Extra Krimi Paket Sommer 2021

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XIII.



Brigitte schwieg so lange, dass Karin Tepper nervös nachfragte: »Bist du noch dran?«



»Sicher bin ich - Karin - ich glaub’s nicht ...«



»Ja, es ist lange her.«



»Lange? Eine Ewigkeit. Und so plötzlich - wie hast du mich überhaupt gefunden?«



»Über deine Eltern.«



»Wie gut, wenn die alten Leute nicht mehr so häufig umziehen ... Wo steckst du denn jetzt?«



»Im Hotel Merkur.«



»Das ist ja - hör mal, Karin, ich nehme mir den Nachmittag frei und zum Mittagessen treffen wir uns in der Stadt. 13 Uhr, einverstanden?«



Schon in der Schule hatte die praktische Brigitte immer alles organisiert, deshalb lachte Karin und sagte heiter: »Einverstanden. Und wo?«



»Vor dem alten Hauptbahnhof.«



»Wenn wir uns noch erkennen ...«



»Hach! Das wäre doch gelacht! Bis gleich, ich freue mich wahnsinnig.«



Zumindest Brigitte schien sich nicht geändert zu haben, immer noch spontan, vor Energie überschäumend und jederzeit bereit, ein Problem durch vernünftige Planung zu lösen. Vergnügt ging Karin in die Halle hinunter. Gestern Abend hatte sie plötzlich der Mut verlassen, mit Brigitte war sie nie so eng befreundet gewesen wie mit anderen Mädchen aus ihrer Klasse, aber dann war zu ihrem Erstaunen der Kontakt mit Brigitte nie abgerissen, während zwei enge Freundinnen im ersten Jahr nach dem Abitur gelegentlich noch schrieben oder anriefen, dann aber nichts mehr von sich hören ließen, auch auf Karins Briefe nicht mehr antworteten.



Nach dem Abendessen hatte Karin sich an die Bar gesetzt, etwas müde von dem reichlichen Essen und dem langen Gespräch mit Brigitte, ein klein wenig gegen einen Katzenjammer ankämpfend. Sie fürchtete sich vor dem leeren Hotelzimmer, sie wollte unter Menschen sein, ohne Wert auf Kontakte oder Gespräche oder gar Flirts zu legen. Einfach nur das Gefühl haben, dass es um sie herum lebendige Wesen gab.



Gegen neun Uhr setzte sich ein grauhaariger hagerer Mann mit einem langen zerfurchten Gesicht und einem energischen



Kinn neben sie, der die asiatische Bedienung anstarrte, als wollte er sie auffressen. Aus Langeweile hatte Karin ihn beobachtet. Nach dem ersten Bier schien er sich zu entspannen, er fischte ein völlig zerknülltes Zigarettenpäckchen aus einer Jackentasche und fluchte leise, als sein Feuerzeug nicht funktionierte. Dabei drehte er den Kopf und funkelte Karin so grimmig an, als sei sie an allem schuld und ganz besonders an seinem defekten Feuerzeug.



»Brauchen Sie Feuer?«, fragte Karin freundlich.



»Ich hätte nichts dagegen«, schnappte er und jetzt musste sie lachen.



»Ist was?«



»Nein, aber Sie scheinen sich zu wünschen, irgendeinen armen Menschen in der Luft zerreißen zu dürfen.«



»Durchschaut. Ich könnte vor Ungeduld brüllen.«



»Und warum tun Sie es nicht?«



»Hier? In der Bar?«



»Schlimmer als diese Dudelmusik wird es auch nicht klingen.«



Einen Moment lauschte er, dann grinste er unvermittelt breit: »In der Tat. Wenn ich jetzt Ihr Feuerzeug einen Moment haben dürfte ...«



Das zweite Bier schluckte er langsamer.



