Extra Krimi Paket Sommer 2021

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»Wenn ich kann ...«

»Diese dunkelhaarige Schönheit mit den schwarzen Augen, die morgens bedient ...«

»Das ist die Chefin.« Unwillkürlich hatte Gertrud die Stimme gesenkt, und weil er ungläubig die Stirn runzelte, rückte sie ein Stück näher und flüsterte: »Man soll’s gar nicht glauben, dass die den Olli geheiratet hat.«

»Olli ist der Wirt?«

»Der Chef, ja. Und ob das so gut geht mit den beiden ... Na ja, wie man sich bettet, so liegt man, nicht wahr? Und jetzt muss ich weiter. Tschüss.«

Amüsiert sah ihr Rogge nach, Gertrud hatte irgendwann verlernt, langsam zu gehen, sie stürmte davon, als würde sie sonst vor Energie platzen. Doch sie kam nicht weit, ein Mann mit weiten, flatternden Hosen und einem unförmigen knielangen Umhang überquerte den Marktplatz und kreuzte ihren Kurs. Gertrud blieb stehen, der Mann redete sie an und Gertrud antwortete. Leider war sie schon zu weit weg, dass Rogge ihr Gesicht erkennen konnte, er kaute auf seinen Lippen, Gertruds Haltung verriet mehr Unbehagen als Höflichkeit. Als der Mann eine Hand nach ihr ausstreckte, wich sie zurück, rief noch etwas und raste davon. Der Mann kehrte Rogge den Rücken zu, blieb noch einen Moment stehen und schaute Gertrud nach, schlurfte dann sehr viel langsamer weiter und verschwand in einem Durchgang. Nein, kein Mann, das war eine Frau, nach den Bewegungen zu urteilen. Mit der Sympathie war das so eine Sache, dachte Rogge, wenn der eine zu viel und der andere gar keine aufbrachte.

Auf dem Rückweg machte Rogge einen kleinen Abstecher in den Stockauer Supermarkt. An einer Kasse saß die junge Frau, die von dem Quartett mit so anzüglich-beifälligem Gelächter begrüßt worden war, als sie den Bären betrat.

Bis neunzehn Uhr war keiner aus dem Quartett im Bären erschienen. Rogge überlegte, dass er eigentlich noch keine Lust hatte, sich schon auf sein Zimmer zu verziehen. Ein weiterer kleiner Spaziergang schien angesagt und deshalb holte er sich aus seinem Zimmer den Feldstecher und bummelte über die Feltenwiese den Hang Richtung Autobahnparkplatz hoch. Für Mitte September war es einfach zu warm und im Tal staute sich die Hitze regelrecht. Außer ihm schien kein Mensch unterwegs. Als er den Buschsaum erreichte, hörte er wieder deutlich die Autobahn und empfand sie nach der Stille unten als störend lärmig.

Rogge wusste selbst nicht, was er hier wollte oder erwartete. Natürlich war es ein idealer Ort, um eine Frau loszuwerden, aus welchen Gründen auch immer, aber warum hatte Inge Weber sich das ohne Gegenwehr gefallen lassen? Wann hatte sich das graue Loch aufgetan? Nachdem sie aus dem Auto geschoben, geschubst, gezerrt, gestoßen worden war? Oder war ihr Gedächtnisverlust der Grund dafür gewesen, dass sich der Fahrer dieser Frau entledigt hatte?

Rogge saß auf einer der unbequemen Bänke des Parkplatzes, rauchte und sinnierte. Nach einer halben Stunde kehrte er um.

Vor der Einmündung des Wirtschaftsweges in die asphaltierte Straße beobachtete er ein Pärchen, das die Straße entlangging und miteinander zu streiten schien. Den jungen Mann erkannte er sofort an seinem Nackenzopf wieder, auch die junge Frau kam ihm bekannt vor, aber erst als sie zufällig den Kopf in seine Richtung drehte, schaltete er: Das war die junge Frau, die am Dienstag nach ihrer Begleiterin den Bären betreten und von dem Kraftmeier-Quartett so hämisch begrüßt worden war. Die beiden bemerkten den Kommissar nicht, ganz in ihre Auseinandersetzung vertieft, und Rogge blieb stehen, bis sie außer Sicht waren.

Im Bären hockte sich Rogge auf seinen alten Platz und Gertrud brauste sofort heran: »Na, noch Durst, Herr Rogge?«

»Aber immer.«

Olli, der Wirt, gähnte. Er hatte seine Lieblingshaltung eingenommen, eine Hand auf den Tresen gestützt, mit der anderen ewig beschäftigt, sich über den Kopf zu streichen, und dabei studierte er eine Zeitung. Rogge hatte er nur einen flüchtigen Blick gegönnt, sein Vorrat an Freundlichkeit schien limitiert.

