Extra Krimi Paket Sommer 2021

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»Haben Sie gezielt nach der Frau gefragt?«

»Nein, von Tür zu Tür sind wir nicht gegangen. Aber der Stockerbote hat die beiden Bilder dreimal gebracht, jedes Mal schön groß und an prominenter Stelle. Wenn jemand die Frau kennen sollte, hatte er Gelegenheit, sich zu melden.«

»Damit sind wir beim Thema. Ich habe sie mir angesehen, Herr Wibbeke, so eine Frau lässt sich nicht einfach das Kleid wegnehmen.«

»Plus Handtasche, Schuhe und Strümpfe«, ergänzte Wibbeke ernsthaft und klemmte die Mundwinkel ein.

»Plus Handtasche und Schuhe, sicher. Strümpfe - ich weiß nicht, es war ein sehr warmer Tag.«

»Sie vermuten also, sie hat das Kleid freiwillig ausgezogen?«

»Mit irgendeiner Theorie muss ich ja anfangen. Deshalb habe ich mir den Parkplatz angesehen, und auch die Feltenwiese.«

Weil Wibbeke eine Grimasse schnitt, hob Rogge die Hand: »Sie wissen, was da an schönen Abenden und in lauen Nächten abläuft?«

»Klar, da wird gerammelt, was das Zeug hält.«

»Wenn die Frau nun mit einem Mann verabredet war, zu eben diesem Zweck?«

Nach einer Bedenkpause schüttelte der Oberkommissar den Kopf: »Ich weiß nicht, Herr Rogge. Eine Frau, die für mehrere tausend Mark Schmuck trägt - ob die sich wirklich für Freiluft-Auto-Sex interessiert?«

»Sie meinen, sie hätte ein Motel vorgezogen?«

»Ja, zum Beispiel diesen schauerlichen Schuppen oben am Beilhorner See oder das Gästehaus des Bären.«

»Daran habe ich auch schon gedacht. Was, wenn der Mann es nicht wagen konnte, in das Motel oder in den Bären zu gehen?«

»Weil man ihn oder sie erkannt hätte?«

Rogge schmunzelte nur und Wibbeke kratzte sich verlegen den Kopf. Auf diese Idee war er noch nicht gekommen.

»Bis heute Morgen war ich auch fest davon überzeugt, die Frau hätte in einem Wagen gesessen, der über die Autobahn zu dem Parkplatz gekommen ist. Bis ich mir die Fahrspuren auf der Feltenwiese und im Wald näher angesehen habe.«

»O je, da haben Sie was am Wickel.« Wibbeke stöhnte, das Thema war ihm unangenehm. »Wie oft haben wir da schon eingegriffen und Strafzettel verteilt. Und das Forstamt bekniet, endlich eine Sperre einzubauen. Aber alles für die Katz. Wer sich auskennt, benutzt den Wirtschaftsweg und den Parkplatz als wilde Autobahnauffahrt.«

»Na fein. Unterstellen wir mal, die Frau war mit jemandem verabredet, der hier Bescheid weiß. Sie fahren über die Feltenwiese zum Waldrand, es kommt zum Streit, vielleicht, weil sie mehr als das Kleid nicht ausziehen will, er gibt Gas, entfernt sich Richtung Autobahn und sie dackelt zum Parkplatz, weil sie ja irgendwie wegkommen muss, sich aber nicht ins Dorf traut.«

»Glauben Sie denn, dass diese Inge Weber simuliert?«

»Ich würde meine Hand weder für ein Nein noch für ein Ja ins Feuer legen.«

Was Wibbeke wirklich von Rogges Theorie hielt, ließ er nicht erkennen, sondern rührte lange in seiner Tasse. Rogge betrachtete ihn ausdruckslos, bis Wibbeke unwillig Luft holte: »Einen Versuch scheint es wert.«

»Ja. Deshalb werde ich mich im Bären einquartieren, unter meinem Namen auftreten und allen Stockauern umgehend auf die Nase binden, warum ich im Dorf herumlungere.«

»Sie wollen also Staub aufwirbeln.«

»Oder jemanden nervös machen, ja. Und wenn ich völlig danebenliege - nun, dann habe ich zwei Wochen ausgespannt und den regionalen Tourismus angekurbelt.«

»Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie ein großer Fußgänger vor dem Herrn sind.«

Rogge lachte. Zwar hatte er Wibbeke nicht überzeugt, damit hatte er auch gar nicht gerechnet, aber der Oberkommissar würde mitspielen.

