Extra Krimi Paket Sommer 2021

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Charlottes schwerer Atem beruhigte sich.

»Wir müssen noch warten!«, hauchte Rogge. Es konnte eine List sein, vielleicht hofften die Männer auf ihre Ungeduld.

»Ja«, gab sie leise zurück.

Eine Viertelstunde. Wenn er sich nicht täuschte, wurden Motoren angelassen, ja, da fuhren Autos weg. Die Männer - oder Motelgäste?

»Setzen Sie sich auf den Boden, aber ganz vorsichtig.«

»Ja.« Er spürte die Bewegung, das Boot schaukelte wieder, Rogge griff nach ihrem Arm und sie hielt inne. Die Kante der Sitzbank drückte in seine Rippen, er biss die Zähne zusammen.

Noch eine Viertelstunde? Mittlerweile hatte er jedes Zeitgefühl verloren. Warum blieb es oben so ruhig? Manche Gäste legten wohl wenig Wert darauf, die Polizei zu alarmieren und anschließend ihre Personalien zu Protokoll zu geben. Protokoll - er musste erklären, wie und warum er einen Mann erschossen hatte. Ohne Vorwarnung, ohne Anruf. Mit seiner Dienstwaffe. Ihm schwindelte.

Dann hielt Rogge es nicht mehr aus, drückte mit der Faust die Plane nach oben, bis Licht durch den winzigen Spalt fiel, gerade genug, die Zeiger auf seiner Uhr zu erkennen. Schon 7.30 Uhr. Sie konnten doch nicht über eine Stunde ...

»Sind sie weg?«

»Ich hoffe!«, versetzte Rogge barsch und schlängelte sich nach draußen. Alle Muskeln und Knochen protestierten, vorsichtshalber blieb er auf dem Holz liegen und schaute sich um. Kein Mensch weit und breit. Beunruhigt schüttelte er den Kopf. Wo waren die Kollegen ... oder hatten die Männer die Leiche mitgenommen?

»Kann ich rauskommen?«

Ungelenk und steif krabbelte sie auf den Steg und stöhnte, als er ihr aufhalf. Richtig hell war es nicht geworden, dicke Wolken hingen tief über dem See, aber in dem trüben Licht konnte Rogge das Motel erkennen, in dem alle Gäste noch zu schlafen schienen, nirgendwo brannte Licht.

»Danke«, flüsterte Charlotte Zinneck und Rogge zuckte die Achseln.

»Ich wusste nicht mehr ...«

»Wo haben Sie sich denn die ganze Zeit herumgetrieben?«

»In Rollesheim, in einer Pension.«

Neugierig musterte er sie. Sie trug Jeans und eine hellblaue Bluse und beide Stücke sahen so aus, als habe sie mindestens eine Nacht darin geschlafen. An ihren dicken Joggingschuhen klebte Lehm.

»Frieren Sie nicht?«

»Doch«, sagte sie und prompt klapperten ihre Zähne.

»Ich glaube, Sie haben mir viel zu erzählen.«

»Ja«, stimmte sie geistesabwesend zu. »Am Montag bin ich einfach weggefahren, irgendwohin. Aber ich hatte kaum Geld und vorgestern musste ich aus der Pension ausziehen ...«

»Und was hat Sie an den Beilhorner See verschlagen?«

»Ein Freund von Achim hat hier ein Boot liegen, da hab ich mich versteckt.« Sie schüttelte sich und trat vor Kälte von einem Fuß auf den anderen. »Heute Nacht sind sie dann gekommen.«

»Wer?«

»Ich weiß es nicht. Die Männer, die schon lange hinter mir her sind.«

Sie schlug die Arme um sich und Rogge gab sich einen Ruck.

»Was halten Sie von einem ordentlichen Frühstück?«

»Ganz, ganz viel«, antwortete sie und ihre hysterische Heiterkeit warnte ihn.

»Prima. Haben Sie noch Sachen auf dem Boot?«

»Meine Handtasche. Und meine Jacke.« Unwillkürlich griff sie nach der aufgesetzten Blusentasche und kicherte schrill, während sie ihm seine Visitenkarte zeigte. »Die hatte ich immer bei mir.«

»Sehr schmeichelhaft für mich«, blaffte Rogge sie an und sie fuhr zusammen. Jetzt bloß kein Ausrasten, das Schlimmste hatten sie schließlich überstanden.

