Extra Krimi Paket Sommer 2021

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»Zurück!«, befahl er und selbst der Schläger begriff, dass es hier jemand ernst meinte. Millimeterweise schob er sich zurück.

»Noch weiter. Schneller.«

Der Mann gehorchte, Rogge wechselte die Pistole in die linke Hand und bückte sich zu dem Arroganten, presste ihm die Waffe an den Kopf: »Sag deinem Freund, dass er abhauen soll, und zwar ganz schnell und ganz weit.«

»Was soll... ich kann ...«

»Ich zähle bis drei. Eins ...«

»Hau ab! Los!« Vor Angst schrillte seine Stimme, der Schläger kratzte sich unschlüssig am Kopf und Rogge rief laut: »Zwei...«

»Nun mach schon, du Idiot!«

Langsam drehte sich der andere um und entfernte sich, verfiel in einen merkwürdigen Zockeltrab.

»Dein Glück!«, zischte Rogge.

»Was ... was wollen Sie?«

»Erst einmal möchte ich deine Waffe, wenn du eine hast. Und bitte ganz langsam, ich bin sehr nervös.« Seine Stimme zitterte tatsächlich vor Wut.

»Ich habe - ja ...« Unendlich vorsichtig, als könne er jeden Moment einen empfindlichen Zünder berühren, griff der Arrogante unter die Jacke, Rogge drückte die Pistole fester an seine Schläfe, die Hand bewegte sich noch langsamer zurück. Tatsächlich, eine Pistole. Und kein Finger am Abzug.

»Gib mir die Waffe, Hand am Lauf.«

Irgendwo wurde ein Fenster geöffnet, eine Männerstimme rief: »Ist was passiert?«

»Kann jederzeit geschehen«, zischte Rogge leise.

»Soll ich den Notarzt rufen?«

»Der käme zu spät!«, knurrte Rogge und riss dem Arroganten die Waffe aus der Hand, richtete sich auf und trat schnell zwei Schritte zurück, noch immer auf den Liegenden zielend.

Der Zuschauer vergaß seine staatsbürgerliche Pflicht zur Hilfe und staunte über den Livekrimi in seiner Gasse.

»Bleib noch liegen. Ich werde dir eine Quittung für die Waffe geben.«

»Wa...as?« Die Angst hatte den Schmerz betäubt und jetzt siegte die Verblüffung. »Was wollen Sie?«

Die Marke kannte er nicht, ein großes Kaliber, wahrscheinlich neun Millimeter. Einen Besen samt anhängender Putzfrau wollte Rogge fressen, wenn das eine Dienstwaffe war. Der Mann rollte sich herum, um ihn zu beobachten, das Gesicht immer noch vor Schreck und Schmerz verzerrt, aber er wagte nicht aufzustehen.

Rogge steckte die Pistole in eine Jackentasche und holte mit einer Hand mühsam Brieftasche und Kugelschreiber hervor, bückte sich wieder, legte das Ledermäppchen auf das Pflaster, holte eine Visitenkarte heraus und schrieb, immer wieder auf den Arroganten schielend: Quittung über eine 9-mm-Pistole. Lindau, 1. Oktober.

Die Karte legte Rogge vor sich hin, stand auf und zog sich noch weiter zurück.

»Ich rufe die Polizei!«, drohte der Zuschauer nun mit maximaler Lautstärke.

»Nimm die Karte und verschwinde. Du hast ja gehört, gleich kommt die Polizei!«

Auf allen vieren kroch der Typ bis zu der Karte, nahm sie auf, las Vorder- und Rückseite und fletschte die Zähne. Aus hilfloser Wut oder vor Jähzorn?

Rogge zielte unbewegt auf ihn, der Mann steckte die Karte ein und quälte sich hoch, taumelte, aber den Trick hatte Rogge einkalkuliert und war noch drei Schritte zurückgetreten.

»Lieber nicht!«, warnte er.

Damit hatte Rogge ihn wohl endgültig überzeugt, der Arrogante drehte sich um und wankte davon, seinem Kumpel hinterher, der an der nächsten Kreuzung wartete. Zwei Minuten. Die beiden Männer trafen zusammen, drehten sich nach Rogge um, der sich nicht bewegt hatte. Dreißig Sekunden Beratung, dann gondelten sie um die Häuserecke außer Sicht.

Schnell ging Rogge auf seinen Wagen zu; Charlotte hatte sich tief nach unten rutschen lassen und betrachtete ihn aus weit aufgerissenen Augen, totenbleich, vor Angst wie paralysiert.

