Extra Krimi Paket Sommer 2021

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»Fuhrmann? Mit einer Patientin? War Angi überhaupt volljährig, als sie geschwängert wurde?« Wibbeke hatte Mühe, seine Gedanken von dem Busunglück loszureißen und sich auf Rogge zu konzentrieren.

»Warum nicht? Als Arzt war er besonders leicht verwundbar. Oder erpressbar. Was, Herr Wibbeke, wenn seine Frau eines Tages doch dahinter gekommen ist und Martin, den Sohn, den sie nie hatte, nie bekommen konnte, überfahren hat?«

»Sehr weit hergeholt, Herr Rogge.«

»Dann quartiere ich mich aus einem ganz anderen Grund im Bären ein. Erzähle Gertrud absichtlich, wer ich bin. Die berichtet es Monika Ziegler, die Arzthelferin erzählt es wiederum ihrem Chef und der plaudert es ganz harmlos vor seiner Ehefrau aus.«

»Und die wird nervös, meinen Sie.« Wibbeke verpackte seinen Hohn nur schlecht.

»Möglich, nicht wahr? Warum ist denn sonst auf mich geschossen worden?«

»Moment mal, Sie trauen der Fuhrmann - das halte ich für ausgeschlossen.«

»Wirklich? Ich bin ihr einmal begegnet, und wenn die Frau nicht bis zur Halskrause mit Hass oder Angst abgefüllt ist, gebe ich meine Hundemarke zurück.«

»Aber deswegen schießt man doch nicht ...«

»Wenn sie mich nun gar nicht treffen wollte? Sondern nur verscheuchen?« Wibbeke grunzte Protest, aber Rogge ließ sich nicht beirren. »Benno leugnet stur, auf mich geschossen zu haben.«

Eine ganze Weile grummelte Wibbeke etwas Unverständliches vor sich hin. »Na gut, und wenn sie den Stockerboten liest ... Soll ich Ihnen etwas gestehen?«

»Sie haben bis jetzt heimlich Olli verdächtigt, das Kind seiner Frau umgebracht zu haben.«

»Stimmt. Und mal ganz undienstlich, Herr Rogge: Ich hätt’s ihm seinerzeit gerne angehängt.«

»Daran zweifele ich keine Sekunde.«

»Sie haben übrigens Glück gehabt, dass Sie die Matussek angetroffen haben, sie ist die einzig Vernünftige in dem Idiotenzirkus da drüben.«

Kriminalrat Simon war nicht zu sprechen. Angeblich eine Konferenz, die gerade begönne, nein, täte ihm Leid, erst in der nächsten Woche wieder. Verstimmt legte Rogge auf und trat ans Fenster. Keine Silbe hatte er Simon eben geglaubt. Seinen Bericht würde er noch schreiben, aber dann durfte ihm der Kriminalrat im Mondschein begegnen, dann war Schluss, noch länger ließ er sich nicht wie eine Figur auf einem Schachbrett hin und her schieben. Obwohl ... Er griente schräg. Diese Kombination aus Urlaub und Ermittlung hatte ihm gut getan, das konnte er nicht leugnen, er hatte Abstand gewonnen und schon viele Tage nicht mehr an den verrückten Jungen gedacht, der mit der Pistole in der Hand auf ihn losgestürmt war. Man konnte über Simon meckern und schimpfen, aber er nahm Rücksicht auf die Eigenarten seiner Leute.

Kili hatte Witze reißen wollen: »Hast du etwa versucht, damit deinen Kaffee zu filtern?«, dann aber alle Eide geschworen, den Inhalt der Diskette erstens sauber auszudrucken und zweitens vor jedermann zu verschweigen und geheim zu halten, was immer passiere.

»Auch vor jederfrau!«

»Denkst du dabei zufällig an Jasmin?«

»Genau das tue ich.«

Bis zur Abendbesprechung hatte Rogge seinen dritten Bericht getippt, korrigiert und gedruckt. Kollege Klaus Schubert hatte sich zum Dienst zurückgemeldet, zusammen mit Peter Dingeldey biss er sich die Zähne an einem mehr als verqueren Fall aus: Ein allseits verhasster Hausmeister war schwer verletzt im Waschmaschinenkeller gefunden worden, aber kein Mieter wollte etwas gehört oder gemerkt haben, obwohl jedem die Schadenfreude aus allen Knopflöchern leuchtete.