Das Boot war ein winzig kleines Versteck und noch nicht für den Winter hergerichtet; Rogge schauderte bei dem Gedanken, darin übernachten zu müssen. Die Kajüte war eng und sie musste ziemlich gefroren haben. Sie kehrte mit einer scheußlichen Wolljacke zurück, die ihr bis auf die Oberschenkel reichte. Weil sie seinen Blick richtig deutete, erklärte sie trotzig: »Mehr Geld konnte ich nicht ausgeben.«

»Warum haben Sie Schönborn nicht um Hilfe gebeten?«

Ihr Gesicht verschloss sich, darauf wollte sie nicht antworten. Noch nicht. Schweigend gingen sie auf das Hotel zu. Charlotte Zinneck zögerte, als er vom Weg abwich und auf die Stelle zusteuerte, an der die Leiche gelegen hatte. Weg, keine Spur, und nur wer sehr genau hinschaute, entdeckte die Schäden, die sie heute Morgen an Blumen und Sträuchern angerichtet hatten. Das Glas der Verandatür war zersplittert, nun ja, darüber würde sich später ein Gast beschweren, aber ein vernünftiger Betrieb hatte eine Versicherung.

»Wo ist - was ist ...?«, stammelte sie.

»Die haben ihren toten Kumpanen mitgenommen«, erklärte er flach. »Zum Glück. Sonst müssten Sie und ich meinen Kollegen viel erzählen.«

Das Motel hatte geöffnet, die junge Frau an der Rezeption gähnte verstohlen und betrachtete sie abschätzig. » Nein, kein Zimmer, brummte Rogge und freute sich über ihre Verwirrung, aber ein Frühstück, und zwar ein gewaltiges.«

»Ja, ja, natürlich - dort, im Restaurant.«

Sie plünderten das Buffet, als würden morgen die sieben biblischen mageren Jahre anbrechen, und Charlotte Zinneck langte zu, als habe sie seit einer Woche gehungert.

Nach der Arbeit in der Bäckerei war sie mit dem Bus zum Bahnhof gefahren und hatte sich einfach in einen Zug gesetzt. Ohne Fahrkarte, sie hatte nicht einmal gewusst, wohin der Zug fuhr. In Rollesheim war sie aus gestiegen, weil im Nebenwagen ein Schaffner kontrollierte, und hatte sich die billigste Pension im Ortszentrum gesucht. Um drei Nächte bezahlen zu können, hatte sie tatsächlich auf Mittag- und Abendessen verzichten müssen, vor allem, nachdem sie diese scheußliche, aber warme Jacke gekauft hatte.

»Schönborn hätte Ihnen doch geholfen - oder?«

»Sicher«, erwiderte sie so kurz, dass er aufhorchte.

»Werden Sie ihn anrufen?«, forschte er.

Darauf antwortete sie nicht, er sah förmlich, wie ein Vorhang vor ihrem Gesicht niederging, und widmete sich leise seufzend wieder seinem Teller. Auch sie schwieg, bis er ihr sein Zigarettenpäckchen hinhielt.

»Danke. Erst ein Loch im Magen und jetzt platze ich.«

»Dagegen kenne ich ein hervorragendes Mittel.«

»Ja?« Sie lächelte, sparsam, aber immerhin, und wich seinem Blick nicht aus.

»Ein großer, langer Spaziergang.«

Nach einer Weile nickte sie versonnen: »Ja, Sie haben Recht, ich möchte mich bewegen.«

Rund um den See gab es einen bequemen Weg, den sie zu dieser frühen Stunde für sich allein hatten. Nach zehn Minuten spürte Rogge die nasse Kühle nicht mehr. »Also, Frau Zinneck, Lebensrettung und Frühstück haben ihren Preis.«

»Damit geht’s schon los. Ich heiße nicht Zinneck.«

»Nein?«

»Nein.« Sie stöhnte so tief, dass er trotz seiner Spannung lachen musste. »Nein, ich heiße Charlotte Bongartz.«

»Das fängt ja gut an«, lästerte er, weil er nicht wollte, dass sich ihre düstere Stimmung festsetzte.

»Und es wird noch besser. Es ist nämlich eine lange, unglaubliche Geschichte.«

»Darauf bin ich geeicht.«

»Hoffentlich. Ich bin achtunddreißig Jahre alt, Herr Rogge. Ein Einzelkind aus steinreichem Hause, wie man so schön sagt. Mein Vater ist kurz vor meinem Abitur gestorben, meine Mutter, als ich fünfundzwanzig Jahre alt war, und danach war ich eine reiche Erbin. Sehr wohlhabend sogar. So reich, dass ich nicht arbeiten musste und Nürnberg verlassen habe. Für immer. Ich bin nach Frankreich gegangen und habe mir ein Häuschen in der Nähe von Cannes gekauft.« Nach einer kleinen Pause setzte sie verschlossen hinzu: »Und aus vielen Gründen alle Fäden zu meiner Vergangenheit gekappt.«

Rogge unterbrach sie nicht, sie wollte es eben auf ihre Art erzählen.