»So, Ihr Bier.«

»Danke, Gertrud.«

Sie hatte Lust auf ein Schwätzchen und blieb stehen. »Wie war der Abendspaziergang?«

»Angenehm. Ich bin über die Wiese zum Parkplatz hochgelaufen.«

Sie nickte.

»Von der Wiese aus kommt man ja direkt zur Autobahn«, heuchelte er und wieder nickte sie rasch: »Ja, der Parkplatz heißt Feltenwiese, wie die Wiese.«

»Wenn ich heimfahre, spare ich mir den Umweg über Dreschbach.«

»Das tun einige«, stimmte sie nervös zu und sah sich nach dem Wirt um, den es vor Gähnen zu zerreißen schien. »Dann mal zum Wohl.«

Mit ausdrucksloser Miene sah Rogge Gertrud nach. Man absolvierte nicht fünfundzwanzig Jahre Dienst bei der Kripo, ohne zu merken, wann ein Zeuge mit sich rang, ob er lieber schweigen oder reden sollte. Drängeln nutzte dann gar nichts, da half nur Geduld und davon besaß er mehr als genug, auch für Gertrud.

Zwei Männer brachen auf, als Rogge sein erstes Glas geleert hatte. Selbst der Wirt quälte sich ein unverständliches Brummen ab und Gertrud rief fröhlich: »Gute Nacht, Herr Doktor. Gute Nacht, Herr Wilhelms.«

Kurz danach zahlten auch zwei andere Gäste, offenbar ein Ehepaar, das so aussah, als gehöre es nicht zu den Dorfbewohnern. Rogge zögerte, und als Gertrud in seine Nähe kam, fragte er halblaut: »Wollen Sie schließen?«

»Nein, nein, bleiben Sie ruhig. Noch ein Bier?«

»Ich möchte nicht, dass Sie nur meinetwegen ...«

»Aber nein.« Zum Tresen rief sie: »Noch ein Bier.«

Olli rülpste, schüttelte den Kopf und faltete die Zeitung zusammen; kaum war Olli verschwunden, erschien die schwarzhaarige Schönheit und nahm seine Stelle ein, sie brachte immer noch das Kunststück fertig, keinen Menschen direkt anzusehen. Gertrud störte es nicht, Rogge gewann sogar den Eindruck, dass sich die beiden Frauen gut verstanden, und die Gäste riefen nur halblaut: »Hei, Angi« oder »’n Abend«.

Erst jetzt bemerkte Rogge den Großen, der rechts an der Wand saß, offenbar auf den Stammplätzen der jungen Dorfwilden. Zwar drehte der sofort den Kopf zur Seite, aber Rogge hatte den gehässigen Ausdruck mitbekommen, und danach beobachtete er unauffällig, wie der Hinkende Gertrud mit den Blicken verschlang und jedes Mal, wenn sie zu ihm an den Tisch kam, vergeblich versuchte, sie in ein Gespräch zu verwickeln. So nett sie war, es steckte doch ein kleines Biest in ihr, denn sobald sie ihn kurz und schnippisch abgefertigt hatte, tänzelte sie hüftschwenkend davon. Du meine Güte, da zappelte einer aber gewaltig an einem Haken. Die Wut, die der Große nicht verbergen konnte, wenn er ihr nachblickte, alarmierte Rogge.

Gut eine Stunde später erschien Olli und löste seine Frau wieder ab. Sie wollte noch etwas sagen oder fragen, aber er winkte so herrisch ab, dass sie furchtsam von ihm abließ und verschwand. Olli goss sich einen fünffachen Schnaps ein, den er in einem Zug kippte. Den anschließenden Durst löschte er mit so viel Bier, dass Rogge der Nachruf auf viele Wirte einfiel: Er war sein bester Kunde. Auch Gertrud zeigte sich besorgt, aber noch zapfte Olli wie ein Automat. Wenn er so weitersoff, musste er in zwei Stunden umkippen wie ein nasser Sack.

Der letzte Rogge bekannte Gast kam kurz nach zehn, die junge, stark angemalte Frau aus dem Supermarkt. Der Hinkende verzog das Gesicht zu einer verächtlichen Grimasse, was ihr nicht entging, sie blieb stehen, stützte beide Hände auf den Tisch und beugte sich vor, um ihm etwas zuzuflüstern. Eine Liebeserklärung war es sicherlich nicht. Denn als sie sich aufrichtete und zum Tresen ging, glühte ihr Gesicht vor Zorn hochrot. Olli beachtete sie nicht und der Hinkende schnitt eine Fratze, als plagten ihn Zahnschmerzen.