»Später!« Der Motor gehorchte, Rogge wendete in bester Kavaliersmanier mit kreischenden Reifen und gab Gas; im Rückspiegel sah er zwei Gestalten, der eine hoppelte ungeschickt und kam nicht so schnell voran, wie sein Kumpel wünschte, ihr Auto musste in der Nähe des Zinneck-Häuschens parken, aber sie brauchten zu lange; bis sie ihn verfolgen konnten, war Rogge außer Sicht.

»Wer - wer - was war das?«

Fünf Minuten raste Rogge kreuz und quer durch Seitenstraßen, landete auf einer Landstraße und missachtete Tempo 100. Erst als sie sich einer Kreuzung mit einer Bundesstraße näherten, vor der Lindau/Zentrum angezeigt war, entspannte er sich.

»Ich weiß es nicht«, sagte Rogge, was nur halb gelogen war.

»Haben die auf uns gewartet?«

»Ja und nein.« Mit viel Gas schoss er nach rechts auf die Bundesstraße, der Fahrer hinter ihm bediente virtuos seine Lichthupe. »Nicht speziell auf dich oder mich, aber auf Leute, die sich für Mutter Zinneck interessieren.«

»Warum denn das ?«;

»Um herauszufinden, ob einer die falsche Identität des Hans Zinneck durchschaut hat.«

»War sie denn falsch?«

»Ja. Die Mutter hat mir erzählt, dass ihr Sohn Hans vor zehn Jahren ertrunken ist.«

Nach zwei Minuten flüsterte Charlotte; »Die arme Frau.«

Er schaute starr geradeaus.

Auf der Insel stellte Rogge den Wagen in einem Parkhaus ab. Vielleicht hatten sie sich doch sein Kennzeichen gemerkt und unnütze Risiken sollte man sich ersparen.

Bis zur nächsten Abfahrt der Fähre bummelten sie wortlos durch die Stadt, es war alles gesagt, sie würden sich nicht wieder sehen.

Am Anleger küsste sie ihn flüchtig: »Danke, Jens.«

»Alles Gute.«

An Bord winkte Charlotte ihm noch einmal zu, Rogge hob die Hand und hockte sich auf ein Mäuerchen, bis das Schiff abgelegt und volle Fahrt aufgenommen hatte. Dann warf er die Zigarette fort.

Auf der Autobahn döste Rogge bei einem gemächlichen Tempo vor sich hin. Wer immer diesen Wolfgang Tepper mit falschen Personalpapieren ausgestattet hatte, pokerte hoch, aber mit Umsicht. Eine Legende aufzubauen war gar nicht so leicht, und eine der Hürden bildete die Gefahr, dass sich jemand an dem ausgewählten Geburtsort informierte, ob wirklich an dem angegebenen Tag ein XY dort geboren worden war. Unterstellt, für Tepper waren falsche Papiere benötigt worden - wer machte sich die Mühe, dafür die Personalien plus Universitätsdiplom eines vor zehn Jahren verunglückten Mannes zu besorgen? Wer konnte überhaupt wissen, dass jemand vor so langer Zeit ertrunken war? Irgendein Gauner, der Papiere fälschte? Klang das nicht eher nach einer Behörde, die alles immer ganz genau erledigte? Bürokratisch korrekt? Und wenn das so war - gewann dann Charlottes Behauptung, Wolfgang Tepper/Hans Zinneck habe als V-Mann für den BND gearbeitet, nicht an Glaubwürdigkeit? Und falls Rogge das bejahte: Hieß das nicht auch, dass es tatsächlich eine Liga gab, mit den verrückt-verbrecherischen Zielen, die Charlotte geschildert hatte?

Plötzlich lachte Rogge laut auf. Wie von selbst war er auf einen Parkplatz eingebogen. Er stellte den Karren ordentlich in eine Bucht und stieg aus. Am Himmel jagten dunkle Wolken schnell nach Osten und die Temperatur war fühlbar gesunken. Am Tisch nebenan hatte eine Familie zum Picknick gerüstet, sein Magen knurrte laut.