»In Cannes habe ich eine Französin kennen gelernt, die eine Keramikwerkstatt betrieb, dort bin ich später Teilhaberin geworden. In dem Geschäft habe ich einen Deutschen getroffen und nach zwölf Monaten haben wir geheiratet. Das war vor ziemlich genau vier Jahren.«

Die beiden letzten Sätze hatte sie so schnell und trotzig herausgestoßen, dass Rogge sich seinen Teil dachte, aber nur stumm nickte.

»Hans Zinneck hieß er.« Sie legte den Kopf herausfordernd schräg, aber den Gefallen, eine Frage zu stellen, tat Rogge ihr nicht.

»Zinneck arbeitete für eine internationale Investmentfirma in Marseille und verdiente ein Schweinegeld.«

Ein Schweinegeld. Sprache war verräterisch, sinnierte er, aber damals, als sie ihn heiratete, hatte sie daran keinen Anstoß genommen. Reicher Mann verliebt sich in schöne, reiche Frau.

»Einen Monat nach unserer Heirat sind wir aus Cannes weggezogen.«

»Und wohin?«

»Zuerst nach Frankfurt. Dann nach München, nach Stuttgart, Hamburg, Berlin, Hannover.«

»Etwas viel Umzüge für drei Jahre, nicht wahr?«

»Woher wissen Sie ...? - Ach so, ja. Völlig richtig. So viele, dass ich - unruhig wurde.« Sie kickte zwei Kiefernzapfen zur Seite. »Es waren nämlich keine Umzüge, Herr Rogge.«

»Sondern?«

»Von einem möblierten Haus in das andere. Oder auch in Hotels. Apartmenthäuser. In den drei Jahren meiner Ehe waren wir praktisch immer auf Achse.«

»Aus beruflichen Gründen?«

»Das hat Hans Zinneck mir einzureden versucht und zu Anfang hab ich ihm das auch geglaubt. Bis mir der schreckliche Verdacht kam, er sei auf der Flucht.«

»Auf der Flucht?«, wiederholte Rogge verblüfft. »Vor wem denn?«

»Das wollte er nicht verraten. Wissen Sie, vor der Hochzeit, in Cannes, war er - gesellig, ging gerne auf Partys, machte allen möglichen Spaß mit, feierte, hatte Freunde, ließ fünf auch mal gerade sein, und wenn er Lust hatte, flogen wir mal eben nach Paris oder London oder Rom.«

 

»Aber danach ...«

»Veränderte er sich. Und zwar rapide! Sobald ich irgendwo halbwegs Fuß gefasst hatte, mussten wir wieder los, in eine andere Stadt. Nein, keine Freunde, keine Bekannten, keine Verwandten, Liebe macht wohl blind, aber eines Tages konnte ich wieder scharf sehen.«

»Haben Sie ihn nie zur Rede gestellt?«

»Doch, mehr als einmal. Aber er ist mir immer ausgewichen, hat mich vertröstet und gelogen. Ich konnte es mir nicht erklären ...«

»Also keine andere Frau?«

»Ach was, er war zum Schluss so nervös, dass er auch mit mir nicht mehr geschlafen hat. Und ich - na ja, ich war auch nicht so klug, wie ich hätte sein sollen, ich hab angefangen, zu trinken und Pillen zu schlucken.«

»Rauschgift?«

»Nein, nie. Aber Valium und ähnliches Zeugs. Ich dachte, sonst würde ich zerspringen. Anders hielt ich es nicht mehr aus.«

Alkohol und Diazepam. Rogge grunzte. »Ihr letztes Quartier war in Kassel, in der Beelestraße 11.«

Ihr Mund blieb offen stehen, ihre Augen wurden riesig.

»Jetzt sind Sie noch dran, nachher erzähle ich.«

»Woher wissen Sie ...?«

»Nachher, Frau Bongartz.«

Das musste sie erst einmal verdauen.