Mit einem flüchtigen Winken verschwand der Wirt durch die Tür, die zur Küche und den Privaträumen führte, Gertrud füllte das Glas auf, schaltete im hinteren Teil das Licht aus und kam dann so langsam auf Rogge zu, dass er ein leises Lächeln nicht unterdrücken konnte. Gertrud die Eilige hatte etwas auf dem Herzen und deshalb fragte er sie freundlich: »Wollen Sie sich einen Moment zu mir setzen?«

»Darf ich? - Ja, gerne.«

Ihre Verlegenheit war jetzt mit Händen zu greifen. »Sie möchten mir etwas sagen, nicht wahr?«

»Woher wissen Sie das?«

»Es ist mein Beruf, Gertrud.«

»Ja, sicher ... weil Sie mir in Herlingen ...« Sie verhaspelte sich, schluckte und nahm allen Mut zusammen: »Sind Sie — sind Sie - wegen Monika hier?«

»Wegen Monika? - Nein, ich kenne keine Monika.«

Er sah, wie sie sich entspannte und anzulehnen wagte. Offensichtlich war ihr ein Stein vom Herzen gefallen.

»Wer ist denn diese Monika?«

»Eine Freundin«, erwiderte sie schnell.

»Wohnt sie hier in Stockau?«

»Ja. Sie ist Arzthelferin.«

»Ach, und dann war dieser Doktor, der eben gegangen ist, der Arzt?«

»Fuhrmann heißt er, ja.«

»Wollen Sie mir erzählen, was mit Monika los ist?«

Obwohl Rogge ganz neutral gefragt hat, schaute sie ihn unruhig an. Noch hatte sie sich nicht entschieden. Er bot ihr eine Zigarette an, die sie ungeschickt nahm, gab ihr Feuer und wappnete sich mit Geduld.

»Es hat - es hat - mit der Feltenwiese zu tun.«

Wenn Kili sich über Rogge geärgert hatte, was häufig geschah, giftete er herum, der Chef müsse Weltmeister im Angeln werden; niemand könne so lange so regungslos sitzen wie Rogge, bis der misstrauischste Fisch auf den Köder beiße. Während Kili solche Sottisen verbreitete, zappelte er vor Ungeduld und Rogge konterte gelegentlich gemütlich, auch Kilis Technik sei nicht zu verachten; er mache jeden Verdächtigen so nervös, dass der nur gestehe, um von Kilis Gegenwart befreit zu werden.

 

Auch Gertrud konnte Rogges Schweigen nicht länger ertragen, sie holte schließlich tief Luft: »Monika ist - man hat - sie ist belästigt - man hat sie vergewaltigt.«

»Ja«, sagte er neutral. »Weiß man, wer’s getan hat?«

»Nein«, antwortete sie hastig und Rogge ließ sich nicht anmerken, dass er ihre Lüge durchschaut hatte.

»Und wo ist das passiert?«

»Auf der Feltenwiese.«

Rogge lächelte insgeheim. Ein Kriminalbeamter, der sich in Stockau einquartierte, wo abends die Straßen hochgeklappt wurden, und dann zur Feltenwiese spazierte. Kein Wunder, dass sie kombiniert hatte.

»Da oben passiert viel«, fuhr sie plötzlich fort, als wollte sie von dem Namen Monika ablenken.

»Wie meinen Sie das?«

»Da prügeln sich Männer. Und manchmal parken da ganz komische Kerle. Aus dem Dorf geht abends keiner gern da rauf.«

»Ja, ich verstehe.«

»Aber Sie dürfen Monika nicht sagen, dass ich Ihnen das verraten habe, das mit - mit ...«

»Nein, keine Sorge, Gertrud.«

»Sie will nämlich nicht .,.« Die Röte schoss ihr ins Gesicht, als sie abbrach.

»Versprochen ist versprochen.«

»Danke!«, flüsterte sie erleichtert. Wahrscheinlich hatte Gertrud Erfahrung mit Männern, doch ihr Äußeres und ihr lebhaftes Auftreten täuschten über ihre Naivität hinweg, erwachsen war sie noch nicht.

Unwillkürlich fragte Rogge: »Wie alt sind Sie, Gertrud?«

»Zweiundzwanzig.«

»Ein Jahr jünger als meine Tochter«, zwinkerte er ihr zu und damit verblüffte er sie so sehr, dass sie die Feltenwiese vergaß.