In der Tat

, du meine Güte, wann hatte sie diese Wendung zum letzten Mal gehört? Sie bestellte ihr drittes Glas und druckste ein wenig herum: »Was hat Sie denn so verbittert?«



Einen Moment überlegte er, bevor er die Achseln zuckte: »Muss ich darauf antworten? Die Wahrheit kann und darf ich Ihnen nicht sagen und belügen möchte ich Sie nicht.«



»Oh!«, staunte sie. »Sind Sie ein altmodischer Mensch?«



Daraufhin musterte er sie gründlich, aber nicht erzürnt, eher erheitert. »Das auch.«



»So was gibt’s also noch.«



»Wir sterben aus«, vertraute er ihr an. »Und wenn die Lücke bemerkt wird, die andere schnell schließen, murmelt einer was von

Wertewandel

 oder

schnelllebiger


Zeit



»Auch ein Nachruf! Was machen Sie denn beruflich?«



»Was schätzen Sie?«



»Pfarrer«, riet sie übermütig.



»Falsch.«



»Arzt.«



»Leider nein.«



»Dann weiß ich nicht - halt, Schriftsteller.«



»Auch nicht. Ich bin Kriminalbeamter.«



»Nein!«



»Doch. Ein richtiger Beamter und Bulle.«



»Mich laust der ... hm.« Vor Verlegenheit musste sie schnell trinken und jetzt amüsierte er sich über sie: »Und Sie? Was treiben Sie, um die täglichen Brötchen zu verdienen?«



»Im Augenblick gar nichts. Ich reise herum, langweile mich, besuche alte Schulfreundinnen und überlege, wie ich die Zeit totschlagen kann.«



»Geht das schon lange so?«



»Nein. Es wird auch nicht mehr lange dauern.«



»Na prima. Ich heiße übrigens Rogge, Jens Rogge.«



»Freut mich. Karin Tepper.«



Er zwinkerte ihr zu und sie griff wieder rasch nach ihrem Glas. Eigentlich ein ganz netter Kerl. Vor allem nicht aufdringlich. Aber in eine Bar passte er nicht, nein, ganz und gar nicht.



Ob ihrer Hellsichtigkeit musste sie kichern, denn er dozierte ernsthaft: »Eine Bar ist ein scheußlicher Ort. Man trinkt, ohne Durst zu haben, hängt herum, weil man das dumpfe Gefühl hat, fürs Bett sei es noch zu früh, und fragt sich die ganze Zeit, ob man nicht was Vernünftigeres tun könnte.«



»Sie sprechen mir aus der Seele«, versetzte sie schnell. Wie alt mochte er sein? Keine Ahnung, und wunderschön, dass es gar keine Rolle spielte. Ein Mann, mit dem man sich unterhalten konnte und der nicht im Traum daran dachte, auf den freien Hocker neben ihr zu rücken. Das Glas war schon wieder leer.



»Die haben hier ein tolles Getränk«, sagte der Mann nun.



»Wirklich? Wie heißt das?«



»Kaffee.«



»Igittigitt.«



»Doch, schmeckt fast noch besser als das, was Sie da eben getrunken haben. Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen?«



»Es ist mir eine Ehre.«



Er hatte sie vor dem Absturz gerettet, und als sie später würdevoll aufstand und sich verabschiedete, blieb er ganz ernst.



Als sie am nächsten Morgen die Treppe herunterkam, stockte sie. Rogge saß in der Halle, las Zeitung und hatte sie natürlich sofort gesehen.



»Guten Morgen, Frau Tepper. Wie geht's Ihnen?«



Sie spürte, wie ihr eine leichte Röte ins Gesicht stieg: »Danke, gut.«



»Fein, das freut mich.«



Sie holte tief Luft: »Ich muss mich noch bei Ihnen bedanken.«



»Wofür?«



»Wenn Sie mir den Kaffee nicht spendiert hätten ...«



»Ach, dann hätten Sie jetzt einen kleinen Brummschädel, aber die Welt wäre nicht untergegangen.«



»Wahrscheinlich«, erwiderte sie düster.



»Vielleicht sehen wir uns heute Abend wieder.«



Das musste sie Brigitte unbedingt erzählen. Ausgerechnet ein Kriminalpolizist!




Donnerstag, 28. September



Pelzer gab Rogge den Dienstausweis zurück und betrachtete ihn aus schmalen Augen: »Sie sind nicht von hier.«



Gegen Makler hatte Rogge etwas und am liebsten hätte er den Mittfünfziger grob angetönt, aber nach einer schnellen Musterung verzichtete er darauf; der Knabe sah nicht so aus, als ließe er sich einschüchtern.