»Ja, in Kassel ... An dem Abend habe ich ihn zur Rede gestellt. Er wollte mich wieder hinhalten, auf unser nächstes Quartier in Dresden vertrösten, aber meine Geduld war - erschöpft. Aufgebraucht. Eine Minute Bedenkzeit oder ich verlasse das Haus für immer.«

»Warum ausgerechnet an dem Abend?«

»Weil ich ihn noch nie so erlebt hatte, etwas erdrückte ihn fast vor Angst. Und da machte es klick, jetzt oder nie - verstehen Sie das?«

»Doch, ja.«

»Und er hat ausgepackt. Gleich die richtig schweren Hämmer geschwungen. Er heiße nicht Hans Zinneck, sondern Wolfgang Tepper, Außerdem wisse er gar nicht, ob er rechtmäßig mit mir verheiratet sei. Denn vor gut sechs Jahren sei seine Frau aus heiterem Himmel abgehauen und seitdem habe er nichts mehr von ihr gehört. Gut möglich also, dass sie noch lebte und er immer noch mit ihr verheiratet sei.«

»Das ist stark«, murmelte Rogge konsterniert und sie lachte bitter auf: »Es kommt noch dicker, Herr Rogge. Er war auch kein Angestellter einer internationalen Investmentfirma, sondern V-Mann des Bundesnachrichtendienstes.«

»Sie fantasieren!«, platzte Rogge heraus.

»Nein, nein. Also ein V-Mann und zur Tarnung wäre er in einer Firma angestellt, die dem BND gehörte.«

»Das ist nicht Ihr Ernst!«

»Die hätten ihn nach Frankreich, nach Cannes geschickt, um in eine Organisation einzudringen, die sich Liga nannte. So genau hab ich’s nicht verstanden, ich war wie vor den Kopf geschlagen, aber das habe ich behalten: eine politische Organisation namens Liga, mit rechtsradikalen, antidemokratischen Zielen und hinter dem ideologischen Schmonzes verbarg sich eine Gruppe, die illegale Geschäfte rund um den Globus betrieb. Die Leute in Cannes verschoben Waffen und militärische Fabriken nach Nordafrika, für Libyen und andere Länder, die Washington heute Schurkenstaaten nennt.«

»Er hat Sie verschaukelt!«

Seinen Einwand beachtete sie nicht. »Angeblich hatte er eine große Aktion der Gruppe hochgehen lassen und dann kalte Füße bekommen, weil einige Ligisten misstrauisch geworden seien, deswegen begannen wir unser Zigeunerleben.«

»Das ist doch hochkarätiger Schwachsinn. Wenn er wirklich für den BND gearbeitet hätte, hätte der Dienst ihn doch geschützt.«

»Nein. Den hatte er nämlich beschissen, bei diesem Waffengeschäft, da hat er kräftig abgesahnt, in die eigene Tasche, rund sieben Millionen Mark.«

»Sie haben den Namen Tepper richtig verstanden? Er hieß in Wahrheit nicht zufällig Baron von Münchhausen?«

Darüber konnte sie nicht lachen. »Und jetzt fürchtete er, dass uns beide an den Hacken klebten, die Ligisten und der BND. Die einen wollten einen Verräter, die anderen einen Betrüger und möglichen Überläufer liquidieren.«

Angesichts ihres Gesichtsausdrucks gefror ihm das höhnische Lachen auf den Lippen. Nein, sie belog ihn nicht, sie gab getreulich wieder, was Wolfgang Tepper alias Hans Zinneck ihr an dem Abend gestanden hatte, und sie konnte auch heute noch nicht unterscheiden, was Wahrheit, was Lüge und was Aufschneiderei gewesen war. Wie auch immer - für sie war an dem Abend eine Welt zusammengebrochen.

»Wie ging’s weiter?«

»Er hat noch viel gestammelt und gebeichtet, aber ich wollte nichts mehr hören. Ich war hundemüde, hatte seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen, weil er mich pausenlos gehetzt hatte, ich bin aus dem Zimmer gelaufen, die Treppe hoch in mein Zimmer.«

Beunruhigt registrierte Rogge, dass sie bleich wurde und ihre Stimme sich in die Höhe schraubte.

»Oben habe ich - ja, zu viel und zu schnell getrunken. Und eine Menge Tabletten geschluckt.«

»Eine gefährliche Mischung«, warf Rogge leise ein und sie nickte hastig.