Binnen Stunden trabte Rogge wieder voll im Kommissariats-Trott, und weil Kili wohl gewarnt hatte, erkundigte sich niemand, was der Chef in den vergangenen Tagen gemacht hatte. Zum Ausgleich deponierten sie mit faulen Ausreden ihre Akten auf seinem Tisch; die Wochenendarbeit ärgerte ihn, andererseits freute ihn, dass sie ihm vertrauten und selbstverständlich vom Chef Hilfe erwarteten.

Auch Grem schaute »rein zufällig« vorbei; Rogge seufzte, diese Begegnung hätte er gerne vermieden, aber weil der Flurfunk wahrscheinlich mit höchster Leistung sendete, wollte Rogge Grem nicht mit Ausflüchten abspeisen. Dass er Inge Webers Namen herausgefunden hatte, beeindruckte Grem und vergrätzte ihn zugleich; sein verkniffenes Gesicht hellte sich auf, als er hörte, dass Inge Weber/Charlotte Zinneck abgetaucht war: »Also hat sie doch simuliert.«

»Gut möglich«, räumte Rogge ein.

»Ich hab’s Simon immer wieder vorgetragen, aber der wusste es natürlich besser.«

Einen Moment überlegte Rogge, aber Grem strahlte vor guter Laune und Schadenfreude, und deshalb riskierte Rogge es: »Sag mal, Grem, ist dir oder deinen Leuten eigentlich aufgefallen, dass sich noch jemand für Inge Weber interessierte?«

»Na klar doch! Nach dieser blöden Fernsehsendung! Plötzlich kurvten da ganz merkwürdige Typen herum und stolperten meinen Leuten über die Füße.«

»Journalisten?«

»Die auch. Ganz schräge Vögel. So hat der Knatsch mit Simon doch begonnen, ich bin den Leutchen kräftig auf die Zehen getreten und einer hat sich wohl bei Simon - oder noch weiter oben — beschwert.«

»Davon steht aber nichts in deinen Akten.«

»Nee, warum auch? Ich musste bei Simon antanzen und der hat mir eine dicke Zigarre verpasst. Behinderung der Presse, ob ich noch alle Tassen im Schrank hätte und so weiter, und zum Schluss Anweisung, mich von der Weberin zurückzuziehen.«

»Nach PDV wohl ganz korrekt«, sinnierte Rogge laut.

»Scheiß auf die Polizeidienstvorschrift! Die Frau hat uns alle an der Nase herumgeführt ...«

»Was nicht unbedingt strafbar ist.«

»Irreführung der Behörden, Erschleichung von Sozialhilfe, Führen eines falschen Namens.«

»Moment, Grem. Nur wenn die Weberin von Anfang an simuliert hat, hättest du Recht.«

»Hör auf! Das kenne ich bis zum Erbrechen von Simon.

Mehrere Gutachten von renommierten Sachverständigen, ohne Zweifel totale Amnesie, kein Staatsanwalt wollte ran, kein begründeter Verdacht auf eine Straftat, also Finger weg von der Weberin.«

»Ja«, murmelte Rogge zerstreut, »diese anderen Typen — das waren nicht nur Journalisten?«

»Wahrscheinlich nicht. Privatdetektive, Sensationsjäger, vielleicht auch schlicht Perverse, was weiß ich.«

»Hm. Und jetzt mal vertraulich unter uns Simon-Opfern: Hast du dich an seine Anweisung gehalten?«

»Bin ich verrückt? Natürlich nicht!«

Darauf nickte Rogge nur unverbindlich, aber Grem war noch nicht fertig: »Bis Simon mir den Fall offiziell weggenommen hat. Das verüble ich ihm, das werde ich ihm auch so schnell nicht vergessen.«

An der Tür drehte sich Grem noch einmal um, seine gute Laune sank schon wieder: »Ich hab auch so eine Idee, wer mich angeschwärzt hat, weil ich die Weberin weiter überwachen ließ.«

»Ach ja?«

»Das war dieser Weißbart.«

»Wer ist Weißbart ... Du meinst den Gerichtsreporter vom Tageblatt? «

»Genau der. Weißt du, mit wem der befreundet ist?«

»Du meinst Rolf Kramer.«

»Genau. Und dieser windige Privatdetektiv ist ein Spezi von dir, nicht wahr?«

»Willst du jetzt Sippen- und Freundschaftshaftung einführen?«

»Es ist immer gut zu wissen, wer mit wem zusammen kungelt.« Die Tür knallte ins Schloss, Grems Blutdruck hatte wieder die übliche Höhe erreicht.