VII.

Von der Weser her wehte es scheußlich kalt herauf, obwohl keine Wolke am hellblauen Himmel zu sehen war. Die vier Männer auf dem Kai drängten sich enger zusammen, um den Wind abzuwehren, der durch ihre zu dünnen Mäntel blies. Die beiden großen waren unzweifelhaft Brüder, bei flüchtigem Hinschauen konnte man sie glatt verwechseln. Der einzige Uniformierte hob das Sprechfunkgerät an den Mund: »Alles auf Position?«

»Alles klar!«, schnarrte es zurück.

Der kleine Frachter glitt im Zeitlupentempo auf die Mauer zu. Breite Rostbahnen an der Seite und ein notdürftig festgelaschter Baum zeugten davon, dass die Kolotai ihre beste Zeit hinter sich hatte und die Reederei an Reparatur und Unterhalt sparte. An der Reling lehnten mehrere Männer, andere liefen nach achtern und zum Bug, um die Leinen klarzumachen. Hinter dem Schlepper quirlte es jetzt gewaltig auf, die Trosse spannte sich und die Kolotai wurde noch langsamer.

Gönter saß auf dem anderen Ufer in einem Auto und beobachtete das Anlegemanöver im Fernglas. Ein Seelenverkäufer, dachte er traurig. Es war schon arg, was da unter der russischen Flagge herumschipperte, manchmal nur durch Farbe und Hoffnung zusammengehalten. Jede Wette, dass so ziemlich jede Sicherheitseinrichtung marode war, aber er hatte durchgesetzt, dass niemand an Bord ging, um zu kontrollieren.

Die vier Männer warteten immer noch, traten manchmal von einem Fuß auf den anderen, um sich aufzuwärmen. Kreutzer hatte jetzt auch, ein Glas an den Augen und grunzte zufrieden vor sich hin: »Deckladung. Hinter der ersten Luke, wie gemeldet.«

Die Leinen flogen, das Schiff kam zur Ruhe, die Gangway wurde ausgeschwenkt. Hinter dem Heck bewegte sich ein Gittergerüst, der Kran rollte schon heran. Zwei Männer bogen um die Ecke eines Schuppens und marschierten zügig auf die Gangway zu, als wollten sie unbedingt die Ersten sein, die an Bord gingen. Die Brüder drehten sich ein wenig, einer hielt eine Videokamera in der Hand, die er auf der Schulter des anderen abstützte, der ihm zugleich Deckung bot. Die beiden Eiligen achteten nicht auf die Vierergruppe. An Deck erschien ein Trumm von Mann, zwei Meter groß und fast genauso breit, mit einem riesigen Vollbart, der dringend nach Kamm und Schere verlangte. Er winkte den an Bord Kommenden zu, schüttelte dem vorderen begeistert die Hand, als wolle er ihm den Arm ausreißen, und umarmte ihn dann. Den zweiten Mann begrüßte er weniger stürmisch. Danach verschwanden die drei Männer.

»Also dann!«

Die vier Männer setzten sich in Bewegung; auf dem anderen Ufer legte Gönter das Glas zur Seite und ließ den Motor an. Jetzt dauerte es noch knapp eine Stunde, bis die Formalitäten erledigt waren und die ersten Ladungsstücke an Land gehievt wurden. Frühestens am Nachmittag würden der Ladungskontrolleur und die Zöllner die Kisten öffnen können; sie wussten, wo sie suchen mussten, und hatten sich heute Morgen noch einmal die Dias angesehen, um sich alle Einzelteile einzuprägen. Achttausend Verzögerungszünder für Granaten aus alten sowjetischen Beständen, vielleicht zerlegt und als technisches Material deklariert; eigentlich unverständlich, warum Eschenbach sie hier in Bremerhaven Zwischenlagern wollte. Es sei denn, die Zünder wurden umgerüstet - dazu würden die Federn und Teleskopstifte passen, die er aus Tschechien bezogen hatte.