»Und dann — ich weiß nicht mehr, wie lange ich mich eingeschlossen hatte dann krachte es unten zweimal. Ganz laut und - wie soll ich’s beschreiben - gefährlich. Um mich herum war alles wie in Watte verpackt, können Sie das verstehen?«

»Ja, sehr gut sogar.«

»Ich bin zur Tür gegangen, habe aufgeschlossen und gerufen: Hans, was ist passiert? Oder so ähnlich - ich weiß es nicht mehr genau. Hans, was ist los? Er hat nicht geantwortet, aber unten klappten Türen. Da bin ich die Treppe hinuntergegangen. Und habe wieder gerufen: Hans, wo bist du?« Entschuldigend streckte sie Rogge beide Hände entgegen: »Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich mich wunderte. Woher kam plötzlich der Nebel vor meinem Gesicht? Und warum war alles so unscharf, so weit weg? Hans lag im Wohnzimmer, am Boden, er rührte sich nicht, ich habe noch gelacht, mein Gott, wenn du schlafen willst, warum gehst du nicht ins Bett? - Aber er bewegte sich nicht und ich habe mich zu ihm gebückt, um ihn wachzurütteln, und da war alles voller Blut. Das ganze Hemd - und es wurde immer mehr - ich habe mich hingekniet und ihn angefasst und geschrien, aber er war tot, und irgendwie - es war doch nicht wirklich, das hatte doch nichts mit mir zu tun - oder mit Hans - und dann habe ich gesehen, dass mein Kleid voller Blutflecken war, und auch meine Schuhe - es war so komisch, nein, ekelhaft, alles rot und dreckig, ich dachte, du musst sofort dieses widerliche Kleid ausziehen, das war das Wichtigste in dem Moment - Plötzlich stand ich im Bad, hab das Kleid ausgezogen und die Schuhe und mir gründlich die Hände gewaschen. In dem Augenblick war mir völlig klar, dass ich Weggehen musste, nur weg, verstehen Sie? Ich hatte gar keine andere Wahl, ich musste fort, weg aus diesem Haus, bevor dieser Nebel noch dichter wurde. Dann hab ich mir die Schlüssel vom Haken genommen und bin zum Auto rausgegangen. Das hatte Hans vor dem Haus stehen lassen. Alles rauschte, und als der Motor ansprang, fuhr das Auto wie von selbst, in ein — ein ...«

»In ein graues Loch«, ergänzte Rogge leise.

»Danach weiß ich nichts mehr. Ich bin wieder wach geworden, als ich in einem fremden Auto neben einem fremden Mann saß. Den Rest kennen Sie.«

Rogge senkte den Kopf. Sollte er ihr glauben? Hatte sie das, was sie subjektiv für die Wahrheit hielt, wirklich erlebt? Oder sich etwas zurechtgelegt? Tabletten, Alkohol, Erregung, Übermüdung, Schock - es konnte so abgelaufen sein, aber er wagte es nicht zu beurteilen.

»Nein«, sagte Rogge endlich hilflos, »den ganzen Rest kenne ich noch nicht.«

»Der Rest - ja«, fuhr sie endlich fort. »Die ersten Wochen waren - scheußlich. Die Ärzte. Und die vielen Tests. Und dieses Gefühl, dass fast alle glaubten, ich würde - simulieren,. Wie Ihr Kollege Grembowski. Ich bin erst zur Ruhe gekommen, als die meisten überzeugt waren, dass ich tatsächlich mein Gedächtnis verloren hatte. Da musste ich mich nicht mehr - verteidigen. Dumm, nicht wahr?«

»Nein, gar nicht.«

»Das größte Glück war dieser Job in der Bäckerei. Regelmäßig etwas tun, nicht mehr völlig abhängig sein, ach, das können Sie sich kaum vorstellen.«

»Nein. Vorstellen nicht, aber verstehen.«

»Eines Tages keuchte ein Jogger in das Geschäft. Er sah aus, als hätte er mit seinen Klamotten unter der Dusche gestanden. Ich habe ihm Vorwürfe gemacht. Man könne auch alles übertreiben. Er wurde sehr zornig und am nächsten Tag kam er wieder. Wieder klitschnass. So habe ich Achim kennen gelernt. Natürlich wollte er was von mir - soll ich Ihnen mal verraten, wie er mich herumgekriegt hat? Mit einem einzigen Satz: Lieber eine Frau ohne Gedächtnis als eine Frau mit Krebs.«

»Das klingt sehr herzlos.«

»Ja, das hab ich ihm auch vorgeworfen und dann hat er mir von Miriam erzählt. Der erste Mann, der mich als Frau so akzeptiert hat, wie ich war. Der nicht versuchte, mich zu heilen. Oder hinter mir herzuschnüffelte, wie Ihr Kollege Grem und seine Leute ... Ja, ja, ich hatte mein Gedächtnis verloren, aber nicht meinen Verstand, und dass da immer Männer und Frauen hinter mir herschlichen, habe ich natürlich bemerkt.«