»Am besten besorgen Sie sich drüben in der Buchhandlung Steffen eine Wanderkarte.«

»Danke für den Tipp. Warum heißt dieser Hang Feltenwiese?«

»Felten, Hermann Felten war mal der größte Bauer hier im Tal, vor dem Krieg war das. Ein grober Klotz und stur wie ein Felsen. Aus der Schulzeit hatte er einen Intimfeind, den Sohn eines Landarbeiters, der auf keinen grünen Zweig kam. Dieser Ohlig biederte sich bei den Nazis an und wurde endlich Kreisbauernführer. Worauf Felten einen saugroben Brief an den Gauleiter schrieb, eine Partei, in der Ohlig was geworden sei, könne ja nur aus Dummköpfen und/oder Verbrechern bestehen.«

»Oha!«

»Es wurde mehr als Oha, Herr Rogge. Zwischen Felten und Ohlig brach der Krieg schon vor 1939 aus und irgendwann 1941 oder 1942 wurde Felten abgeholt.«

»Was ist aus ihm geworden?«

»Auf der Flucht erschossen. Offiziell. Was in Wahrheit geschehen ist ...«

»Und Ohlig?«

»Den hat’s 1947 erwischt. Mit einer Hacke erschlagen, der Täter ist nie gefunden worden. Der Feltensohn war zwar in Verdacht geraten, hatte aber ein mehr oder minder stichfestes Alibi. Anfang der fünfziger Jahre hat er verkauft und ist weggezogen. Seitdem heißt dieser Hang die Feltenwiese.«

Dorfgeschichten; Rogge sah Wibbeke nachdenklich an. Alte Rechnungen, nie abgeschlossen, nie als erledigt verbucht.

»Eine Frage noch: Im Bären bedient eine junge Frau, ich hab sie heute Vormittag zufällig vor dem Gasthaus gesehen.«

»Gertrud Leiwen.« Wibbeke schnalzte mit der Zunge. »Ein ziemlicher Feger. Sie liebt Trinkgelder, fesche Männer und wilde Spritztouren. Aber ein ordentliches Mädchen.«

»Dann bin ich ja genau der richtige Gast.« Der Kripomann stand auf. »Ab und zu schaue ich vorbei, Herr Wibbeke.«

»Viel Erfolg. Eine kleine Warnung noch: Der Bär ist das Stammlokal von ein paar jungen Männern, die zu viel Kraft und zu wenig Grips haben. Und kein Mensch kommt hier auf die Idee, wegen einer Rauferei mit blutigen Nasen und ausgeschlagenen Zähnen die Polizei zu holen.«

»Danke, ich werde aufpassen.«

In dem Buchladen bediente ihn ein junges blasses Mädchen, das vor Nervosität zappelte, der lange Pferdeschwanz pendelte pausenlos. Aber sie fand auf Anhieb die gewünschte Wanderkarte und piepste zum Abschied aufgeregt: »Hoffentlich hält sich das Wetter.«

Auf dem Markt wurden die Stände abgeräumt, zwei Männer mit rot-weißen Armbinden fegten im Zeitlupentempo Papier, Gemüse- und Obstabfälle zusammen. Man hielt ein letztes Schwätzchen, hier schien jeder jeden zu kennen. Was für Stockau wohl noch mehr zutraf.

Hertha Wassmuth schluckte zweimal trocken: »Wo, Chef?«

»Das Gasthaus heißt Zum Bären, in Stockau. Ich lass mein Handy an, für alle Fälle, und Kili schärfen Sie ein, dass ich ihn dort erst sehen will, wenn ich ihn gerufen habe.«

Als leidgeprüfte Vorzimmerchefin hatte Hertha die kurze Erschütterung schon überwunden.

»Und wenn sich Simon meldet, sagen Sie ihm nur, ich sei auf seinen Wunsch hin im Urlaub unterwegs.«

»Was im Klartext heißt, er soll nicht erfahren, wo Sie sich herumtreiben.«

»So ist es.« Dabei zwinkerte Rogge und Hertha schnaufte genussvoll. Der Moment, in dem sie Kriminalrat Simon und Bello Born jede Auskunft darüber, wo der Chef steckte, mit Rogges Segen verweigern durfte, würde ihr ein innerer Parteitag werden.