Wahrscheinlich ungewollt hatte Charlotte ihm ein paar wichtige Anhaltspunkte geliefert. Charlotte Bongartz, 38 Jahre alt, aus einer reichen Nürnberger Familie stammend, der Vater gestorben, als sie etwa 18 oder 19 war, sechs oder sieben Jahre später die Mutter, nach Frankreich verzogen, zum Schluss nahe bei Cannes wohnend - wenn er Charlotte noch mal finden musste, konnte er sie aufstöbern. Aber musste er das? Wer wollte ihn dazu zwingen? Rogge rauchte und schnupperte. Wie hatten die Eltern die Gulaschsuppe warm gehalten? Nur einmal angenommen, Charlotte hatte sich nicht getäuscht, sondern genau beobachtet, dann hatten zwei Gruppen sie beschattet. Die Ligisten und irgendein Dienst. Schön. Die einen fürchteten, sie könne ihr Gedächtnis wiedererlangen und dann ausplaudern, was ihr Hans Zinneck/Wolfgang Tepper anvertraut hatte. Das sprach für die Liga und genauso hatte sie kombiniert: kein Gedächtnis - keine Gefahr, dass sie etwas verriet - kein Grund, sie zu beseitigen. Aber welchen Grund sollte der Dienst gehabt haben, sich an ihre Fersen zu heften? Wenn Tepper/Zinneck wirklich als V-Mann eingesetzt gewesen war, gab es dafür nur eine überzeugende Erklärung: Der Dienst hatte seinen Agenten aus den Augen verloren und erwartete, Tepper/Zinneck werde sich bei Charlotte melden. Deren Aufenthaltsort er - wie übrigens auch die Liga - spätestens aus der XY ... ungelöst-Sendung erfahren hatte. Das hieß aber auch: Der Dienst wusste nichts davon, dass Tepper/Zinneck ermordet worden war.

Gut, denkbar, dass die eine Seite einen Überläufer beseitigt hatte und nun fürchtete, Charlotte habe am Abend des 15. September des vorigen Jahres in der Kassler Villa Beelestraße doch etwas bemerkt, was den Mörder überführen konnte. Denkbar, aber nicht sehr wahrscheinlich. Auf der anderen Seite - Rogge legte den Kopf weit in den Nacken und starrte in den Himmel hinauf. Beide, Liga wie Dienst, hatten Charlotte verloren, als sie sich halb nackt in das Auto setzte und einfach losfuhr, den oder die Täter abhängte. War das überhaupt möglich, in ihrem Zustand Auto zu fahren? Ihre Geschichte musste ja nicht stimmen; vielleicht hatte sie ihren Mann erschossen und sich dabei mit Blut besudelt, vielleicht hatte sie danach fliehen müssen, weil jemand ins Haus gekommen war oder sie die Nerven verloren hatte. Hatte sie Benno auf dem Parkplatz Feltenwiese bemerkt und gewähren lassen, um das verräterische Auto loszuwerden? Was zum Teufel sollte Rogge glauben?

Die große Erleuchtung blieb aus. Nebenan packte die Familie ein. Für ein halbes Käsebrötchen hätte er jetzt fast jeden Preis gezahlt, aber die Mutter jammerte dem Vater vor, es wäre nichts übrig geblieben.

 

In Herlingen herrschte ein fast bedrückender Sonntagsfrieden, nur zwei abgestellte Autos auf dem menschenleeren Marktplatz.

Wibbeke ließ mit schuldbewusster Miene die Zeitschrift sinken, als Rogge das Revier betrat.

»Herr Rogge. Wir haben Sie schon überall gesucht.«

»Ich war am Bodensee«, wich er aus.

»Es ist - nun ja, es ist etwas passiert«, sagte Wibbeke lahm und faltete das Blatt zusammen, wobei er Rogges Blick mied. Im Wachzimmer lachte die Mannschaft wie über einen guten Witz laut auf und Rogge schüttelte entmutigt den Kopf: »Spendieren Sie mir einen Kaffee?«

»Sicher.« Im Nebenzimmer waren sie ungestört und der Oberkommissar schloss umständlich die Tür. Das Fenster stand einen Spalt auf, es zog kühl herein.

»Marlene Fuhrmann«, begann Wibbeke zögernd. Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut und Rogge ahnte, dass er sich Vorwürfe machte.

»Was ist mit ihr?«

»Selbstmord.«

Das Wort hing lange zwischen ihnen und Rogge hätte am liebsten den Kopf auf die Arme gelegt und geschlafen. Nur nichts mehr hören, endlich abschalten, alles vergessen.

»Fuhrmann hat gestern Abend angerufen.«

Der Kaffee schmeckte nicht mehr, er hatte zu lange in der Thermoskanne gestanden. Trotzdem trank Rogge wie ein Verdurstender und verzog bei dem muffigen Nachgeschmack das Gesicht.