»Wann ist dieses graue Loch verschwunden?«

»Ende Mai.« Sie antwortete ohne Zögern. »Vor einem Schaufenster in der Semperstraße. Ein Reisebüro. Die hatten ein Plakat von Cannes aufgehängt, für irgendwelche Wochenendtrips. Das Panorama kam mir seltsam bekannt vor, das hatte ich schon einmal gesehen, Cannes, und plötzlich ging ein Vorhang auf. Nicht blitzartig, sondern wie - wie - wie ein langsamer Film.«

»Dann erinnern Sie sich also auch ...«

»Nein«, fiel sie ihm ins Wort. »Es gibt immer noch eine Lücke. Von dem Moment an, wo der Motor ansprang, bis zu dem Augenblick, an dem ich neben diesem Jödel in seinem Auto saß.«

Das würde Bennos Anwalt freuen, dachte Rogge grimmig. Und eigentlich spielte es überhaupt keine Rolle, ob sie nun log, weil sie etwas verbergen wollte, oder die Zeit hinter dem Steuer tatsächlich aus ihrem Gedächtnis gelöscht war.

»Warum haben Sie niemandem erzählt, dass Ihre Amnesie vorbei war?«

»Weil ich Angst hatte.«

»Angst vor wem?«

»Vor den Ligisten. Vor den Mitarbeitern des Dienstes. Vor den Leuten, die hinter mir her waren.«

»Sie hätten zur Polizei gehen können.«

»Der hab ich auch nicht mehr getraut.« Sein skeptischer Blick entging ihr nicht, sie straffte sich: »Herr Rogge, ich hab’s nicht gern, wenn man mich für dumm hält. Zinneck besaß Personalpapiere auf den Namen Hans Zinneck, Geburtsurkunde, Abi-Zeugnis, Führerschein, eben all den amtlichen Krams, den der gute Bundesbürger im Laufe eines Lebens ansammelt. Wer hat ihm diese Papiere besorgt?«

»Vielleicht keiner, vielleicht waren sie echt, weil er tatsächlich Hans Zinneck war«, versuchte er sie zu reizen, doch sie erklärte bedächtig: »Eben das wollte ich feststellen.«

»Wie das?«

»Er hatte mir noch in Frankreich mal erzählt, er sei in Lindau geboren und seine Mutter lebe noch dort.«

Die Idee ist nicht schlecht, überlegte Rogge. Irgendwo musste sie ja anfangen. In Frankreich hatte sie den Worten des Hans Zinneck geglaubt, jetzt durfte sie nichts mehr ungeprüft für wahr halten. Aber warum hatte sie damit so lange gewartet?

Mit der Antwort ließ sie sich Zeit. »Solange mir alle glaubten, dass ich mich an nichts mehr erinnern konnte, war ich ungefährlich. Deswegen habe ich den Mund gehalten und weiter Inge Weber gespielt. Bis Sie dann kamen und mir erzählten, dass meine Tarnung geplatzt war.«

»Dieser Wolfgang Tepper - hat Zinneck, oder wie er tatsächlich hieß, etwas über Wolfgang Tepper erzählt?«

»Ja, hat er. Er war Investmentberater und Anlagenvermittler in Frankfurt und lebte im Taunus. Mit seiner Frau Karin.« Rogge zuckte zusammen, aber sie schaute an ihm vorbei. »Bei einem riskanten Geschäft hatte er sich gründlich verschätzt und Verluste gemacht. Um die auszugleichen, vergriff er sich an Kundengeldern, alles geriet ins Rutschen und eines Tages rief ihn jemand an, er solle sich auf den Besuch des Staatsanwaltes vorbereiten. Der erschien dann auch, aber Zinneck-Tepper hatte die verfängliche Korrespondenz vernichtet. Während der Untersuchung tauchte dann plötzlich ein Mann auf, der Tepper einen Handel vorschlug. Wenn Tepper sich bereit erkläre, für einen Geheimdienst als V-Mann zu arbeiten, würde der Dienst dafür sorgen, dass der Staatsanwalt die Ermittlungen einstelle.«

 

»Worauf er sich eingelassen hat.«

»Ja. Er hatte nichts mehr zu verlieren, sein Geschäft war pleite, seine Frau hatte ihn verlassen, und er wurde auf die Liga angesetzt.«

»Das hat er Ihnen am frühen Abend des 15. September in Kassel berichtet.«

»Ja. So kam er nach Cannes, weil es dort einen Ring von Waffenhändlern geben sollte.«