Während der Abendbesprechung saß Rogge geistesabwesend auf der Fensterbank und hörte nur mit einem Ohr zu. Trotz seiner starken Sprüche war Grem ein guter Polizist, doch für Diplomatie und bürokratische Winkelzüge besaß er kein Gespür. Nicht einmal hatte er über den merkwürdigen Widerspruch nachgedacht, dass Simon ihm den Fall weggenommen und einem anderen Beamten übertragen hatte. Denn dann hätte Grem auch zu dem Schluss kommen müssen, dass Simon nicht die Tatsache der Ermittlung, sondern nur Grems Methode, die massive Überwachung der Weberin, kritisiert hatte.

»Chef, kennst du den Witz von der Frau, die ihren Mann fragt, warum er denn so lange habe arbeiten müssen, und der sagt, nix Überstunden, sondern eine besondere Gemeinheit der Kollegen, die ihn bei Dienstschluss nicht geweckt hätten.« Kili reckte das Kinn in die Flöhe und schielte dabei auf Petra Steiniger.

»Den kenne ich, Kili«, erwiderte Rogge friedfertig.

Kirchbauer schnaufte: »So, wer übernimmt freiwillig Wochenendbereitschaft?«

Alle Köpfe drehten sich zu Rogge, der von der Fensterbank herunterrutschte und freundlich abwinkte: »Ich muss noch etwas erledigen.«

Die Staatsanwältin studierte zuerst die Speisekarte, fingerte dann am Gürtel ihres Kleides herum und musterte Rogge endlich finster: »Weißt du, was du bist?«

»Nix, liebe Dörte, das Wort Sadist weise ich weit von mir. Du hast Kleid und Gürtel ausgesucht.«

»Bist du eigentlich immer im Dienst?«

»Du meinst, weil ich meinen scharfen Blick nicht an der Garderobe abgebe?«

»Himmel hilf!«, stöhnte sie laut auf; am Nebentisch drehte sich ein Paar beunruhigt um. »Was zum Teufel willst du eigentlich von mir?«

»Was soll ein Mann von einer schönen Frau schon wollen?«

»Im Moment stelle ich die Fragen, Angeklagter.«

»Aber ich sitze auf dem Zeugenstuhl, Frau Staatsanwältin.«

»Nicht mehr lange.«

»Richtig. Ich sitze nicht mehr lange still. Wenn du dich nicht entscheiden kannst, laufe ich zum Bahnhof. Da gibt’s fantastische Reibekuchen, so richtig schön kross in Fett gebraten ...«

»Kein Wort weiter!«

Nach dem Vorgeplänkel bestellte sie und Rogge amüsierte sich über ihre Zungenspitze, die voller Vorfreude über ihre Lippen huschte. Dörte liebte gute Restaurants und aufmerksame Bedienung, viele kleine Gänge und französische Rotweine, und die innere Wärme stimmte sie heiter, so vergnügt, dass sie beim Kaffee und Cognac seine Attentatspläne auf die geheiligten Prinzipien der Staatsanwaltschaft gelassen, sogar mit einer Spur Wohlwollen ertrug,

 

»Ich versuche, Jens, aber große Hoffnungen kann ich dir nicht machen.«

»Simon verschweigt mir einiges ... Ja, kein Einwand, du hast mich vor ihm gewarnt, aber wenn er angewiesen worden ist, Grem von dem Fall zurückzuziehen, muss es einer deiner Kollegen angeordnet haben.«

»Nein, muss nicht. Es kann auch über euren Präsidenten gelaufen sein.«

»Ja, möglich. Aber nicht sehr wahrscheinlich. Denn das würde heißen, dass sich irgendjemand - eine Behörde, ein Amt - außerhalb unseres Gerichtsbezirks für den Fall Inge Weber interessiert.«

»Kommt dir das ganz ausgeschlossen vor?«

Dass Dörte mit ihren blind gefeuerten Schüssen so oft ins Schwarze treffen musste! Die Logik sagte ihm, dass es unwahrscheinlich war, aber sein Gefühl piesackte ihn, eben das zu vermuten. Wer sollte denn diese Typen geschickt haben, die ihn verfolgt hatten, die er beinahe vor Schönborns Villa gestellt hatte - aber eben nur beinahe? Wer hatte ihn in der Weber-Wohnung so fachmännisch außer Gefecht gesetzt?

Sein unglückliches Gesicht verriet ihn, Dörte lachte auf und streichelte seine Hand: »Jens, ich hör mich im Amt um, das ist versprochen, aber zu mehr kannst du mich nicht überreden.«

XV.