»Sie hat sich erschossen.«

»Warum? Warum bloß, Herr Wibbeke?«

»Es gibt keinen Abschiedsbrief ... Nein, nein, einwandfrei Suizid. Wir mussten die Tür aufbrechen. Aber das lag in ihrem Zimmer auf dem Tisch.«

Der Stockerbote vom Samstag. Das schreckliche Busunglück war mit Bildern auf Seite eins gelandet. Vier Tote, zweiundzwanzig Verletzte, davon sieben schwer. Auf der Aufschlagseite des Lokalteils hatte Ilse Matussek einen Aufsetzer geschrieben, sehr korrekt, wie er las. Ein Hauptkommissar R. quartierte sich im Stockauer Bären ein, um die Identität ... Charlotte mit Vornamen ... im Zuge der Ermittlungen drei Männer vorübergehend festgenommen ... Diebstahl, Hehlerei, Autoraub ... und der Verdacht, dass es sich bei dem Tod des Kindes Martin Lohse nicht um einen Verkehrsunfall mit Fahrerflucht handelte ...

»Was sagt Fuhrmann dazu?« Jedes Wort fiel Rogge schwer, die Zunge gehorchte ihm nicht mehr.

»Wenig. Dass ihre Ehe in die Brüche ging, als feststand, dass sie keine Kinder bekommen konnte. Danach hat sie sich verändert. Er gibt das Verhältnis mit Angela Lohse zu, auch, dass er der Vater von Martin ist — oder war -, aber er ist felsenfest davon überzeugt, dass seine Frau nie etwas von seiner Affäre erfahren hat.«

»Das würde ich an seiner Stelle auch behaupten.«

»Natürlich. Er war nicht - erschüttert, nicht wirklich entsetzt, meine ich. Durcheinander, verwirrt, kopflos, das schon, aber wirkliche Trauer um seine Frau - nein, die empfindet er nicht.«

»Den Heldenmut hat Fuhrmann nicht erfunden. Es hat nicht einmal zu einer Scheidung gelangt.«

»Ja, er ist ein Weichei. Und das hat mich auf eine Idee gebracht. Ich habe mit Monika gesprochen. Mit Monika Ziegler, der Arzthelferin. Nicht amtlich - na ja, oder doch, halb sozusagen. Sie hat bestätigt, dass die Frau des Chefs krankhaft eifersüchtig war. Auch auf sie, bis dann dieser Ökofax auftauchte. Haben Sie das gewusst?«

»Dass Monika Ziegler mit Johann Thelen ...?«

»Nein, dass ausgerechnet Marlene so eifersüchtig gewesen ist?«

»Hatte sie denn Grund dazu?«

»Gemunkelt wird’s seit langer Zeit. Und bei der Frau ...«

Mutlos schüttelte Rogge den Kopf. Wibbeke war ans Fenster gegangen und starrte in die Dämmerung hinaus. Jahrelang war scheinbar alles glatt verlaufen, dann kulminierten die Ereignisse, weil ein Fremder wegen einer fremden Sache aufkreuzte. Jemand warf einen Stein ins Wasser und ein Damm brach. Ursache und Wirkung schienen nicht in einem begreifbaren, geschweige denn logischen Verhältnis zu stehen.

»Von ihrem Jähzorn hatte sie schon einige Kostproben geliefert, Marlene Fuhrmann, meine ich. Einiges hat ihr Mann vertuscht oder mit Geld geregelt, bei anderen Vorfällen bin ich - na ja, wenn man vom Rathaus kommt ...« Nachdrücklich verriegelte Wibbeke das Fenster und drehte sich um: »Der Tod von Angis Sohn ist also weiterhin ungeklärt.«

»Ja. Hat sich die Wirtin wegen des Artikels bei Ihnen gemeldet?«

»Nein. Und ich bin dankbar für jede Stunde, die sie damit wartet. Was soll ich ihr denn sagen?«

»Ich muss gehen, sonst schlafe ich hier ein.«

»Einen Moment noch, Herr Rogge. Fuhrmann schwört Stein und Bein, er habe nichts von der Pistole gewusst, mit der seine Frau sich erschossen hat. Und auch nichts von dem Gewehr.«

»Welchem Gewehr?«

»Das wir in ihrem Zimmer auf dem Kleiderschrank gefunden haben.«

Rogge brauchte einen Moment, bis er die Bedeutung verstand: »Ein Gewehr? Also hat sie auf mich geschossen?«

»Benno leugnet stur.« Wibbeke zuckte die Achseln und .Rogge spürte seinen Widerstand.