Nachdem Rogge zu Hause einen großen Koffer gepackt hatte, einschließlich aller Bücher, die er schon immer hatte lesen wollen, fuhr er zur Staatsanwaltschaft. Die Freifrau Dörte begrüßte ihn mit einem verkniffenen Lächeln, das er richtig interpretierte: »Ackerknecht hat also zugeschlagen?«

»Hat er.«

»Aber da du nicht in Tränen aufgelöst bist, vermute ich mal - nicht con brio, sondern moderato.«

»Genau so, und ich kann dir flüstern, das beunruhigt mich mehr, als wenn er die ganz große Show abgezogen hätte.«

»Was wäre, wenn er von der Schuld seines Mandanten überzeugt ist und deshalb alles unterlässt, was den Mörder seiner gerechten Strafe entziehen könnte?«

»Daran habe ich auch schon gedacht«, gestand sie. »Aber ich kann ihn ja schlecht danach fragen - oder?«

»Nein, aber du kannst dieses Gutachten ganz klein spielen und abwarten, ob und wie er sich darauf stürzt.«

»Viel anderes bleibt mir auch nicht übrig.« Sie nahm die Schultern zurück und streckte trotzig das Kinn in die Höhe.

»Du bist die schönste und gefährlichste Staatsanwältin, die ich kenne«, applaudierte Rogge. »Schrecklich schade, dass ich in einen dienstlichen Urlaub fahren muss.«

»Auch am Wochenende?«

»Mal sehen! Ich melde mich, tschüss.«

Der Bär brummte noch nicht, aber rekelte sich schon. Der große Gastraum war L-förmig angelegt und im BrauereiEinheitsstil möbliert: Tische mit heller Lindenholzplatte, stabile Stühle mit Schaumstoff-Sitzpolstern und an den Wänden die übliche Kollektion von Ziertellern, Pokalen, Wimpeln und schauerlichen Landschaft-mit-Tier-Ölschinken. Von dem Windfang mit einem altmodischen dichten Filzvorhang trat man direkt an den Tresen, hinter dem ein Riese stand, eine Hand aufgestemmt. Sein Gesicht war so kugelrund wie sein Bauch, er rollte seine Schweinsäuglein, denen wahrscheinlich nichts entging, und fuhr sich mit der anderen Hand immer wieder über die glänzende Glatze. Bei der Verteilung von Sympathie hatte ihn die Vererbung entschieden benachteiligt und Rogge schoss durch den Kopf, dass der Knabe sich wohl das Motto eines römischen Cäsaren zu Eigen gemacht hatte: Die Gäste mögen mich hassen, solange sie mich nur fürchten. Immerhin sah der Wirt so aus, als würde er mit jedem Raufbold spielend fertig. An der Theke saßen zwei alte Männer und stierten in leere Gläser, im Gastraum, der sich links nach hinten erstreckte, grölte eine unsichtbare, aber hörbar angeheiterte Männerrunde.

»Guten Tag«, grüßte Rogge höflich. »Ich hätte gerne ein Zimmer mit Bad.«

 

»Zimmer mit Bad.« Der Riese grunzte erfreut, ein Logiergast schien sich in dieser Jahreszeit nicht häufig in den Bären zu verirren.

»Vorerst für eine Woche.«

»Eine Woche.« Der Wirt fuhr mit der Hand zum Kopf, überlegte es sich anders und massierte sein Kinn. »Gut, eine Woche.«

»Und was kostet das?«

»Mit Frühstück fünfzig Mark pro Nacht. Eine Woche - dreihundert zwanzig.«

»Fein.«

»Gertrud!«, röhrte der Wirt los. »Gast für Zimmer eins.«

Wie der Blitz kam die Gerufene um die Ecke gefegt, setzte das volle Tablett mit leeren Gläsern so schwungvoll ab, dass es über die Metallplatte schabte und genau vor dem Wirt stehen blieb. »Zehn und zehn.«

Mit einem Tempo, das Rogge schwindelig machte, tippte sie die Bestellung in die Kasse ein, langte gleichzeitig nach einem Brett mit acht Schlüsseln und strahlte Rogge an: »Würden Sie bitte mitkommen?«

Als sie das Zimmer aufschloss, atmete er heimlich erleichtert auf. Er hatte mit Schlimmerem gerechnet, doch der Raum war groß, hell, sauber und praktisch eingerichtet, sogar mit Fernseher und Telefon, Einbauschränken und einem kleinen Tisch, an dem er schreiben konnte.

»Gefällt es Ihnen?«

»Ja, sehr schön, vielen Dank.«

»Ich bringe noch die Handtücher. Frühstück gibt’s von sieben bis zehn, vorne im Lokal.«

»Prima. Wie steht’s mit Abendessen?«

»Was Kleines können Sie jederzeit vorne bestellen. Und wenn Sie eine Amtsleitung haben wollen, bitte eine Null vorwählen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt.«

Damit wollte sie losstarten, er musste sie zurückrufen, um ihr das Fünfmarkstück in die Hand zu drücken.