Ungeduldig wartete Gönter in seinem Hotelzimmer, bis Kreutzer anrief und im vereinbarten Code meldete: »Wir sind auf Öl gestoßen.«

»Dann bohrt mal schön vorsichtig weiter«, empfahl Gönter heiter. Es traf sich gut, jetzt erreichte er ohne Hast noch die letzte Maschine nach Köln. Eschenbach würde sich nicht herausreden können, damit hatten sie ein Glied aus der Kette herausgesprengt, und mit den Zündern konnten sie ihn legal wegen der in Rotterdam aufgespürten Chemikalien, mit denen sich Sprengsätze herstellen ließen, unter Druck setzen. Hoffentlich! Denn seit ihre Quelle versiegt war, fehlten ihnen Tipps und der Gegner lernte dazu. Wer telefonierte oder faxte noch, seit es Internet und E-Mail gab? Weinert würde fluchen, wenn er erfuhr, dass Zoll und BND eng zusammenarbeiteten und den Verfassungsschutz von dieser Aktion ausschlossen. Selbst vom Mailen machten die Burschen immer weniger Gebrauch, sie verließen sich auf mündliche Absprachen, weil sich alle aus diesem oder über diesen Verein kannten. Vorgestern hatten sie in Frankfurt am Flughafen einen Kurier aus Athen gefasst, der in seinem Koffer 500.000 Dollar transportiert und ihnen allen Ernstes versichert hatte, er wüsste nicht, für wen das Geld bestimmt sei; sein Auftrag lautete, mit dem Koffer so langsam, dass man ihn verfolgen konnte, in ein x-beliebiges Hotel zu gehen, dort zwischen 18 und 22 Uhr sein Zimmer nicht zu betreten und mit einem anderen Koffer am nächsten Morgen abzureisen. Es klang abenteuerlich, aber leider sehr wahrscheinlich.

Die kleine Turbo-Prop-Maschine schaukelte und tanzte. Viele Jahre war Gönter selbst geflogen, seine CPL war noch gültig, aber im Amt sah man es nicht gerne, wenn er sich an den Knüppel setzte. Wenn er in der Kabine hockte, flog er mit dem Arsch mit, Turbulenzen störten ihn nicht, sein Magen hatte sich daran gewöhnt; Jets mit ihren Reisehöhen über dem Wetter lagen ihm zu ruhig in der Luft.

Also würden sie ihr Computersystem mit ein paar neuen Einzelheiten füttern können. Die Kolotai gehörte der Baltic Eastern Transports und an der russischen Reederei waren Harald Lanckenbroick und Klaus Ochtenhoff beteiligt, die sie von anderen krummen Geschäften schon kannten, aber leider noch nie vor Gericht hatten überführen können. Darauf - und nur darauf - kam es an.

Dass Ellwein gerne internationale Ringe, sozusagen Mafia im Frack, aufdecken würde, verstand Gönter zwar, aber in Wahrheit interessierte es ihn nicht. Darüber sollten sich seine Vorgesetzten den Kopf zerbrechen, er brauchte handfeste Tipps und Hinweise auf illegale Importe und Exporte. Handfeste, brauchbare und vor allem richtige Tipps. Was nutzte ihm Agentengeschwätz, der Irak habe sich mit Indonesien zusammengetan, um über Singapur elektronisches Material aus Japan zu beziehen? Sobald die Ware in Deutschland zwischenlandete, wurde sie lohnend. Nur dann!

Offiziell war er zwar zur loyalen Kooperation mit den Diensten vergattert worden, aber bei den monatlichen Berichten, die er im Amt abstattete, registrierte er seit Jahresanfang spürbare Zurückhaltung. Und mit Weinert, der hinter jedem Baum einen Verfassungsschädling witterte, kam er inzwischen überhaupt nicht mehr klar. Das grenzte doch mittlerweile an Paranoia! Diesen Eschenbach in aller Öffentlichkeit als Waffenschieber vorgeführt, mit Hilfe der Presse und des Fernsehens und der äußerst hilfreichen Kollegen von der Steuerfahndung, bewirkte mehr Abschreckung als komplizierte Überwachungen, deren Ergebnisse sich in Nebel auflösten. Deshalb hatte Gönter auch verschwiegen, dass Eschenbach einen obskuren politischen Studienkreis finanzierte. Denn Weinerts Tölpel kriegten es in ihrem Übereifer fertig, daraufhin einen so schönen Fang wie heute zu vermasseln, weil sie das Wild vergrämten.

In seiner Wohnung fand Gönter ein Fax mit zwei Wörtern vor: Weinert kocht. Kein Absender.

Gönter faxte an Ellwein zurück. Nicht zu viel Salz in die Suppe.

Freitag, 15. September

Angi - also Angela oder Angelika, die Wirtin - war noch bleicher als an den Tagen zuvor. Ihre Hände zitterten, sie hatte wenig oder schlecht geschlafen. Nach der kurzen Szene, in der Olli seine Frau gestern Abend verscheucht hatte wie ein lästiges Insekt, glaubte Rogge Gertruds Andeutung unbesehen, dass die Ehe nicht funktionierte, und überlegte müßig, warum diese Frau einen solchen Rüpel geheiratet hatte.