»Ja?«

»Hier ist Kuckuck. Wir haben seit zweiundsiebzig Stunden keine Nester mehr gefunden. Sollen wir weitermachen?«

Seit drei Tagen keinen Kontakt mehr. Das hieß, die anderen hatten sich zurückgezogen. Höchstwahrscheinlich.

»Wie viele brütende Paare waren es zum Schluss?«, erkundigte Jockel Pertz sich vorsichtshalber,

»Drei.«

Sechs Leute. Ein teurer Spaß, um die 50 Mille pro Monat. Mal zwölf, rund eine halbe Million. Das ging ins Geld. Jeder vernünftige Kaufmann setzte sich ein Limit und eine halbe Million klang nach einem kalkulierbaren Einsatz, einer Summe, die man aufwenden konnte, vielleicht sogar riskieren musste.

Sie hatte ein Taschentuch herausgeholt und wischte Pertz den Lippenstift ab. Dass sie schweigen musste, wenn er diesen haften Blick bekam und seine Backenmuskeln spielten, hatte sie gelernt. Und noch einiges mehr, von dem er hoffentlich nichts ahnte. Deswegen versuchte sie gar nicht erst zu lauschen, sondern glitt von seinem Schoß und tappte lautlos zur Tür, wo sie wartete, die Hand auf der Klinke.

»Okay, wir machen Schluss.«

»Verstanden, Ende.«

Pertz legte auf und sie huschte durch die Tür.

Nach dem Telefongespräch hatte Pertz den Apparat umgestellt und sein Arbeitszimmer abgeschlossen, um ungestört Akten zu lesen. Wie immer bei solchen Aktionen war viel Papier zusammengekommen, aber die Aussagekraft verhielt sich umgekehrt proportional zur Menge. Deshalb hatte er sich angewöhnt, bei der ersten Lektüre die wirklich wichtigen Passagen rot zu unterstreichen, und mit diesen Stellen wäre er in zwanzig Minuten fertig gewesen.

Für die Existenz dieser Liga gab es nur drei dürftige, halbwegs sichere Beweise: die Auswertung der mitgeschnittenen Telefongespräche, die Berichte ihres V-Mannes, die Aussage eines Mitarbeiters, der zufällig Zeuge einer Auseinandersetzung in einem Drei-Sterne-Restaurant geworden war. Die V-Mann-Rapporte legte er vorerst zur Seite. Nach den Transkripten der vom BND aufgezeichneten Telefongespräche existierte eine Gruppe, ein loser Zirkel, der sich den Namen Liga gegeben hatte, aber abgesehen von der Tatsache, dass seine Mitglieder etwas mit Import und Export, Wirtschaft und Finanzen, Industrie und Forschung zu tun hatten, waren Größe, Organisation und Zielsetzung völlig vage geblieben. Für die sieben namentlich identifizierten Mitglieder hatten sie eine vergleichende Recherche nach Gemeinsamkeiten angestellt: Schule, Universität, studentische Verbindungen, Ausbildung, Sportclubs, Hobbys, Vereine. Das Ergebnis fiel negativ aus. Auch die so genannten Lebenskreise überschnitten sich nicht so, dass wie bei der Mengenlehre eine allen gemeinsame Schnittmenge übrig blieb.

Genauso unergiebig war die Literaturrecherche ausgefallen. Aus den unendlichen Mengen von Artikeln, Broschüren, Flugblättern, Zirkularen, die mit Fleiß und hohem Aufwand gesammelt wurden, ließ sich keine Organisation extrahieren. Das musste nichts zu bedeuten haben, vorsichtige Menschen mieden schriftliche Aussagen, erst recht, wenn sie zwar gemeinsame Interessen verfolgten, aber keine einheitliche ideologische Basis besaßen. Ihr Ohrenzeuge hatte, wenn man kritisch las, nur einen wichtigen Satz beigesteuert, den erregten Vorwurf eines Unternehmers: »Wenn ich gewusst hätte, auf was ich mich da einlasse, hätte ich nie einen Finger für diese verdammte Liga gerührt.«

Den Sprecher hatten sie ausfindig gemacht und nach allen Regeln der Kunst durchleuchtet. Er hatte Schulden, er betrog das Finanzamt und seine Frau, er zahlte Schmiergelder an das Wasserwirtschaftsamt. Alles in allem hässliche Flecken auf der weißen Weste, aber weder größer noch schwärzer als bei vielen anderen auch, die nicht unter dem Verdacht standen, einer verfassungsfeindlichen Organisation anzugehören und gezielt gegen das Waffenkontroll- und das Außenwirtschaftsgesetz zu verstoßen.