»Nein. Wir suchen Hans Zinneck, er wird dringend als Zeuge benötigt. Als Entlastungszeuge, den die Verteidigung zu spät benannt hat, nun drängt die Zeit.«



»Und warum ist der Verteidiger nicht unterwegs?«



»Der denkt nicht dran, der erklärt dem Vorsitzenden lieber, die Kripo habe schlampig gegen seinen Mandanten ermittelt, nicht einmal die von der Verteidigung benannten Entlastungszeugen herbeigeschafft.«



»Der Trick ist nicht neu, aber immer wieder gut«, brummte Pelzer zustimmend. Auf seinem Schreibtisch hatte eine Hängemappe gelegen. Pelzer setzte eine Lesebrille auf und blätterte in der Akte.



»Tja, ich weiß nicht, ob es Ihnen hilft, Herr Rogge. Herr Zinneck war Anfang Mai vorigen Jahres hier. Ziemlich aufgelöst, seine Firma hatte ihn für sechs Monate nach Kassel versetzt und er suchte dringend etwas, eine Wohnung oder ein Haus, am liebsten möbliert.«



»Nur für sechs Monate?«;



»Ja, so hat er gesagt. Eigentlich sollte ich das Haus verkaufen, aber die Eigentümerin, eine alte Dame, hatte etwas unrealistische Preisvorstellungen, na schön, sie war mit sechs Monaten Vermietung einverstanden. Aber die Miete im Voraus.« Er schnaubte grimmig. »Am liebsten bar.«



»Das gibt’s noch?«



»In meinem Gewerbe gibt’s noch ganz andere Dinge, Herr Rogge. Zinneck ist losgezogen, um Geld zu holen, und dann hat er der alten Dame 24.000 Mark auf den Tisch gezählt.«



»Sie verabscheut wohl das Finanzamt?«



»Ich vermute, ja. Für mich war der Fall damit erst einmal abgeschlossen. Bis zum - Moment, November. Da hatte ich einen Kaufinteressenten an Land gezogen, und als ich einen Besichtigungstermin vereinbaren wollte, ging niemand mehr ans Telefon. Schließlich bin ich hingefahren. Das Haus stand leer und verlassen und die Nachbarn behaupteten, die Zinnecks seien schon Ende September fortgezogen.«



»Ohne Piep und Kommentar?«



»Ohne. Weg, einfach abgedampft.«



»Haben Sie die Polizei verständigt?«



»Nein. Warum auch? Der Eigentümerin und mir war kein Schaden entstanden. - Schön und gut, die Schlösser mussten ausgewechselt werden aber wenn jemand das Weite suchen will - ich beziehe kein Gehalt vom Einwohnermeldeamt.«



»Woher dieser Zinneck kam, wissen Sie nicht?«



»Nein. Er sagte damals, er wohne in München, auch möbliert, seine Firma neige zu sehr spontanen Entschlüssen.« Weil Rogge eine Grimasse schnitt, fügte der Makler trocken hinzu: »Und die Firma hat er auch nicht genannt.«

 



»Na dann vielen Dank, Herr Pelzer.«



Auf dem Einwohnermeldeamt füllte Rogge Vordrucke aus, gab als Grund an:

Geschiedener


Schwager

, besorgte sich Gebührenmarken und erfuhr, was er schon vermutet hatte. Hans und Charlotte Zinneck hatten sich nicht an- oder abgemeldet. Aus dem Nichts aufgetaucht, ins Nichts verschwunden. Bis sie allein als Inge Weber wieder die Bühne betrat.



Zumindest hatte Rogge ordentlich eingekauft.



Im Hotel ließ man ihn ziehen, nicht gerade begeistert, aber offenbar lief das Geschäft gut, man würde sein Zimmer noch vermieten können.



Frau Staatsanwältin gab ihm das Briefchen zurück und musterte ihn ironisch: »Der einsame Wolf zieht allein durch die feindliche Steppe?«



»Du solltest weniger Hesse und mehr Savidny lesen.«



»Dazu komme ich gar nicht. Aber ich hätte ein Viertelstündchen Zeit für eine interessante, spannende Geschichte aus dem prallen Leben.«



»Tut mir Leid, die Viertelstunde musst du meditieren.«



»Schon verstanden.« Sie war nicht beleidigt, eher besorgt: »Du bist in eine große Sache gestolpert?«



»Groß - ja. Aber nicht gestolpert, sondern geschickt worden, wie ich fürchte. Und das gefällt mir nicht.«



»Mir auch nicht«, erwiderte sie trocken, drehte ihn an den Schultern herum und schob ihn zur Tür: »Pass auf dich auf!«








XIV.