»Diese Liga - er muss doch was über diesen Verein herausgefunden haben.«

»O ja. Eine Art Geheimbund, international, etwas für feinere, betuchte Leute. Vorherrschaft der arischen Rasse, antisemitisch, rassistisch, elitär und natürlich antidemokratisch. Herrschaft der Besten über eine ständisch gegliederte Gesellschaft.«

»Das klingt alles sehr abstrus.«

»Kann sein, Herr Rogge, aber Hans nahm sie ernst. Alles sehr exklusiv, nichts Schriftliches, man wurde mündlich aufgefordert beizutreten, und wenn man dazugehörte, beteiligte man sich äußerst diskret an illegalen, aber lukrativen Geschäften mit muslimischen Staaten.«

»In Form von Waffenschmuggel.«

»Zum Beispiel. Oder Lieferung von Firmen, die verbotene Sachen hersteilen, wie etwa Giftgas.« Charlotte Bongartz zuckte die Achseln und ignorierte Rogges forschenden Blick. Von der Existenz dieser Liga hatte sie Rogge nicht überzeugt. Zinneck/Tepper konnte durchaus vor zornigen Gläubigern oder skrupellosen Waffenhändlern auf der Flucht gewesen sein, was er ihr gegenüber mit der V-Mann-Existenz für einen Geheimdienst verbrämte. Allerdings irritierte Rogge ein Detail: dass ein Ermittlungsverfahren gegen Wolfgang Tepper niedergeschlagen worden war, sozusagen als Köder für seine Mitarbeit. Das ließ sich bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt nachprüfen.

»Hat Tepper den Namen des Staatsanwalts genannt, der damals in Frankfurt gegen ihn ermittelt hat?«

»Dr. Driesch, den Vornamen habe ich vergessen.«

Noch war nichts von ihrer Räuberpistole bewiesen. Weder ihr Name noch ihre Heirat mit einem Hans Zinneck alias Wolfgang Tepper, einfach gar nichts. Vielleicht verschaukelte sie Rogge auch gewaltig und amüsierte sich heimlich über ihn. Ihre Intelligenz unterschätzte Rogge nicht; wenn sie die Amnesie immer nur vorgetäuscht hatte, und nicht erst seit Mai, durfte er nie vergessen, dass sie einige erfahrene Arzte und Psychiater an der Nase herumgeführt hatte. Weil sie den Mann in Kassel erschossen hatte? - Wenn es da überhaupt einen Toten gegeben hatte! Sein Gefühl sträubte sich gegen diesen Verdacht, aber Gefühle waren schön, Beweise besser.

»Sie glauben mir nicht?«

Bei ihrer ruhigen, fast beiläufigen Frage zuckte Rogge zusammen: »Es fällt mir schwer, Frau Bongartz.«

»Das verstehe ich.«

»Ich bin Polizist, und wenn man so oft angelogen worden ist wie ich, entwickelt man großes Misstrauen. Besonders bei so ungewöhnlichen Geschichten.«

»Das nehme ich Ihnen nicht übel, aber umgekehrt wird auch ein Schuh daraus, Herr Rogge: Was hätten denn Sie - oder Ihr Kollege Grembowski - gesagt, wenn ich mit dieser Story zu Ihnen gekommen wäre?«

Was sollte Rogge darauf erwidern? Grem hätte sich vor Lachen gekugelt. Und er selbst? - Gut, er hätte sich nicht auf ihre Kosten amüsiert, in dem Punkt besaß er mehr Takt als Grem - aber geglaubt hätte er ihr auch nicht.

»Erst gelacht, dann nachgedacht. Richtig?«

»Wahrscheinlich«, gab er zu.

»Na fein. Dann bei den Kollegen in Kassel angerufen. Ob da im vergangenen September eine männliche Leiche gefunden worden ist. Im Haus Beelestraße 11.«

»Natürlich.«

»Version eins: Tatsächlich wurde dort eine Leiche gefunden. Täter? - Unbekannt. Aber da hat man ja jetzt jemanden, eine überspannte Frau, die bei der Kripo ein saublödes Lügenmärchen erzählt. Immer noch richtig?«

»Richtig. Wir hätten Sie massiv verdächtigt.«

»Version zwei: keine Leiche und keine Spuren eines Verbrechens. Was schnattert die dumme Gans denn da von Leichen und Schüssen und Blut? Im Wohnzimmer gibt’s keinen Teppich, geschweige denn einen mit Blutspuren. Ach so, Gedächtnisverlust - Herr Kollege, hat man die Dame mal daraufhin untersucht, ob sie nicht völlig plemplem ist?«

Rogge lächelte, weil sie laut und temperamentvoll geworden war, mit den Armen herumfuchtelte und ihn schließlich am Jackenärmel festhielt, dass er stolperte. So gefiel sie ihm besser als gedrückt schlurfend.