Zwar schien die Sonne unverändert, aber es war kühler geworden und am Nachmittag zogen Wolken auf. Schloss Falkenberg enttäuschte ihn, die zehn Mark Eintritt fand Rogge ausgesprochen happig und die Führerin mit Nickelbrille und schmalen Lippen leierte ihren Sermon herunter, als hasse sie alle Touristen und speziell Schlossbesichtiger. Mit dem Bus fuhr er nach Herlingen und ging ins Revier.

Wibbeke bot wieder Kaffee an: »Sie sehen besser aus, Herr Kollege.«

Dass er sich auch besser fühlte, wollte Rogge nicht zugeben. »Herr Wibbeke, erzählen Sie mir etwas über den Wirt und die Wirtin des Bären?«

»Ach du meine Güte.« Der Oberkommissar raufte sich die Haare. »Da sind Sie gleich über das große Drama des Dorfes gestolpert.«

»Tja, wofür hat man eine Spürnase.«

»Ja, ja. Also. Angelikas Eltern gehörte der Bär. An sich ein nettes Ehepaar, ordentlich, zuverlässig, fleißig, aber irgendwie keine Wirte. Ich hab mich da auch nie wohl gefühlt und heute glaube ich auch zu wissen, warum, die beiden Vogts schämten sich ihres Berufs.«

»Weil sie was Besseres sein wollten?«

»Nein, nein, sie waren nicht hochmütig, aber irgendwie immer auf Abwehr. Und dann so schrecklich bemüht, das nicht merken zu lassen: Gefällt es Ihnen, geht es Ihnen gut, was können wir für Sie tun - also, es passte einfach nicht zu einer Dorfkneipe.«

»Und Tochter Angelika sollte auf keinen Fall Wirtin werden.«

»Genau so. Na ja, der Mensch denkt, der Trieb lenkt, die schöne Angi wurde schwanger.«

»Sagen Sie bloß, von diesem Bierfass Olli.«

»Ach was, doch nicht von dem. Den Vater - also: den Erzeuger - hat Angi eisern verschwiegen. Aber nun war was unterwegs, die Schande, so galt das noch auf dem Dorf, war kaum noch aufzuhalten, und der alte Vogt verheiratete sein einziges Kind mit Anton Lohse.«

»Genannt Olli.«

»Ein ziemlicher Tunichtgut. Aber was soll ich Ihnen sagen: Mit dem Bären geht’s seitdem aufwärts. Olli verkörpert alles, was ein Wirt nicht sein soll, er ist mürrisch und unfreundlich und grob, aber der Laden läuft, und ich denke mir, der alte Vogt hat Ollis Wirtsqualitäten erkannt.«

»Was ist aus dem Kind geworden?«

»Tot. Überfahren vor - ich glaube, vier Jahren.« Wibbeke fluchte leise und sehr unfein. »Fahrerflucht.«

»Wie hat es Angi aufgenommen?«

»Sie schweigt seitdem. Und Olli ist richtig aufgeblüht, seit ihm der Bastard nicht mehr jeden Tag über die Füße stolpert.«

Rogge nickte und spielte mit seiner Zigarette, bevor er seufzend über die Hürde sprang: »Herr Kollege, ich wohne im Bären. In einem kleinen Gästehausanbau im Garten, acht Zimmer und alle modern eingerichtet, mit Telefon, Fernseher, Bad. Wie hat Olli das finanziert? Doch nicht mit dem Ertrag aus dem Bären.«

»Wahrscheinlich nicht. Ich vermute mal, mit Angis Mitgift. Den Vogts gehörte ziemlich viel Land, das sie verpachtet hatten, und das hat Olli Stück für Stück verkauft. Der Bär ist übrigens nicht immer so leer wie jetzt, im Hochsommer gibt’s im Stockbachtal einen bescheidenen Tourismus.«

»Das hat so viel gebracht?«

 

Nach einer Weile schaltete Wibbeke und lachte gutmütig: »Vergessen Sie die Quote nicht.«

»Welche Quote?«

»Die Milchquote. Offiziell betrieb der alte Vogt einen Milchwirtschaftshof mit hundert Stück Großvieh. Im Sinne des Gesetzes war er Bauer und Eigentümer. Und für die Quote soll der alte Lehnert eine Unsumme gelöhnt haben, wie man munkelt, aber die Bauern geben sich dumm und sind gerissen, die wissen ganz genau, wann sie schweigen müssen.« Über seine Grimasse musste Rogge laut lachen. »Übrigens auch vor der Polizei und dem Finanzamt.«