Blieb also nur der V-Mann. Wenn man seinen Berichten Vertrauen schenken konnte, hatte er sich unter Berufung auf die Liga in einen Kreis eingeschlichen, dem tatsächlich ungesetzliche Aktivitäten nachzuweisen war, wobei offen blieb, welches Ziel die Mitglieder wirklich verfolgten: Füllten sie sich nur die eigenen Taschen oder finanzierten sie eine politische Idee?

Jockel Pertz lehnte sich zurück. Mehr als einmal hatte er sich den ketzerischen Gedanken verboten: Gab es die Liga überhaupt? Die Tonbänder hatte er nie gehört, sondern nur die Abschriften gelesen. Mit dem Mitarbeiter war er nie zusammengetroffen, um sich selbst einen Eindruck von seiner Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Blieb der V-Mann, dessen Tipps lange Zeit zu etwa neunzig Prozent gestimmt hatten - in diesem Gewerbe eine ungewöhnlich hohe Trefferrate. Vielleicht zu hoch, um nicht vorsichtig zu werden. Der Trick war beliebt: Ein Doppelagent festigte seinen Ruf durch anfänglich hervorragende Informationen; im Laufe der Zeit nahm die Zahl der richtigen Informationen ab, die der gezielten Falschinformationen zu. Was hier allerdings nicht zutraf. Die Zahl der Informationen war bei konstanter Trefferquote kontinuierlich gesunken. Zu dieser Aussage hatte Pertz das Trio Ellwein, Gönter und Weinert regelrecht zwingen müssen und selbst jetzt war Pertz sich nicht sicher, ob sie ihn nicht belogen hatten, und zwar aus einem allen gemeinsamen, wenn auch voreinander verschwiegenen Motiv: Sie ahnten das Ende der Aktion und hatten die Kooperation in Gedanken bereits aufgekündigt, behielten deshalb all jene Erkenntnisse für sich, die in Zukunft für ihre »Mutter«-Dienststellen wichtig werden konnten.

Wie sich überhaupt gezeigt hatte, dass der Egoismus der Dienste und Ämter eine wirklich vertrauensvolle Zusammenarbeit erschwerte.

Nun gut! Pertz rieb sich die Augen. Die Liga existierte, aber sie hatten den Kontakt verloren. Wiederum zwei mögliche Erklärungen: Der Laden hatte sich so gut getarnt, dass nach dem Ausfall des V-Mannes die Abschottung perfekt funktionierte. Oder die Gruppe hatte sich aufgelöst, weil sie nach dem ersten Einbruch in ihren inneren Kreis misstrauisch, übervorsichtig geworden war.

Nebenan hatte die Frau sich an den Flügel gesetzt und Pertz ließ sich eine halbe Minute ablenken. Schubert, ein Impromptu. Warum sie bei ihrem Talent die Ausbildung abgebrochen hatte, verstand er bis heute nicht. Eine Verschwendung von Begabung und Mühe, diese Überlegung bedrückte ihn immer wieder.

Viele der Entscheidungen, die Pertz treffen musste, fielen nach Aktenlage und manchmal fühlte er sich dabei wie ein Mann in einem großen, völlig finsteren Saal mit vielen Ausgängen. Hatte der andere bereits lautlos den Raum verlassen? Oder lehnte er immer noch irgendwo an der Wand und wartete mit endloser Geduld ab, was geschehen würde? Selbst Erfahrung führte da nicht viel weiter, es blieb immer eine Mischung aus wenigen Fakten, Intuition und Erinnerung an viele Niederlagen und einige wenige Erfolge. Das Trio Ellwein, Gönter und Weinert hatte sich, jeder einzeln, strikt geweigert, ihm bei dieser Entscheidung zu helfen. Seine Intuition sagte Pertz, dass sich der Kreis aufgelöst hatte. Entweder waren alle Spuren bereits verwischt — oder die letzte gemeinsame Aktivität bestand zurzeit darin, gefährliche Zeugen auszuschalten und mögliche Beweise zu vernichten. So oder so - es lohnte keine Mühe mehr.

Sorgfältig räumte er die Akten in den kleinen Tresor. Wie immer litt er unter dem Zwiespalt von Erleichterung darüber, dass er sich durchgerungen hatte, und nagendem Zweifel, er könnte etwas übersehen haben.