Was wussten sie schon, wie es in den Köpfen und Seelen aussah. Fuhrmann würde nie zugeben, dass er jungen Frauen nachstieg, und noch viel weniger, dass seine frustrierte Frau gewalttätige Neigungen besessen hatte. Wenn es überhaupt so gewesen war, wenn sie Martin Lohse getötet und auf Rogge geschossen hatte. Keiner würde jetzt noch etwas zugeben, an der Fassade durfte nicht weiter gekratzt werden. Den Schützen würden sie nie finden und überführen, aber Rogge konnte Wibbeke schlecht erklären, warum er keinen Wert darauf legte.

»Haben Sie Ihren Fall abgeschlossen?«

Nach einer Weile schaute Rogge hoch. Hatte er das? War es überhaupt ein Fall gewesen, der eingeleitet und formell abgeschlossen wurde? Eine Minute sinnierte er und grinste endlich verlegen: »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich.«

Wibbeke zog die Augenbrauen hoch, diese Aussage verstand er nicht, doch als er Rogges Blick auffing, verzichtete er auf weitere Fragen. Widerwillig teilte er mit: »Ilse Matussek vom Stockerboten bittet dringend um einen Anruf.«

»Ich werd’s nicht vergessen.«

Kili musste er auch sofort anrufen, wegen der Diskette.

Vor dem Revier rief er Kili über Handy zu Hause an, doch der stöhnte sofort auf: »Nichts, Chef, heute nicht. Heute kriegst du mich nicht hier raus.«

Trotz seiner Müdigkeit schaltete Rogge sofort. »Das ist Jasmin, die da im Hintergrund so fröhlich trällert.«

»Sie ist es. Sie hat für uns gekocht. Was sagst du nun?«

»Gar nichts. Das Glück will ich nicht stören. Ich brauche nur die Diskette, die ich dir gegeben habe. Hast du sie lesen können?«

»Ich nicht, aber mein Computer. Ein merkwürdiges Zeug.«

»Kann man es ausdrucken? Und besser noch, kann man die Diskette kopieren?«

»Aber sicher doch.«

»Würde beides dein Glück bei Jasmin nachhaltig stören?«

»Nein, wenn du nicht zu lang bleibst.«

»Schon kapiert. Ich bringe eine junge Dame zum Essen mit und gleich anschließend verschwinden wir mit Ausdruck und kopierter Diskette.«

»Der Teufel soll dich holen.«

»Vorsicht, Kili, noch so ein frommer Wunsch und ich benutze in Jasmins Gegenwart die Wörter Trauzeuge und Standesamt.«

»Eine solche Gemeinheit würdest du fertig kriegen?«

»Aber spielend.«

Ilse Matussek wunderte sich sehr, als Rogge anrief und sie zum Essen bei seinem Kollegen Hain dl einlud. Weil er am Telefon nichts erklären wollte, stimmte sie zu und staunte nicht schlecht, als sie Kilis Domizil betrat.

»Das kann sich ein Kriminalhauptmeister leisten?«

»Wenn er den richtigen Onkel hat - jederzeit.«

Zu Rogges Erstaunen verstanden sich die beiden so gegensätzlichen Frauen auf den ersten Blick und Jasmin Köhler hatte sowieso wieder einmal für eine Kompanie gekocht.

Als die Journalistin ächzend aufbrach, Ausdruck und Diskette einpackte, warnte Rogge: »Passen Sie auf, dass Sie sich keine einstweilige Verfügung einfangen oder eine Kugel. Sie stochern in einem gefährlichen Hornissennest.«

XVI.

Sie trafen sich auf einem Parkplatz im Westerwald und begrüßten sich erst, als die anderen Spaziergänger hinter der Wegbiegung verschwunden waren. Hier oben fächelte um diese Morgenstunde noch ein lausig kalter Wind, aber die Sonne schien aus einem klaren Himmel und im Tal löste sich der Dunst rasch auf. Reineke fröstelte und schlug ein schnelles Tempo an.

»Tut mir Leid, Jockel, aber es geht nicht mehr ohne Informationen, wenn wir nicht riskieren wollen, dass uns die Kiste völlig aus dem Ruder läuft.«

»Ich habe alle Aktivitäten einstellen lassen.«

»Gut, aber die Presse ist wach geworden. So ein winziges Provinz-Käseblättchen aus Herlingen hat gestern Morgen über den Zusammenhang mit einer Organisation namens Liga spekuliert. Unter Berufung auf einen Kriminalbeamten. Wir müssen uns auf eine Sprachregelung zur Schadensbegrenzung einigen.«

»Das ist eine lange komplizierte Geschichte«, begann Pertz widerwillig. »Ich weiß nicht, ob du die Hintergründe kennst.«