Der junge Mann zappelte vor Ungeduld und Reineke musste sich beherrschen, um ihn nicht anzubrüllen.



»Also, noch einmal der Reihe nach!«



»Nachmittags hat sie sich in Kassel, im Hotel Merkur, ein Zimmer genommen. Abends ist sie in die Hotelbar gegangen und dort mit einem Mann ins Gespräch gekommen.«



»Zufällig? Oder waren die beiden verabredet?«



»Glaube ich nicht. Sie hatte schon ganz nett getankt, als er sich auch an die Bar setzte. Allerdings haben sie eine ganze Zeit die Köpfe zusammengesteckt, deswegen haben wir uns für den Mann interessiert.«



»Ja, und?«



»Er heißt Rogge, Jens Rogge, und ist Kriminalhauptkommissar.«



Der junge Mann glühte vor Stolz und Reineke lachte ungläubig: »Rogge kenne ich. Das ist ja 'nen Ding!«



»Deswegen bin ich auch sofort zu Ihnen gekommen.«



Das hättest du auch telefonisch erledigen können, dachte Reineke zynisch, aber du wolltest dir deinen Orden persönlich abholen. Laut sagte er: »Sehr gut. Nur eine Frage noch - haben die beiden die Nacht zusammen verbracht?«



Wie ein angepikster Luftballon sackte der junge Kollege zusammen und flüsterte verschämt: »Das wissen wir leider nicht.«



»Schade. Aber trotzdem - gute Arbeit.«



Den ganzen Abend grübelte er, ob er Jockel Pertz im BND anrufen sollte. Das Fernsehprogramm ödete ihn an, seine Freundin schwang auf ihrem Frauenabend wahrscheinlich wilde Reden über die ins Stocken geratene Emanzipation des ausgebeuteten Geschlechts und er öffnete die zweite Flasche Wein, Solange Pertz es nicht für nötig befand, mit mehr Details überzukommen, brauchte er von dem Treffen Karin Tepper-Jens Rogge auch nichts zu erfahren. Dazu war noch immer Zeit.




Freitag, 29. September



Punkt acht Uhr bewunderte Rogge die Haustür, ein Prachtstück mit Schnitzereien und ausgemalten Flächen, alles sorgfältig restauriert und die erhabene Jahreszahl 1786 sogar vergoldet.



Allerdings bildete die Tür auch das einzige bewundernswerte Teil, das schiefe, schmalbrüstige Haus war heruntergekommen und musste dringend von Grund auf renoviert werden.



Rogge drückte auf den Klingelknopf und sah sich um, während er wartete; kein Mensch weit und breit, Stockau schien wie ausgestorben. Doch dann polterten drinnen Schritte, ein Schlüssel quietschte im Schloss und eine völlig verblüffte Gertrud starrte ihn an.



»Guten Morgen, Gertrud«, grüßte er.



»Herr Rogge!«, stotterte sie.



Wahrscheinlich hatte Rogge sie aus dem Bett geholt; sie trug riesige Puschen mit Max- und Moritz-Gesichtern und einen Morgenmantel.



»Tut mir Leid«, entschuldigte er sich zerknirscht. »Ich hab Sie geweckt, nicht wahr?«



»Ja, aber das macht nichts, der Wecker klingelt gleich.«



»Darf ich hereinkommen? Aber nur, wenn Sie allein sind.«



»Was? - Ja, sicher, natürlich. Kommen Sie.«



Die Treppe war steil und schmal und knarrte unter ihrem Gewicht, er hielt sich am Geländer fest und registrierte unbehaglich, dass es schwankte. In dem winzigen Flur konnte man sich kaum umdrehen, den größten Teil nahm eine Bank mit Blumentöpfen ein.



»Bitte!« Sie lächelte etwas verkrampft.



Das Wohnzimmer war klein und für seinen Geschmack etwas zu farbenfroh eingerichtet.