»Vielen Dank!« Sie hatte eine sehr direkte Art, ihm in die Augen zu schauen, nicht dreist, aber eine Spur aufdringlich - nein, vereinnahmend.

Zwei Minuten später war sie wieder da und werkelte wie der Wirbelwind im Bad, Rogge sah ihr lächelnd zu und bedankte sich: »Wir sehen uns nachher.«

Nachdem sie davongeschossen war, öffnete er das Fenster. Bis auf zwei Hühner, die empört los gackerten, war kein Geräusch zu hören, weder von der Autobahn oder der Dorfstraße noch von vorn aus der Gaststube. Fast zu ruhig für seinen Geschmack; er schüttelte über sich selbst den Kopf und begann auszupacken.

Gegen 19 Uhr brummte der Bär aus tiefster Kehle; Gertrud rotierte wie ein Kreisel, der dicke Wirt schaute immer noch griesgrämig drein, aber arbeitete nur scheinbar langsam, die beiden waren ein gut aufeinander eingespieltes Team. Bier und Schnaps flössen in Strömen, die Durchreiche zur Küche wurde rhythmisch geöffnet und geschlossen. Mehr durch Zufall hatte Rogge einen Tisch in der Ecke des L bekommen und bald festgestellt, dass er für seine Zwecke den besten Platz besetzt hatte. Die Gaststube war durch unsichtbare Striche in drei Abteilungen auf geteilt. Am Tresen und rechts davon, an zwei Tischen mit Holzbänken entlang der Wand, tobten sich die jungen Männer lautstark und durstig aus. In seiner Abteilung herrschte etwas mehr Ruhe und deutlich weniger Durst, und in dem langen Strich des L saßen die Älteren, zum Teil mit Frauen und Kindern, und unterhielten sich. In den seltenen Momenten, in denen sie nicht laufen musste, lehnte sich Gertrud an die Ecke des Tresen, Rogge genau schräg gegenüber, sodass sie alle Tische überschauen konnte. Ab und zu begegneten sich ihre Blicke, dann strahlte sie ihn fröhlich an, als sei er bereits ein Freund und Stammgast. Den meisten Krach veranstalteten die vier jungen Männer rechts von ihm, und wenn die so dumm waren, wie ihre lauten und ordinären Sprüche andeuteten, gnade Gott ihren Kindern, Das große Wort führte ein ungewöhnlich langer und kräftiger Kerl mit einem hässlichen Gesicht, er sah aus wie ein brutaler Schläger. Einmal verschwand er hinter der Tür zu den Toiletten und Rogge bemerkte, dass er leicht hinkte. Sofort sank an dem Tisch die Lautstärke. Als er zurückkam, stieß er beinahe mit Gertrud zusammen, sie standen einen Moment zusammen, Rogge konnte nur ihr Gesicht im Profil sehen und hatte das Gefühl, dass Gertrud sehr zornig auf eine Bemerkung des Langen reagierte. Er versuchte, ihr einen Arm um die Taille zu legen, aber mit einer schnellen Tänzelbewegung entzog sie sich ihm und die drei Kumpane - die gespannt zugeschaut hatten - verspotteten den Hinkenden wegen seines Misserfolgs.

Nach dem zweiten Bier zahlte Rogge; das Essen hatte mehr durch Quantität als Qualität überzeugt, aber mit dem Trinkgeld knauserte er nicht und Gertrud beäugte ihn fast wohlwollend, während sie ihm eine gute Nacht und angenehme Träume wünschte. Rogge schob schon den Stuhl zurück, als eine junge Frau Anfang zwanzig den Bären betrat, von dem Quartett mit ausgelassenem Hallo begrüßt. Sie zögerte, drehte den Kopf zur Tür, eine andere junge Frau kam herein und das anzüglichfröhliche Gelächter der jungen Männer brach wie auf Befehl ab. Die zweite Frau warf den Kopf in den Nacken und sagte etwas zu der ersten, die heftig nickte; zusammen gingen sie an Rogge vorbei in den hinteren Teil der Gaststube. Das Quartett starrte ihnen nach und Rogge, der sie unauffällig beobachtete, staunte über die halb verächtlichen, halb lüsternen Mienen. Mit der ersten Frau hätten sie sich gern zusammengesetzt, gegen die zweite hatten die drei etwas, doch am meisten wunderte ihn, dass der Große, der sich auf seinem Stuhl ganz herumgedreht hatte, um den beiden Frauen nachzuschauen, für einen Moment Spannung und Sorge erkennen ließ. Zwischen der so demonstrativ Geschnittenen und dem Großen, Hinkenden, knisterte etwas und dem Langen gefiel es gar nicht, dass diese junge Frau hier im Bären aufgekreuzt war.

