorliebe für hautenge Hosen und Oberteile irritierte Rogge. Wenn ihre melancholische Blässe nicht gewesen wäre, hätte man leicht auf falsche Gedanken kommen können.

Die Brückenstraße endete ziemlich abrupt vor einem Haufen Sand und Kies, seitlich führte tatsächlich ein Weg quer durch das Tal auf die Höhe zu. Der Himmel hatte sich bewölkt, Rogge schritt kräftig aus, weil die vereinzelten Windstöße kalt durch seinen dünnen Anorak bliesen. Auf beiden Hängen des schmalen Tals wuchsen Obstbäume mit niedrigen, breiten Kronen. Er marschierte an einer Herde Rinder mit schwarzem, fast samtigem Fell vorbei, die einschläfernd regelmäßig wiederkäuten und ihn mit friedlicher Neugier beäugten. Beete mit Gemüse, ein Kartoffelacker. Maisfelder, zum Teil schon abgeerntet. Dann zwei riesige Grasflächen, mit einem dünnen Maschendraht abgedeckt, auf denen sich Hunderte von braunen Hühnern tummelten. An einer Stelle war der winzige Bach zu einem flachen Becken aufgestaut, zwei gepflasterte Wege führten ins Wasser hinunter und zum ersten Mal in seinem Leben konnte Rogge Schweine bewundern, die freiwillig badeten. Es sah zu komisch aus.

Neben ihm hielt eine Radfahrerin an und grüßte freundlich: »Guten Tag.«

»Guten Tag.« Rogge deutete vergnügt auf die Schweine: »Man soll es nicht glauben.«

»Oh, da irren Sie, Schweine sind ausgesprochen reinliche Tiere, Sie müssen ihnen nur genügend Auslauf geben.«