»Olli und Angie haben keine Kinder?«

»Nein ... Herr Rogge, Ihren mitleidigen Blick sparen Sie sich lieber auf.“ Angi könnte gehen, wenn sie wollte, so viel Angst vor dem Gerede der Leute und der Schwäche seiner Tochter hatte der alte Vogt nun auch nicht. Es gibt einen Ehevertrag, der Bär gehört ihr und Olli ist nur Angestellter seiner Frau.«

»Was Sie so alles wissen«, stichelte Rogge und Wibbeke schmunzelte: »Viel Wissen ersetzt die halbe Arbeit.«

»Haben Sie eigentlich mal im Bellhorner Motel nach Inge Weber recherchiert?«

»Ich nicht und so viel ich weiß, Grem auch nicht. Aber ich glaube, die wären zu mir gekommen, wenn diese Frau dort Gast gewesen wäre.«

»Warum sollten die das tun, Herr Kollege?«

»Weil die beiden Eigentümer wissen, dass wir einen Blick auf sie und ihre Gäste haben. Wenn da Volljährige ihre Nächte miteinander verbringen, geht uns das nichts an, aber manche Schläferinnen sehen etwas sehr jung aus, und den Skandal möchte sich das Motel nicht leisten, dass wir da eines Nachts laut klopfen und brüllen: Ziehen Sie sich etwas über und halten Sie Ihre Personalausweise bereit!«

»Fahren Sie bitte einmal hin und erkundigen Sie sich offiziell? Ich möchte mich da nicht blicken lassen.«

»Geht in Ordnung, Herr Rogge.«

Vor dem Revier gab Rogge seinem inneren Schweinehund einen Tritt und marschierte den Weg zurück nach Stockau am Bach entlang. Simon würde schäumen, wenn er hörte, wie sein Erster Hauptkommissar den Fall anging, mit langen Wanderungen und Schlossbesichtigungen, doch wenn Simon ihm diese Urlaubsmasche verbieten wollte, musste er mit der vollen Wahrheit herausrücken.

Wibbeke würde im Motel nichts erreichen, aber es war gut, wenn möglichst weit gestreut wurde, dass die Kripo den Fall Inge Weber nicht ad acta gelegt hatte.

Vor Stockau wurde Rogge von einem Fahrradfahrer überholt, der mächtig strampelte; Rogge hatte sich bei dem Klingeln ziemlich erschrocken. Der Knabe zischte in einem Affentempo an ihm vorbei, sein Haarschopf wehte regelrecht hinter ihm her. Ein alter Bekannter!

In Stockau begegnete Rogge ihm wieder, diesmal schob er manierlich sein Rad und redete eifrig auf eine junge Frau ein, die kannte Rogge auch, sie war von dem Quartett mit offener Missachtung begrüßt worden. Beide waren so in ihr Gespräch vertieft, dass sie ihn gar nicht beachteten; Rogge musterte die beiden unauffällig. Er war etwa 1,75 Meter groß, wog um die siebzig Kilo, braune Haare, schmales Gesicht. Sie hatte ein herzförmiges, puppenhaftes Gesicht, brünette, halblange Haare, 165 Zentimeter, um die sechzig Kilo. Braune Augen, wie Rogge feststellte, als sie ihn flüchtig ansah. Rein äußerlich passten sie gut zusammen.

Wibbeke hatte Rogge daran erinnert, dass Kühe kein Wochenende kannten, der Bauer also jeden Tag zum Melken recht früh aufstehen musste, und deswegen stockte er einen Augenblick, als er die Gaststube betrat. So voll hatte er den Bären noch nicht erlebt, Gertrud stellte neue Rekorde auf und die Wirtin half beim Servieren aus. Rechts, auf den Junggesellen-Radaubrüder-Bänken, hatte sich das Quartett niedergelassen und schien fest entschlossen, Gertrud zur Verzweiflung zu bringen. Olli zapfte und spülte pausenlos und stützte sich ausnahmsweise nicht mit einer Hand ab. Unter der Decke bildete sich bereits der schmutzig blaue Baldachin aus Zigaretten- und Pfeifenrauch. Bald würde es heiß und stickig werden, Rogge schauderte und zwang sich zu einem Lächeln, als Gertrud ihm eine Kusshand zuwarf. Und wieder erhaschte er einen hasserfüllten Blick des Hinkenden, der ihn, wahrscheinlich vom Bier beflügelt, sekundenlang böse anglühte.