Mittwoch, 13. September

Beim Frühstück stellte Rogge fest, dass außer ihm nur noch ein mittelalterliches Ehepaar im Bären wohnte. Er hatte tief geschlafen und war durch den Wecker aufgewacht, den er aus lauter Gewohnheit gestellt hatte.

Gertrud war nicht zu sehen, stattdessen brachte ihm eine Frau das Frühstück, bei deren Anblick er unwillkürlich den Atem anhielt. Lange und glatte schwarze Haare, schwarze Augen, ein schmales, etwas blasses, aber wunderschönes Gesicht. Sie trug schwarze Samthosen und ein enges weißes T-Shirt, mit ihrer Figur hätte sie sofort auf jedem Laufsteg anfangen können. Was hatte eine solche Schönheit in dieses Nest verschlagen?

»Guten Morgen«, grüßte sie mit gesenkten Augen. »Ich hoffe, Sie haben die erste Nacht gut geschlafen.«

»Ja, danke, hervorragend«, stotterte Rogge. Kein Zweifel, die Wirtin. Mit diesem groben Klotz verheiratet?

Die Mengen hätten für einen Schwerstarbeiter ausgereicht und der Kaffee erinnerte an Hertha Wassmuth, schwarz, etwas bitter und stark.

Als die Wirtin bemerkte, dass er fertig war, brachte sie ihm den Meldeblock: »Würden Sie sich bitte noch eintragen?« Auch jetzt sah sie ihn nicht an.

»Natürlich.«

Er füllte den Zettel korrekt aus; nach seinem Beruf wurde nicht gefragt.

Das Geld für die Wanderkarte hatte sich gelohnt. Fünf Stunden lief Rogge durch Wälder und Wiesen auf die Beilhorner Berge zu, machte ab und zu Rast und beschimpfte seine Muskeln und Gelenke, die gefälligst zur Kenntnis nehmen sollten, dass sie bei einem 55-jährigen Kriminalhauptkommissar noch nicht zu protestieren hätten. Zehn Jahre sollten sie Vater Staat und seinem Beamten noch dienen, dann könnte man über Ruhestand reden. Als endlich der Stausee zwischen den Hügeln vor ihm auftauchte, schalt sich Rogge einen Narren, dass er sich für den ersten Tag gleich einen solchen Gewaltmarsch vorgenommen hatte. Aber das Laufen hatte ihm gut getan, seine Lungen schienen wie durchgepustet, die Sonne strahlte wieder aus einem wolkenlosen Himmel, und wenn es stimmte, dass man einmal täglich seinen Kreislauf bis zum Schwitzen belasten sollte, dann hatte er das mit dem Aufstieg zum Uferweg geleistet.

Hier oben wehte ein schwaches Lüftchen, gerade genug, um die Segel flappen zu lassen, die Boote glitten majestätisch langsam über den See und einige Abgehärtete schwammen tatsächlich, Die Mehrheit sonnte sich aber auf den Uferwiesen, was Rogge sehr vernünftig erschien. Die allwissende Wanderkarte enthielt auch einen Busstreckenplan und auf der Rückfahrt kämpfte er mit dem Schlaf. Den holte er in seinem Zimmer nach.

An diesem Abend war der Bär nur schwach besucht. Gertrud empfahl ihm ein Essen, das ihn wenig begeisterte - gebratene Fleischwurst mit Gurken-Kartoffel-Salat, doch sein Magen knurrte so laut, dass sein Geschmack gar nicht erst konsultiert wurde. Das lautstarke Quartett ließ sich nicht blicken. Gegen neun Uhr schaute ein junger Mann herein, der seine langen braunen Haare zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Am Tresen bestellte er ein Bier und zu Rogges Verwunderung verzogen Gertrud und der Bezopfte sich in eine Ecke; sie tuschelten aufgeregt, bis der Wirt, dem der junge Gast nicht zu gefallen schien, seine Kellnerin unfreundlich in die Küche scheuchte. Der junge Mann stellte sein halb volles Glas empört ab und verließ grußlos den Bären. Kein Zweifel, er hatte etwas von Gertrud gewollt, sie sträubte sich. Während ihres Dialogs waren sie Rogge wie große Kinder vorgekommen, spontan und direkt, ohne jede Berechnung.