»Nein, nicht im Zusammenhang.«

»Dann fange ich am besten bei Adam und Eva an.«

»Geht’s etwas zügiger?«

»Doch, lässt sich machen. Am Anfang war der BND.«

»Du meinst, das Chaos.«

»Nein, ich rede von dem neuen Spielzeug, Irgendein kluger Kopf hatte beim Abhören der Bänder, die sich wegen eines programmierten Stichworts angeblich automatisch in den Telefonverkehr einschalten, mehrfach das Wort Liga gehört und sich gewundert, was das bedeuten soll.«

»Wie hieß denn das programmierte Wort?«, fragte Reineke neugierig und Pertz zog den Kopf ein: »Landmaschinen.«

»Also geriet das Wort Liga auf die Computerliste und die brennende Frage, wer oder was diese Liga war, gab der BND, wie ich mal vermute, an den Verfassungsschutz weiter.«

»Oder an den Staatsschutz, das weiß ich auch nicht. Da sind die Verbindungen ohnehin enger, als mir gefällt.«

»Und wenn Liga und Landmaschinen zusammen ertönten, wurde das Zollkriminalamt eingeschaltet.«

»Du weißt ganz genau, mein Bester, dass einige Waffenexporte als Ausfuhr von Landmaschinen getarnt worden sind.«

»Das leugne ich nicht.«

»Dummerweise gebrauchten auch Angehörige der Bundeswehr das Wort Liga.«

Reineke blieb stehen und hielt Pertz am Ärmel fest: »Sag mal, wie viel hundert Anschlüsse habt ihr denn überwacht?«

»So schlimm war's nicht, nur eine zweistellige Zahl.«

Kopfschüttelnd schlenderte Reineke weiter. »Also waren jetzt schon BND, MAD, Verfassungsschutz und Zollkriminalamt daran beteiligt.«

»Was glaubst du denn, warum man mich mit der Koordinierung beauftragt hat?«

»Das Durcheinander kann ich mir gut vorstellen.«

»Nein, kannst du nicht«, berichtigte Pertz bedrückt. »Denn jetzt wird’s richtig bunt. Eines Tages bekomme ich einen Verfassungsschutzbericht in die Finger ...«

»Seit wann tauscht ihr eure Berichte aus?«

Das hatte Pertz nicht gehört. »... in dem eine Organisation namens Liga erwähnt wird. Nichts Genaues wusste der Schreiber nicht. Ein loser Zusammenschluss von Konservativen, wahrscheinlich international arbeitend. Der Laden soll sich die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie und den Aufbau einer ständischen Flierarchie zum Ziel gesetzt haben.«

»Albern!«, platzte Reineke heraus, doch Pertz wehrte nachdenklich ab: »Nein, nicht unbedingt. Es gibt viele Spinner, nicht nur in Deutschland. Immerhin reichte die Andeutung, um den Staatsschutz einzuschalten.«

»Jetzt geht mir ein Licht auf. Ein Knochen, an dem viele Hunde zerrten.«

»Eben. Zerren und nagen wollten. Bis mir der Papierkragen geplatzt ist und ich durchgesetzt habe, dass wir, also der BND, einen V-Mann einsetzen konnten. Um überhaupt erst mal zu klären, mit wem oder was wir es bei dieser ominösen Liga zu tun hatten.«

Reineke stoppte: »Redest du jetzt von diesem Wolfgang Tepper?«

»Ja.«

»Den habt ihr euch vor sieben - nein, fast acht Jahren von mir - na - erbeten. Und da lief die Aktion schon wie lange?«

»Zwanzig Monate.«

 

»Was im Klartext heißt: alles ohne gesetzliche Grundlage.«

»Aber zum Schutz der Bundesrepublik.«

»Und ihrer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Alles klar, ich hab kapiert, warum ihr die Aktion unbedingt unter der Decke halten müsst. Wie seid ihr überhaupt auf diesen Tepper gekommen?«

»Durch einen ganz dummen Zufall. Er telefonierte häufiger mit einem Mann, den wir als Ligisten führten, ganz harmlos, rein geschäftlich, es ging um private Investitionen.«

»Das hat dem Bundeskriminalamt gereicht, ihn anzuheuern?«, zweifelte Reineke.