»Ja, so wär's wohl abgelaufen«, stimmte Rogge endlich zu.

Zwanzig Schritte spazierten sie stumm.

Schließlich murmelte Charlotte Bongartz: »Vor beiden Möglichkeiten hab ich Angst gehabt.«

Jetzt blieb Rogge stehen und sah sich um. An dieser Stelle führte der Weg direkt bis an den See heran und der überhängende Felsen war zu einer Aussichtsplattform geglättet worden.

Zehn Meter unter dem dicken, festen Geländer gluckerte das Wasser und Rogge lehnte beide Unterarme auf das Holz. Ein Ort zum Träumen, dachte er traurig. Ein Hauch von Wind kräuselte die Oberfläche des Sees und bewegte den grauen Dunst.

Plötzlich stand sie neben ihm, auch nach vorn gebeugt, und starrte auf das Wasser hinunter.

»Aber jetzt erzählen Sie mir die Geschichte«, sagte Rogge leise. »Obwohl sie immer noch so unglaublich ist wie vor Monaten.«

»Wirklich? Und ich dachte, der Mann, den Sie erschossen haben, verleihe ihr eine Spur von Wahrscheinlichkeit.«

Den Hohn hatte er verdient, deswegen sagte er nichts.

Nach einer Weile flüsterte sie: »Wie kann ich Sie denn überzeugen?«

»Weshalb haben Sie sich Schönborn nicht anvertraut?« Rogge wandte sich zu ihr und musterte sie versonnen. Verrückte Geschichten mussten nicht erfunden sein, neun von zehn Fällen, die sie im Kommissariat bearbeiteten, waren langweilig, oft mehr als stumpfsinnig, und der zehnte übertraf alles, was sich Krimiautoren ausdachten. Doch auch die verrückteste Geschichte gehorchte einem Gesetz, sie war in sich stimmig, logisch, selbst wenn ihre innere Logik einem Kriminalbeamten nicht auf den ersten Blick einleuchtete. Was Charlotte Bongartz bis jetzt erzählt hatte, fiel in die Kategorie unwahrscheinlich, aber die Fakten wie die Lücken passten zueinander. Nur ihr Verhalten ab dem Tag, an dem sie ihr Gedächtnis wiedererlangt hatte - das begriff er nicht.

Auch sie hatte sich umgedreht, lehnte jetzt schräg, mit einem Arm abgestützt, an dem Geländer und schaute ihn fest an. Ein anziehendes Gesicht, fiel ihm wieder auf, nachdenklich und ernst. Zu seiner Schülerzeit verguckte man sich noch in ein Mädchen, vielleicht passierte ihm das gerade auch. Ihr Blick ließ ihn nicht los, bis sich ihre Mundwinkel verzogen. Sie konnte die Nase herrlich krausen und zugleich die Stirn runzeln, wie ein Kobold, er lächelte zurück.

»Gehen wir noch ein Stück?«

»Gerne.«

Sie schlenderte neben ihm her. »Warum ich Achim ... Wissen Sie, was mein erster Gedanken war, nachdem sich dieses graue Loch verflüchtigt hatte? - Dass Achim Schönborn eine verteufelte Ähnlichkeit mit Hans Zinneck hat.«

Ja, so konnte man es sehen.

»Natürlich habe ich mir immer wieder überlegt, ob ich ihm die Geschichte erzählen soll, aber ich habe mich nie darauf verlassen können, wie er reagieren würde.«

Damit kam sie der Wahrheit wohl sehr nahe. Schon einmal waren sie Schönborn auf die Pelle gerückt und hatten ihm unterstellt, beim Tode seiner reichen Frau nachgeholfen zu haben. Den Ärger ein zweites Mal? Hätte Schönborn sich für Charlotte stark gemacht?

»Dann schlichen mir immer noch Grembowskis Leute nach. Und die anderen, mein Gott, Herr Rogge, wenn mir Zinneck nun keinen Bären aufgebunden hat, sondern diese Liga tatsächlich einen Verräter liquidiert hat?«

Alles logisch und trotzdem noch nicht überzeugend.

»Aber der wirkliche Grund - als ich plötzlich wieder Charlotte Bongartz war, wusste ich, dass ich Achim nicht liebte. Dankbar, ja, das war ich und bin ich immer noch, aber ich brauchte ihn nicht mehr.« Unvermittelt blieb sie stehen, Rogge ging noch ein paar Schritte weiter und drehte sich um.