VI.

Nach der Pause ging Gellmann nicht mehr in den Saal zurück. Zuerst Haydn, dann Mozart und jetzt noch Brahms - nein, es gab eine Grenze auch für das, was man ihm im Verfassungsschutz dienstlich zumuten durfte. Die jungen Frauen an der Garderobe schauten ihn missbilligend an, er hob kläglich die Hände und suchte sich eine Bank außer Sichtweite. Konnte sie sich nicht für Techno interessieren? Oder für Rap? Oder seinetwegen für altertümlichen Rock? Ausgerechnet Klassik; außerdem hatte er sich in einen dunklen Anzug quälen müssen, Hemd und Krawatte, Lederschnürschuhe, wie verkleidet kam er sich vor. Und die weißhaarige Gewitterziege neben ihm hatte ihm dauernd zugezischt, er solle endlich ruhig sitzen. Dann lieber hier herumhängen und wieder einmal die Zeit totschlagen; seinen Job hatte er sich interessanter vorgestellt, aber irgendwie schien er dazu verurteilt, ewig hinter langweiligen Leuten herzuschleichen oder auf sie zu warten. Und nichts passierte. Hübsch war sie ja, aber auch ziemlich hochnäsig; und wahrscheinlich fade; für Frauen, die freiwillig Symphoniekonzerte besuchten, konnte er sich beim besten Willen nicht erwärmen.

Die Garderobenfrauen lachten. Wahrscheinlich über ihn, doch selbst das wurmte ihn nicht. Alles leichter zu ertragen als Brahms. Nur Wagner war noch schlimmer, er hatte sich dienstlich einmal Die Meistersinger anhören müssen und sich danach geschworen, nie wieder eine Oper zu besuchen, weder dienstlich noch privat.

Als die ersten Besucher zur Garderobe hasteten, verbarg er sich strategisch günstig hinter einer Säule fünf Stufen höher. Sie trug ein hochgeschlossenes hellblaues Kleid - da war sie ja schon. An ihrer Ausgabe hatte sich eine besonders lange Schlange gebildet, deswegen trat sie wohl ein paar Schritte zurück und geriet aus seinem Sichtfeld. Du blöde Gans, schimpfte er lautlos und stieg vorsichtig zwei Stufen hinunter, um sich über das Geländer beugen zu können.

Was ihn alarmierte, konnte er sich im ersten Moment nicht erklären. Irgendetwas hatte sich so bewegt, dass es seinen Verdacht erregte - dann klickte es. Drüben, auf der anderen Treppe jenseits des Vorraumes, war eine junge Frau hinter einer Säule hervorgeglitten und schien auf einen Punkt unterhalb seines Standortes zu starren, zuckte aber sofort wieder zurück und verschwand wieder hinter der Säule. So als wollte sie nicht gesehen werden. Eine große Schwarzhaarige, in einem engen Kleid mit einem auffälligen Tigermuster. Sie war ihm schon vor dem Saal aufgefallen, arg aufgedonnert und in einem Ausmaß geschminkt, dass sie besser in eine Nachtbar als in ein Symphoniekonzert passte. Er blieb stehen und hielt den Kopf gesenkt. So wie Gellmann sich langweilte, war er bereit, alles als verdächtig zu betrachten, wenn es nur etwas Ablenkung versprach. Dann sprang drüben ein junger, eleganter Bursche die Treppe hoch, einen hellgelben Mantel über dem Arm, verschwand mit dem Mantel hinter der Säule und erschien ohne Mantel wieder.

Die Blaue, die Gellmann beschatten sollte, erhielt ihre weiße Leinenjacke und marschierte auf den Ausgang zu. Prompt tauchte drüben die Schwarzhaarige auf, im gelben Mantel, und sauste in einem beachtlichen Tempo die Treppe herunter, drängte sich durch die Gäste, sodass sie nur zehn Meter hinter der Blauen die Schwirigtür erreichte. Automatisch hatte sich Gellmann in Bewegung gesetzt, das interessierte ihn nun doch und die Blaue musste er ohnehin im Auge behalten. Bildete er sich nun etwas ein oder verfolgte die Gelbe tatsächlich seine Blaue? Im Abstand von fünf Metern stellten sich beide Frauen an der Bushaltestelle auf. Und stiegen gemeinsam in die Linie 44 ein. Der Bus wurde voll, beide Frauen hatten noch einen Sitzplatz ergattert, Gellmann blieb gegenüber der Mitteltür stehen und schaute wie geistesabwesend die Passagiere an, seine Blaue und die Gelbe. Nach vier Stationen konnte er sich setzen und in der Wilhelmstraße verließen die Blaue und er den Bus. Wenn sie jetzt ... Richtig, sie hielt sich rechts und ging schnell auf ein Hochhaus zu, Nummer 37, dort wohnte sie, Gellmann überquerte langsam die Straße und bummelte nach links, drehte sich vorsichtig nach ihr um.