Petra hörte auf, als er ins Zimmer kam und vor dem Flügel stehen blieb.

»Du siehst unglücklich aus, Jockel«, flüsterte sie zärtlich.

»Unglücklich? - Nein. Unglücklich bin ich nicht. Unruhig.«

»Warum? Meinetwegen?«

Er lächelte trübe, während sie aufstand und die Träger ihres Hängerkleids über die Schultern streifte. Zwei Jahre hatte er sich gegen sie gewehrt, weil er nicht begriff, was sie an ihm fand, und sich zugleich trotz des beruflichen Misstrauens mit allen Fasern nach ihr sehnte.

Sie hakte den BH auf und er zog sie an sich. Weil er ein zärtlicher Liebhaber war, schlief sie gerne mit ihm und schämte sich manchmal, dass sie ihn ausspionierte. Aber dafür wurde sie gut bezahlt, und wozu ihre Informationen dienten, wollte sie gar nicht wissen.

Samstag, 30. September

Das Telefon riss Rogge aus dem tiefsten Schlaf, wütend grabbelte er nach dem Wecker: Viertel nach drei. Welcher Idiot im Präsidium hatte da wieder nicht auf die Liste geschaut?

»Ja?«, grollte er los.

»Herr Rogge? Hier ist Inge Weber. Oder Charlotte Zinneck.«

Zuerst verstand er gar nichts, und das nicht nur, weil die heisere Stimme flüsterte. Noch benommen vom Schlafdusel traute er seinen Ohren nicht. »Wer?«

»Charlotte Zinneck.«

Das war nicht wahr! Das konnte nicht sein!

»Hören Sie mich?«

»Ja«, krächzte er, die Stimme dick belegt.

»Ich brauche Hilfe.«

»Was?«

»Bitte! Die sind hinter mir her.«

»Wer ist ... wo sind Sie?«

»In einem Motel. Am Bellhorner See.«

»Das kenne ich.«

»In einem fremden Zimmer, die Nummer weiß ich nicht, ganz außen. Da habe ich mich versteckt.«

Seine Schlafgeister verflogen.

»Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.« Die Stimme zitterte, gleich würde sie zu weinen beginnen. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. »Ich habe Angst.«

Wenn sie schauspielerte, verdiente sie einen Preis.

»Können Sie nicht kommen? Bitte!«

Eine großartige Idee. Mal eben an den Bellhorner See rauschen und den Helden spielen ...

»Kann Ihnen das Personal nicht helfen?«

»Ich weiß nicht - es ist dunkel, ich trau mich nicht, Licht zu machen.« Das klang nach beginnender Hysterie, mit ihrer Nervosität steckte sie ihn regelrecht an.

»Okay, nur ganz ruhig, ich finde Sie. Bleiben Sie jetzt in der Nähe des Telefons. Eine Stunde, okay?«

»Ja ... ja ... sicher.«

»Bis gleich!« In fliegender Eile zog Rogge sich an und verwünschte die drei Cognacs, zu denen Dörte ihn verführt hatte. Und fluchte noch einmal, als er feststellte, dass er nur ein gefülltes Magazin für seine Dienstwaffe besaß.

Bis zum Beilhorner Stausee stellte Rogge einen neuen Rekord auf. Die Dämmerung kündigte sich an, es würde ein grauer Tag werden, die Wolken hingen dicht über dem Wasser, es war windstill und schwülwarm. Weil Rogge keine Zeit verlieren wollte, fuhr er direkt auf den Parkplatz. Der Eingang des Motels war verschlossen, zornig rüttelte er an der Tür, zwecklos, bis er jemanden vom Personal geweckt hatte ... Er rannte nach links, um den einstöckigen Flügel herum. Ganz außen, hatte sie gesagt. An der Ecke musste er über den Zaun klettern, noch war es zu dunkel, sollte sich jemand im Garten verbergen, würde er ihn nicht sehen können - das äußerste Zimmer. Fenster und Verandatür verriegelt, kein Licht, die Vorhänge nicht vorgezogen, er klopfte hastig, zweimal, dreimal, drinnen rührte sich nichts.

 

»Charlotte!«, rief er unterdrückt.

Keine Reaktion. Also das Zimmer auf der anderen Seite der L-förmig gebauten Anlage? Quer durch den dunklen Garten? - Oder ließ er sich von ihr verrückt machen? Warum glaubte er ihr unbesehen? - Wenn er an den Terrassen vorbeischlich, bestand Gefahr, dass Motelgäste ihn zufällig sahen und Alarm schlugen - oder sollte er das herausfordern? Und dann war da niemand, nur ein spinnerter Hauptkommissar ...