»Darf ich Ihnen - trinken Sie einen Kaffee?«



»Gerne, aber nur, wenn Sie ihn nicht extra für mich kochen.«



»Nein, nein, ich muss auch noch frühstücken.«



Zehn Minuten ließ sie ihn allein, er hörte sie in der Küche und im Bad rumoren, und als sie ein Tablett hereinbalancierte, hatte sie sich angezogen. Er sprang auf, um ihr zu helfen, doch sie wehrte mit der alten Lebhaftigkeit ab: »Also, ich glaub, das kann ich besser als Sie.«



Der Esstisch reichte gerade für zwei Personen. Seine Wohnung war ja auch kein Palast, aber in dieser Enge würde er keine Luft bekommen.



»Vielen Dank für Ihre Grüße«, sagte sie und goss die Tassen voll.



Grüße? - Ach, richtig, ja. »Wie geht’s Angi?«



»Gut. Sehr gut sogar.« Schwungvoll setzte sie sich und strahlte ihn an. »Sie hat Olli vor die Tür gesetzt.«



»Endlich.«



Sie beugte sich vor: »Als Wirt ist er ja nicht schlecht, aber als Ehemann - puh.«



Rogge musste sich zusammenreißen, um Gertrud nicht in den großzügigen Ausschnitt zu schielen.



»Und wie geht’s Michael?«, zwinkerte er und sie reckte halb würdevoll, halb stolz das Kinn: »Auch gut, danke.«



»Das freut mich.«



Der Kaffee war stark und aus Höflichkeit nahm er sich eine Scheibe Brot; gefrühstückt hatte er schon zu Hause. »Gertrud, was wollten Sie mir an dem Abend erzählen, als Michael kam?«



Einen Moment raufte sie verlegen in ihren Haaren, bevor sie trotzig murmelte: »Das meiste haben Sie ja selbst herausgefunden.«



»Ollis Hehlerei?«



»Das auch!« Sie schloss die Augen, um sich zu konzentrieren und die Geschichte zurechtzulegen.



Als sie nach der Schule im Bären anfing, war Martin schon fast vier Jahre alt gewesen.



Verständnislos starrte er sie an. Wer war Martin? - Richtig, Angis Sohn.



Olli hasste den Bankert oder Bastard, wie er ihn nannte, und der Junge ging ihm aus dem Weg. Mit Olli kam Gertrud einigermaßen klar, zwar hatte der Wirt prompt versucht, ihr unter den Rock zu greifen, aber sie hatte ihm eine Schnapsflasche an den Kopf geknallt und damit war ihr Verhältnis auf Dauer geregelt. Das war noch, bevor Martin überfahren worden war. Für Angi, die Wirtin, brach eine Welt zusammen, sie veränderte sich, wurde eine Zeit lang richtig komisch. Von Olli hatte sie immer wenig wissen wollen, nun bezog sie ein eigenes Schlafzimmer und er ging seiner eigenen Wege. Gertrud bemühte sich um Angi, weil sie die Chefin gut leiden mochte, und Angi schloss allmählich Freundschaft mit ihr. Deshalb beseitigte Gertrud auch alle Hinweise darauf, dass sich Angi mit einem Liebhaber im Gästeanbau vergnügte, warf der Freundin aber eines Tages vor, sie sei unvorsichtig, und wenn Olli dahinter käme, würde sie in Teufels Küche geraten. Daraufhin hatte ihr Angi eine lange Geschichte erzählt, ganz im Vertrauen, Martins Vater heiße Adalbert Fuhrmann ...



»Nein! Der Arzt?«



Ja, der. Monikas Chef. Und das Schlimme war - Angi war damals Fuhrmanns Patientin gewesen. Als sie merkte, dass sie schwanger war, wollte Fuhrmann sie zu einer Abtreibung überreden, aber das hatte Angi verweigert. Und scheiden lassen wollte er sich nicht, er hatte Angst vor einem Skandal, so hatte es Angi dargestellt. Enttäuscht trennte Angi sich von ihm, und als sich später Monikas Vater für sie interessierte - Gertrud machte Angi keine Vorwürfe.