 

Direkt ins Haus, damit war sein Auftrag erfüllt. Fünf Minuten gab er sich noch, sie erschien nicht wieder, alles in Ordnung, deshalb schlenderte er zur Bushaltestelle zurück. Fünfzehn Minuten musste er warten, er rauchte ungeduldig, bis der Bus endlich kam.

Als Gellmann einstieg, hätte er sich fast verraten: Auf ihrem alten Platz saß die Gelbe und warf ihm einen gleichgültigen Blick zu. Das gab’s doch nicht! Wer kutschierte denn spätabends zum Vergnügen mit einem Bus bis zur Endhaltestelle und wieder zurück?

Bis zum Lannerplatz grübelte er über ihr seltsames Verhalten nach. Ihre Beschreibung hatte er längst in seinem Kopf gespeichert und normalerweise würde er sie jetzt laufen lassen oder an der nächsten Telefonzelle oder - wenn es nicht auffiel - per Handy Hilfe holen. Aber heute war kein normaler Abend, die Krawatte drückte und würgte, in den ungewohnten Schuhen wuchsen Hühneraugen, Haydn und Mozart plus Brahms hatten ihn auf neunundneunzig getrieben.

Auf dem Lannerplatz ließ Gellmann ihr einen gehörigen Vorsprung. Die Gelbe marschierte zielstrebig auf eine Bar zu, der Namenszug Zur lustigen Witwe blinkte in diskretem Grün und Gellmann sinnierte einen Moment, wo er diesen Begriff schon einmal gehört hatte. Nein, sie wollte doch nicht in die Bar, im letzten Moment bog sie ab und tauchte in der dunklen Meitzergasse unter. Jetzt beschleunigte er, war aber vorsichtig genug, nicht direkt in den schwarzen Gang zu stürmen, sondern erst einmal den Kopf um die Ecke zu stecken. Ja, da lief sie, hatte fast das Ende erreicht, vor dem Licht vom Neumarkt gut zu erkennen.

Angst schien sie nicht zu haben, dachte Gellmann anerkennend, dieser finstere Schlauch zwischen den hohen Häusern konnte das Fürchten lehren ...

Für den Bruchteil einer Sekunde ahnte er noch die Gestalt, die auf ihn zuschnellte, dann explodierte sein Kopf.

Unter Gellmanns Schädeldach dröhnten schwere Schmiedehämmer, vor seiner Nasenspitze flirrten Sterne und er krümmte sich, um der Übelkeit zu entgehen. Als er mit einer Hand umhertastete, fühlte er raue, bucklige Steine - er lag auf dem Boden. In einer Einfahrt. Zwischen zwei fensterlosen Mauern. Jemand hatte ihn niedergeschlagen - die Gelbe, er war ihr in eine dunkle Gasse gefolgt ... Über Gellmanns linkem Ohr brannte es wie Feuer, mit den Fingerspitzen berührte er die Schwellung und jaulte vor Schmerzen auf.

Zwei Minuten später schaffte er es, aufzustehen und einen Fuß vor den anderen zu setzen, taumelnd wie ein Betrunkener. Nach Atem ringend lehnte Gellmann sich an eine Wand und verschnaufte, bis diese üble Schaukelbewegung aufgehört hatte. Erst danach kam er auf die Idee, in seinen Taschen nachzusehen. Es fehlte nichts, soweit er feststellen konnte. Als er sich umzog, hatte er Ausweise und Papiere in seinem Anorak zurückgelassen.

Gellmann war kein Held und auch kein Dummkopf. Während er Richtung Pension schlich, ordnete er seine wirren Gedanken zu einer unerfreulichen Alternative. Entweder war er in eine Falle gelaufen, die Gelbe hatte ihn erkannt und in die Gasse gelockt, wo ein Komplize ihn abfing. Wenn er das dem Chef beichtete, riskierte er einen wüsten Rüffel wegen seiner Unvorsichtigkeit und Eigenmächtigkeit. Falls der Überfall nichts mit der Gelben zu tun hatte, musste er Weinert erklären, was ihn um diese Zeit in die Meitzergasse geführt hatte.