Er spurtete los, raste quer über die Beete, zertrampelte Blumenrabatte, sprang über niedrige Sträucher und hörte plötzlich zweimal ein mattes Plopp. Oder bildete er sich das nur ein? Seine Lungen stachen, die Luft wurde knapp, er sollte weniger rauchen, es konnte aber auch die Furcht sein - noch ein Plopp, in der Stille erschreckend laut, endlich warf er sich auf die Steine der Veranda vor dem Eckzimmer.

»Charlotte!«, keuchte Rogge. Die schlimmsten Alpträume wurden wahr, aber dann öffnete sich wie von Zauberhand die Tür, er kroch auf allen vieren durch den Spalt, sie drückte die Tür schon zu und schrie unterdrückt auf, als das Glas splitterte und knirschte. Ohne zu überlegen griff Rogge nach ihren Beinen und riss sie um, sie schrie vor Schreck oder Schmerz, als sie auf ihn stürzte, keine Zehntelsekunde später hörten sie zwei dumpfe Aufschläge, der Schütze hatte das Holz getroffen.

»Nicht bewegen!«, zischte Rogge und das unangenehm hohe Jammern brach ab.

»Ruhe!«

Zehn Sekunden, zwanzig, dreißig. Absolute Stille. Eine Minute. Im Motel rührte sich nichts. Wie viel Zeit hatten die Männer draußen noch? Eine halbe Stunde, bis es zu hell geworden war? Langsam schob er die Frau zur Seite.

»Nicht aufrichten! Kriechen Sie zwischen Bett und Wand! Und halten Sie den Kopf unten, was immer passiert!«

»Ja«, flüsterte sie.

Seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, trotzdem erkannte er sie nur schemenhaft. So leise sie sich auch bewegte, das Kratzgeräusch übertönte alles. »Psst!«

Wieder Stille. Er holte die Waffe aus dem Halfter, entsicherte, lud durch, das Schnappen dröhnte erschreckend laut. In seinen Ohren rauschte das Blut - und dann ein kaum vernehmbares Knacken. Als ob jemand auf einen verdorrten Ast getreten war, gar nicht weit entfernt.

Millimeterweise hob Rogge den Kopf, bis er über den unteren Holzrand der Verandatür schauen konnte. Am Horizont zeichnete sich ein dunkelgrauer Streifen ab. Ihm stockte der Atem. Vor diesem Hintergrund bewegte sich, wie aus dem Boden gezaubert, eine dunkle Gestalt, ein Mann, der im schrägen Winkel auf die Veranda zu schlich. Seine Silhouette veränderte sich, der Mann drehte den Kopf zur anderen Seite, Rogge folgte der Bewegung, eine zweite schwarze Figur näherte sich von rechts, bog ab, als wolle sie im Schutz der Hauswand neben die Verandatür gelangen. Wenn er diese Deckung erst einmal erreicht hatte - mehr aus Instinkt als Überlegung riss Rogge seine Waffe hoch und feuerte durch das Glas, einmal, die linke Figur schwenkte nach rechts, die rechte erstarrte, der Mann links hob den Arm in Rogges Richtung, Rogge glaubte zu ersticken. Ein Albtraum wurde wahr, an die Bewegung des jungen Rumänen erinnerte Rogge sich wie in einer grotesk überdehnten Zeitlupe, das durfte ... Er zielte und wusste dabei glasklar, dass er jetzt aus Panik handelte. Der Schuss peitschte in seinen Ohren, der Mann stockte, ließ den Arm sinken, fiel um wie eine schlaffe Stoffpuppe und dann bemerkte Rogge in den Augenwinkeln, dass die rechte Figur in langen Sätzen davonsprang.

Irgendwo im Motel regte sich etwas. Bei diesen dünnen Wänden musste jemand von den Schüssen aufgewacht sein ...

»Los, raus! Wir müssen weg!«

Erst jetzt registrierte Rogge, dass Charlotte Zinneck wimmerte.

»Los!«

Dann stand sie neben ihm, keuchend vor Angst, und er zerrte sie rücksichtslos auf die Veranda.