»Nein. Wir hatten einen Tipp bekommen - frag mich bitte jetzt nicht nach dem genauen Weg! Mit diesem Tepper war ein gewisser Gerd Arkenthin befreundet, eine halbseidene Existenz, für den sich schon Kripo, Staatsanwaltschaften und Verfassungsschutz interessiert hatten. Gelegentlich hat er Informationen verkauft, um sich lieb Kind zu machen ...«

»Oder genauer: weil er unter Druck gesetzt wurde!«

»Ach Gott, betreiben wir hier Motivforschung? Arkenthin packte aus, dass Tepper Kundengelder veruntreut habe, händeringend nach Krediten suche und jederzeit mit Anzeigen und einem Ermittlungsverfahren rechnen müsse.«

»Eure Chance!«

Pertz blieb stehen und schaute Reineke zornig an: »Was soll der Ton?«

»Weil ich mir gut vorstellen kann, wie’s weitergegangen ist.«

»So, wirklich?«

»Na klar. Ihr wolltet Tepper, aber mein Freund Hommel hätte bei eindeutigen Beweisen nie gewagt, seinem Staatsanwalt die Einstellung des Verfahrens zu befehlen. Also musstet ihr dafür sorgen, dass Tepper einen Hinweis bekam und belastendes Material rechtzeitig vernichten konnte.«

»Und wenn es so gewesen wäre?«

»Erstens ist es so abgelaufen, Jockel, und zweitens habt ihr freihändig die Justiz behindert. Einen Schuldigen vor der Strafe bewahrt. Von den Geschädigten nicht zu reden.«

»Wer Dreck zur Seite schaufelt, darf sich nicht vor schmutzigen Händen ekeln.«

»Na schön, über diese Philosophie lohnt sich nicht zu streiten. Der BND hat also den Tepper angeheuert.«

Jockel Pertz ging weiter, in mürrisches Schweigen versunken, bis Reineke lachte: »Kapitel Rechtsstaat beendet.«

»Ja, ja, beendet - okay, wir haben ihn übernommen und mit einer Legende ausgestattet. Hans Zinneck, die hatten wir in Reserve.«

»Dass Teppers Frau abgehauen war, kam euch zupass.«

»Klar doch. Wir haben ihn nach Frankreich geschickt.«

»O je. Ohne direkte Führung?«

Pertz sagte langsam: »Fuchs, die Geschichte war - oder ist - brisant. Nicht nur simpler Waffenexport. Sondern getarnte Investitionen in Waffenfabriken und eine Giftgasproduktionsanlage. Die Franzosen und wir haben den ganzen Ring auffliegen lassen, Tepper hat in Frankreich gute, sogar hervorragende Arbeit geleistet, daran gibt’s keinen Zweifel, aber das konnte er nur, weil wir ihn an der langen Leine laufen ließen.«

»Dann war er dieser Liga auf den Pelz gerückt?«

»Sicher. Ziemlich sogar. Wir haben uns zurückgezogen, als er meldete, welche Kontakte er angebahnt hatte, wir durften ihn auf keinen Fall gefährden.«

»Schön, akzeptiert. Aber was ist nun mit ihm: Verschwunden, untergetaucht, übergelaufen oder beseitigt?«

»Frag mich was Leichteres!«, murrte Pertz nach einer Weile und kickte wütend einen Pilz vom Weg.

»Wann hat es denn den letzten Kontakt gegeben?«

»Im August vorigen Jahres. Da wollte er von Kassel nach Dresden umziehen.«

»Das ist nicht dein Ernst!«

»Doch, leider.« Er ging langsamer. »Weißt du, bei Amateuren gibt es immer eine Gefahr.«

»Dass sie Profis werden wollen?«

»So ähnlich. Eines Tages verraten sie sich, fallen auf, wecken Misstrauen. Was tut dann die Gegenseite?«

»Beseitigt den Verräter.«

»Möglich, ja, wenn sie brutal genug ist. Was auf die Liga nach allem, was wir wissen, zutrifft. Aber wenn sie klug vorgeht, wird sie vorher etwas anderes versuchen.«

»Sie will herausfinden, wer den faulen Apfel in ihre Steige praktiziert hat.«

»Und wie schützt sich der faule Apfel gegen - sagen wir - schmerzhafte Befragungen?«

»Indem er alles niederschreibt, was er weiß, das Dossier an einem sicheren Ort deponiert und verlauten lässt, es würde veröffentlicht, wenn ihm etwas zustoßen sollte.«

»Du hast gerade die Aufnahmeprüfung als V-Mann mit Auszeichnung bestanden.«

Pertz' heiterer Ton täuschte Reineke nicht. Beide Seiten waren also immer noch hinter diesem Dossier her. Die eine befürchtete Enttarnung, die andere einen politischen Skandal. Die eine Seite belauerte die andere, ob sie das Depot entdeckt hatte.