In beiden Fällen bekam er Ärger und deshalb beschloss Gellmann, überhaupt nichts zu melden.

Die Frau in Gelb hatte sich schon ausgezogen, als der elegant gekleidete Mann die Zimmertür aufschloss. Sein Blick war wie immer starr, als besäße er Glasaugen, und wenn sie ehrlich war - sie fürchtete sich vor ihm, obwohl sie mit ihm schlief.

»Nichts«, sagte der Mann und warf seine Jacke auf den Boden.

»Keine Papiere? Ausweise?«

Unter seinem Blick überlief sie eine Gänsehaut.

War die dumme Kuh taub? Er hatte doch gesagt: Nichts. Und nichts war nichts. Seine Hose glitt zu Boden und sie sah, dass er wie jeden Abend eine gewaltige Erektion hatte.

Als sie in der Nacht aufwachte, wagte sie nicht, sich zu rühren. Neben ihr atmete er ganz flach, als lauerte er im Halbschlaf auf das geringste Geräusch, um sofort wie eine ausgehungerte Schlange zuzustoßen. Keine Papiere, aber sie zweifelte schon lange nicht mehr, dass die anderen sie entdeckt hatten. Warum griffen sie nicht zu? Was planten sie? Auf was hatte sie sich da eingelassen? Wenn es dunkel, kalt und still wurde, fraß die Angst sie von innen auf. Sie hatte mehr als einmal andere Opfer gejagt, aber war noch nie gejagt worden. Nun erst begriff sie, was Angst im Nacken bedeutete.

Donnerstag, 14. September

Trotz der zehn Stunden Schlaf zwickten die Waden und die steifen Gelenke knackten. Nach dem Frühstück spazierte Rogge deshalb gen Osten, bog in die Brückenstraße ab und stieß auf den Weg, der am Stockbach entlangführte. Die Wanderwege waren gut markiert, ein rühriger Fremdenverkehrsverein hatte für Bänke und Hinweistafeln gesorgt und der ursprünglich vollständig eingefasste, kanalisierte Bach war an vielen Stellen schon wieder von seinem Betonkorsett befreit, bildete Kurven und kleine Seitenarme, an denen Weiden wuchsen.

Bis Herlingen brauchte der Hauptkommissar zwei Stunden, die Steifheit war gewichen, dafür spannte seine Gesichtshaut. Urlaub hatte er in diesem Jahr noch nicht gehabt, das Reha-Sanatorium zählte nicht, etwas Sonne schadete nicht. In Herlingen war heute kein Markt, Rogge schlenderte über den leeren Platz, der an zwei Seiten mit Arkaden umgeben war, bewunderte Fassaden, studierte Schaufenster und prallte mit einer jungen Frau zusammen, die aus einem Geschäft raste.

»Entschuldigung ...« - »Keine Ursache.« - »Herr Rogge!« Gertruds Miene wechselte von Zerknirschung zu echter Freude. »Wie geht es Ihnen?«

»Danke, gut, Frau ...?«

»Leiwen. Aber sagen Sie ruhig Gertrud, das tun alle.«

»Wenn Sie erlauben ...«

»Tue ich!« Sie schien sich ehrlich über das Treffen zu freuen. »Wollen Sie einkaufen?«

»Brauchen tu ich nichts«, erwiderte er seufzend.

»Kenn ich, auf dem Rückflug platzt der Koffer und zu Hause schmeiße ich die Hälfte der teuren Souvenirs weg.«

»Aber wann komme ich schon mal dazu, einen Ladenbummel zu machen.«

»Was machen Sie denn, beruflich, meine ich?«

»Ich bin Kriminalbeamter«, antwortete er sehr beiläufig, gespannt, wie sie reagieren würde.

Der Schuss traf ins Schwarze: »Waaas?«, staunte sie. »So wie im Fernsehen?«

»Wir müssen mehr am Schreibtisch arbeiten«, wehrte er ab.

»Das ist ja 'nen Ding!« Sie hatte sich noch nicht erholt. »Die Männer hier aus dem Revier kenn ich ja, aber mit einem richtigen Kriminaler hab ich noch nie gesprochen.«

»Normalerweise beißen wir nicht.«

»So sehen Sie auch gar nicht aus«, lachte sie aus vollem Hals.

Nein, Gertrud war weder beunruhigt noch hatte sie Angst, und wie er sie einschätzte, würde sie die Neuigkeit sofort verbreiten. Deshalb riskierte er es: »Aber Sie können einem neugierigen Bullen eine Frage beantworten.«