»Hat Olli gewusst, wer Martins Vater war?«



Nein. Eines Abends hatte er Gertrud einzuwickeln versucht und mit zwei, dann drei Hundertern gewedelt: Angi hätte ihr doch bestimmt gestanden, wer der Vater des Bankerts wäre. Ziemlich wütend hatte Gertrud ihn abblitzen lassen und danach war er nie wieder auf das Thema zurückgekommen. Dass Olli mit anderen Frauen schlief, verhehlte er nicht, aber brüstete sich auch nicht mit seinen Eroberungen, schließlich hatte sie - Gertrud - den Eindruck gewonnen, dass er nur ein Dach über dem Kopf gesucht und die Frau Angi als lästiges Übel mit in Kauf genommen hatte. Aber sein Handwerk als Wirt verstand er, daran gab es keinen Zweifel, rechnen und feilschen konnte er, du meine Güte, da unterlagen die meisten Lieferanten. Allerdings ging Olli für seine Person sehr großzügig mit dem Geld um, Angi klagte mehr als einmal, dass Olli spiele und auf Pferde wette und sich mit merkwürdigen Freunden herumtreibe.



»Von seinen Frauengeschichten hat sie nichts geahnt?«



Doch, doch, Angi war zwar schweigsam, aber nicht dumm; solange Olli sich nicht in Angis Bett drängte und nach außen den Schein wahrte, durfte er herumbumsen, mit wem er wollte.



Ja, und dann hatten alle Gäste im Bären über diese Fernseh-Sendung geredet. In der gefragt wurde, wie die Frau heiße, die oben auf dem Parkplatz Feltenwiese gefunden worden war. Das führte zu einer Art Dorfversammlung an einem Samstag, Gertrud kam mit dem Bedienen nicht mehr nach, Angi half aus und ausgerechnet bei diesem Hochbetrieb war der verdammte Olli nach hinten verschwunden. Die Gäste riefen nach Bier, wütend war Gertrud in die Küche gelaufen, aber da war er nicht, und als sie nach hinten raste, zur Treppe in die Wohnung über dem Lokal, hörte sie Stimmen. Benno und Olli, sie stritten sich. Oben, vor der Wohnungstür, Bevor Gertrud rufen konnte, hatte sie gehört, wie Olli rumtobte: »Welchen Scheiß hast du denn da wieder angerichtet? Jetzt sind wir schon im Fernsehen.« Benno brüllte zurück: »Mit der Frau hab ich nichts zu tun, merk dir das, ich hab nur den Wagen genommen, und du passt besser auf und hältst die Klappe, denn in der Geschichte steckst du mit drin, vergiss das lieber nicht.« - »Willst du mir drohen?« - »Nee, aber denk lieber dran, was Angi tun wird, wenn ihr einer was von deinen Nebengeschäften erzählt.« »Das lass man meine Sorge sein, die Angi hab ich fest in der Tasche, kümmere du dich lieber um deine Andrea, damit die nicht hopsgenommen wird.« - »Lass Andrea aus dem Spiel, ich kümmere mich auch nicht um deine bekloppte Lene. Und vergiss nicht, der alte Vogt hat dir Angi und den Bären überlassen, damit du auf den Bankert aufpasst. Was ja wohl nicht geklappt hat - oder?«



»Halt’s Maul!«, hatte Olli losgeschrien und vor Wut war seine Stimme übergeschnappt.



»An dieser Stelle bin ich leise wieder weggeschlichen.«



Rogge nickte gespannt. »Wer ist diese Lene, Gertrud?«



»Das weiß ich nicht, Herr Rogge. Die einzige Lene, die ich kenne, ist die Marlene Fuhrmann.«



»Die Frau des Arztes?«



»Ja, aber was soll Olli mit der Arztfrau zu tun haben?« Sie schüttelte ratlos den Kopf.



Und dann kam ein Kommissar in den Bären. Sollte sie ihm erzählen, was sie da belauscht hatte? Olli in Schwierigkeiten bringen? Und mit ihm auch Angi? Dem Benno gönnte sie alles



Schlechte, aber Benno würde natürlich Olli mit reinreißen. Sie hatte gegrübelt und geknobelt, bis ihr die großartige Idee kam, Benno wegen der Vergewaltigung dranzukriegen. Und wegen seiner Zuhälterei. Also hatte sie bröckchenweise auf die Feltenwiese hingewiesen ... und auf Monika ...