Sie waren lange genug im Geschäft und brauchten Selbstverständliches nicht auszusprechen.

Pertz räusperte sich: »Tepper war aus vielen Gründen der ideale Kandidat für uns, aber bestimmt nicht wegen seines Charakters. Mir ist bei ihm von Anfang an unwohl gewesen und deshalb haben wir ihn sorgfältig abgeschirmt.«

»Ich ahne etwas.«

»Ein Führungstrio. Jeweils einer aus dem BND, Verfassungsschutz und Zollkriminalamt.«

»Wie habt ihr die drei getarnt?«

»Als leitende Mitarbeiter einer Finanzberaterfirma.« Pertz schniefte. »Tepper wurde offiziell in dieser Firma angestellt. Natürlich unter dem Namen Zinneck.«

»Eine eigens für ihn gegründete Firma?«

»Nein, sie bestand schon länger. Für ähnliche Aufgaben.«

»In Pullach?«

»Nicht weit davon entfernt.« Zum ersten Mal grinste Pertz schadenfroh; wie viele BND-Leute liebte er seine Zentrale nicht.

»Schön, verstanden. Wie kommt nun mein Freund Rogge auf die Bühne?«

»Zinneck hatte in Frankreich eine Deutsche kennen gelernt und sich mit ihr zusammengetan. Es gibt da so ein Gerücht, dass er sie sogar geheiratet hat, aber das wäre Bigamie gewesen.«

»Soll in den besten Familien Vorkommen.«

»Und ein zweites Gerücht lautet, Zinneck habe bei dem geplatzten Investitionsdeal der Liga kräftig in die eigene Tasche abgesahnt. Wie auch immer, plötzlich verließ er Hals über Kopf Frankreich.«

»Mit dieser Frau - wie heißt sie?«

»Charlotte Bongartz. Ja, mit der zusammen.«

»Und ihr? Was habt ihr unternommen?«

»Eine Zeit lang hat Tepper - äh, Zinneck noch Informationen über die Liga geliefert. Dann riss der Faden plötzlich ab und wir stellten fest, dass wir ihn und seine Frau verloren hatten.«

Reineke hatte schon den Mund zu einer gepfefferten Bemerkung geöffnet, verschluckte sie aber, als er Pertz’ gequälte Miene registrierte. Stattdessen fragte er sachlich: »Und wann habt ihr die Spur wieder aufgenommen?«

»Im März. Da wurde im ZDF, in dieser XY ... ungelöst-Sendung, eine Frau vorgestellt. Totale Amnesie. Es war diese Charlotte Bongartz.«

»Ich kapiere. Also habt ihr sie überwacht, in der Hoffnung, Tepper oder Zinneck habe die Sendung auch gesehen und werde sich bei ihr melden.«

»Ja, natürlich. Aber die Sache hatte einen Haken. Den Fall bearbeitete ein Verrückter, ein Hauptkommissar Grembowski. Der Kerl ließ die Frau so ungeniert überwachen, dass sich kein vorsichtiger Mensch an sie herantraute.«

»Bis man auf dem kleinen Dienstweg ...«

»Langsam, langsam. Ich hab mich geweigert, was zu unternehmen. Bis ich von dir hörte, dass Karin Tepper nach Deutschland zurückgekehrt war und ihren Mann suchte.«

»Da drängte plötzlich die Zeit.«

»Ja, ich habe den Präsidenten angerufen. Der war mir noch einen Gefallen schuldig. Er hat den zuständigen Abteilungsleiter angewiesen und der hat diesem Grembowski den Fall weggenommen.«

»Weißt du, wie dieser Abteilungsleiter heißt?«

»Simon.«

»Ach du meine Güte! Und auf deinen Wunsch hin ist Simon nichts erklärt worden?«

»Nein, es gab schon genug Mitwisser.«

»Da hast du einen Fehler begangen. Karl Simon hat einen Dickschädel, der lässt sich nicht gerne herumkommandieren. Also hat er Grembowski abgelöst und dafür Rogge auf den Amnesiefall angesetzt,«

Pertz drehte den Kopf, nur scheinbar überrascht, wahrscheinlich hatte er die Zusammenhänge längst selbst durchschaut. Und Rogge hatte die Identität dieser Inge Weber oder Charlotte Bongartz herausgefunden, der Teufel mochte wissen, wie. Dass er während seiner Recherchen in einer Hotelbar mit Karin Tepper zusammengetroffen war, gehörte zu den Zufällen, die kein Mensch glauben konnte.