»Was ist - was war ...«

»Später, wir müssen weg, bevor der zweite Mann Hilfe geholt hat.«

Trotzdem nahm Rogge sich die Zeit, kurz bei dem umgefallenen Mann niederzuknien. In seiner Angst hatte er nur zu gut gezielt, den Griff nach der Halsschlagader brauchte er gar nicht. Den Toten kannte er nicht. Ein mittelgroßer Mann, Mitte dreißig, sportlich und muskulös. Haare kurz geschnitten, nach der Erscheinung kein Schläger. Wahrscheinlich maßgeschneiderter Anzug. Seidenkrawatte. Eine Rolex.

Hastig durchwühlte Rogge die Taschen. Goldenes Feuerzeug, silberner Kugelschreiber und ledergebundener Notizblock mit leeren Seiten, fast 6.000 DM in bar, aber keine Ausweispapiere. Beim Blick auf die Waffe hielt Rogge unwillkürlich die Luft an; dieses Modell hatte er schon einmal gesehen, Heckler & Koch mit hülsenloser Munition.

Jetzt wurde es von Minute zu Minute heller. Weit entfernt klappten mehrere Autotüren.

»Kommen Sie!«

Hand in Hand rannten sie Richtung See, sie greinte, schluchzte, wenn sie stolperte und er sie einfach weiterschleifte. Das Motel besaß einen eigenen Bootsanleger, von dort führte eine Holzbohlenbrücke zu einem Liegeplatz, sie mussten noch eine Stunde überstehen, dann war es hell ... Als Rogge sich einmal umdrehte, ahnte er vor dem dunkelgrauen Hintergrund mehrere schwarze Schatten, die auf das Motel zustürmten. Verdammt, war hier eine ganze Kompanie angetreten?

Die Stiche in der Seite brachten ihn bald um. Auch Charlotte Zinneck keuchte, japste nach Luft. Die Boote vor ihnen waren zu klein.

»Da rüber!«

Auf den Bohlen dröhnten ihre Schritte wie Silvesterböller. Jetzt nicht schlappmachen, ohne Überlegen entschied er sich: »Das große Boot!«

»Wo?«

An einer Stelle war die Plane über dem Cockpit nicht festgezurrt, wie hatte er das überhaupt in diesem Zwielicht sehen können? Sie hatte noch nichts begriffen, mit einer Hand hob Rogge die Plane an, beugte mit der anderen rücksichtslos ihren Kopf nach unten und stieß sie vorwärts: »Rein!«

Wie ein Sack fiel sie in die Vertiefung, Rogge folgte ihr, trat ihr auf den Arm, sie stöhnte laut auf, aber zu Entschuldigungen war jetzt keine Zeit, warum war diese verdammte Plane so sperrig, er kratzte sich die Fingerkuppen blutig, krallte und ruckte, endlich gab sie nach, glitt wieder in die alte Position. Hinter sich hörte er sie leise weinen.

Hoffentlich schwankte das Boot nicht - »Um Gottes willen, nicht bewegen!«

Der Rumpf kam zur Ruhe, jetzt konnte Rogge sich nur noch auf seine Ohren verlassen, aber die Stille war nicht weniger bedrohlich als vorhin das Knacken. Was würden die Männer tun? Sie schienen rücksichtslos und zu jedem Risiko bereit, aber wenn Rogge die Motelgäste mit den Schüssen aufgeweckt oder das Personal alarmiert hatte ...

Wie viel Zeit verstrichen war, vermochte er nicht zu schätzen, als er die leisen, verstohlenen Geräusche hörte. Quälend

langsam kamen sie näher, vorsichtige Schritte auf der Bohlenbrücke, sie hielten inne. Von der Brücke zweigten die Stege ab, wenn er die Schritte so genau hörte, konnten die Männer nicht weit entfernt sein. Gemurmel, die beiden sprachen miteinander, zu leise, um etwas zu verstehen. Dann trennten sie sich wohl, ein Schrittgeräusch entfernte sich, ein anderes kam näher, Rogge richtete die Pistole auf die Stelle über seinem Kopf. Wenn der Mann die Lücke in der Verzurrung entdeckt haben sollte ...

In der nervenfressenden Stille hörte es sich an, als trete der Unbekannte ihnen auf den Kopf, nein, er blieb nicht stehen, ging weiter den Steg entlang bis zum Ende. Kam zurück, etwas schneller, strich wieder an ihrem Boot vorbei, täuschte er sich jetzt? - Nein, die anderen Schritte ertönten von rechts. Wieder das unverständliche Gemurmel, dann entfernten sich die Schrittgeräusche. Entweder hatten sie es aufgegeben, weil sie nicht alle Boote durchsuchen konnten. Oder es wurde zu hell, sie mussten abziehen, bevor sie entdeckt wurden.