Rogge bestellte Heringsstip nach Art des Hauses und befolgte die Regel, dass Fisch schwimmen müsse, aber der immer noch zunehmende Lärm und die schlechte Luft gingen ihm schwer auf den Geist. Verstimmt brach er bald auf und atmete vor der Tür tief durch.

Danach wusste er selbst nicht, warum er wieder zur Feltenwiese hinaufbummelte, vielleicht, weil er den Weg kannte und seine Lungen lüften wollte. Alle, die ihm vorwarfen, er rauche zu viel, begriffen nicht, dass Raucher besonderen Wert auf frische Luft legten. Der Halbmond wurde von Wolken bedeckt, es war unangenehm dunkel und Rogge trat vorsichtig auf, um nicht in einem der Löcher umzuknicken.

Das Auto entdeckte Rogge nur durch Zufall, weil plötzlich seitlich ein roter Punkt aufleuchtete. Irritiert blieb er stehen, der Punkt wurde dunkler, verschwand aber nicht, und dann schaltete Rogge: Da hatte sich jemand eine Zigarette angezündet. Der dunkle Streifen vor ihm musste schon der Buschsaum sein, das Auto parkte keine zwanzig Meter neben dem Wirtschaftsweg. Unschlüssig zupfte Rogge an seinem Ohrläppchen, es sah ganz so aus, als vergnüge sich da ein Pärchen, und Voyeurismus verabscheute er. Doch die Entscheidung wurde ihm abgenommen, im Auto leuchtete die Innenlampe auf, weil eine Tür geöffnet worden war, und fast hätte der Hauptkommissar vor Überraschung gepfiffen. Die junge Frau, die da ausstieg, war nackt, bückte sich nach hinten zur Rückbank und holte ein Bündel heraus, das sie auf die Motorhaube legte. Ihre Kleidung, im Stehen zog es sich bequemer an.

Rogge klemmte die Mundwinkel ein und schlich noch etwas weiter in den Schatten der Büsche. Striptease paradox bekam er nicht alle Tage geboten. Jetzt stieg auch der Mann aus. Er schien wesentlich älter zu sein und holte seine Brieftasche hervor, ging um den Wagen herum und gab ihr etwas, das sie in den Ausschnitt stopfte. Nun ja, eindeutiger ging’s nicht. Der Mann versuchte, die Frau zu umarmen, was sie mit einer obszönen Geste abwehrte, daraufhin ließ er sie rasch stehen und flüchtete hinter das Steuer. Der Motor sprang an, die Scheinwerfer leuchteten auf und Rogge klopfte sich innerlich auf die Schulter: Die jetzt angestrahlte junge Frau kannte er, die Kassiererin aus dem Supermarkt. Das Auto wendete, im letzten Moment duckte der Hauptkommissar sich vor dem Licht, der Kegel wanderte weiter und Rogge richtete sich schnell auf, um das Kennzeichen zu lesen. Landkreis Neuenburg. Knapp vierzig Kilometer über die Autobahn. Liebe und Triebe überwanden auch lange Strecken.

Als sich seine Augen wieder auf die Dunkelheit eingestellt hatten, sah er gerade noch, dass die Frau dem Auto Richtung Parkplatz folgte, also nicht ins Dorf hinunterlief. Was hatte das nun wieder zu bedeuten?

Rogge ließ ihr zwei Minuten Vorsprung, bevor er in bester Indianermanier hinter ihr herpirschte. Unter den Bäumen konnte er nichts sehen und die Autobahn übertönte ihre Schrittgeräusche. In der letzten Kurve vor dem Parkplatz blieb er stehen, überlegte und tastete sich dann nach links zwischen den Stämmen durch. Es war finster, dazu knackten pausenlos trockene Zweige unter seinen Schuhen, zum ersten Mal dankte er für den Lärm der Autos, es rauschte gleichförmig. Die Menschheit eilte freitags heim ins Wochenende und endlich erkannte Rogge auch zwischen den Stämmen und dem Krüppelgehölz die vorbeigleitenden Lichtpunkte.

Aber wo war die Frau abgeblieben?

Fast hätte Rogge sich zu weit vorgewagt und huschte erschrocken zurück hinter einen Baum. Sie saß allein auf einer der Bänke und rauchte, das Glutpünktchen hatte ihn gerade noch rechtzeitig gewarnt. Was zum Teufel trieb sie hier um diese Zeit? Wartete sie auf jemanden? Die beiden Abstellstreifen waren leer.