Ihr Geständnis hatte sie sehr forsch begonnen und war unter Rogges nachdenklichem Blick immer leiser und langsamer geworden. Jetzt verstummte sie und starrte in ihre Tasse.



»Sie haben mich ganz nett an der Nase herumgeführt«, wies Rogge Gertrud endlich düster zurecht.



»Es tut mir Leid.«



Ohne Zorn betrachtet hielt sich der Schaden in Grenzen. Wenn Gertrud nach der Fernsehsendung zur Polizei gegangen wäre, hätte Grem sicherlich in seiner wohlbekannten Manier zugelangt, Olli und Benno mit Gertruds Aussage konfrontiert und wahrscheinlich nur erreicht, dass beide leugneten. Sinnlos, Gertrud Vorwürfe zu machen, sie hatte zum Schluss ja reden wollen und Rogge nur versetzt, weil Michael auftauchte.

 



»Was macht Ihr Michael eigentlich?«, fragte Rogge unvermittelt und Gertrud fuhr zusammen.



»Er ... er ... ist Kunsttischler.«



»Ach nein! Dann stammt diese schöne Haustür von ihm?«



Nein, Michael hatte sie nur renoviert. Michael wollte sich selbstständig machen, sie sparten auf seine eigene Werkstatt, und Gertrud hatte Olli nicht - verraten - weil - weil - also, Olli war ein Kotzbrocken, ein Schwein und auch ein Schinder, eine Bedienung für den Bären war einfach zu wenig, aber so musste sie nicht teilen, die Trinkgelder ...



»Ich verstehe«, murmelte Rogge. »Was wird denn jetzt aus dem Bären?«



»Ich weiß nicht. Olli ist weg, zu einem Cousin gezogen, und Angi hat eine Aushilfe eingestellt.« Ihre Nase krauste sich besorgt. »Aber der ist nicht gut.«



»Das Geschäft läuft also nicht mehr so?«



Sie schüttelte den Kopf und wagte wieder, Rogge anzuschauen.



»Haben Sie eine Ahnung, was mit Benno geschehen ist?«



»Nichts. Der fährt seinen Molkereiwagen wie eh und je.«



»Und Andrea?«



»Die will weg, aber sie hat nicht gesagt, wann und wohin.« Gertrud zuckte die Achseln, dieser Verlust schmerzte sie nicht.



Monika Ziegler und Jo Thelen würden sich zusammentun, wenn sie den Mut fand, offen mit ihm zu reden, und er die Kraft aufbrachte, sich mit dem Geschehenen abzufinden. Rogge hatte ihr sein Wort gegeben und wollte es halten, auch wenn das bedeutete, dass Benno in dieser Sache straffrei ausging. Um Gertrud musste er sich keine Sorgen machen und Olli gehörte zu jenen dicken, fetten Katzen, die immer auf die Füße fielen.



Rogge trank seinen Kaffee aus und zwinkerte ihr zu: »Na, vielen Dank, Gertrud. Alles Gute - und grüßen Sie Ihren Michael von mir.«



»Das tue ich.« Sie lachte unschlüssig, aber weil Rogge schon aufstand, verschluckte sie, was ihr auf der Zunge gelegen hatte.



Unten an der Treppe drehte Rogge sich doch noch einmal um. »Gertrud, Angi hat mehr als einen Liebhaber?«



Gertrud holte tief Luft: »Ja.«



»Hat im vorigen August, September ein Mann - na ja -mehrmals im Bären übernachtet?«



»Nein, nicht übernachtet. Aber mit der Chefin gebumst.«



Womit wahrscheinlich erklärt war, was Eberhard Fuhrmann neben dem Geld, um das er seinen Bruder erleichtert hatte, nach Stockau gezogen hatte; Monika musste es nicht erfahren, und darum wendete Rogge sich endgültig zum Gehen.



Wibbeke war nicht im Revier, fast die gesamte Mannschaft war wegen eines schweren Verkehrsunfalls ausgerückt, ein umgekippter Reisebus, wie der Wachhabende erklärte. Ab und zu dröhnten Rettungshubschrauber so tief über Herlingen, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstand.



»Sagen Sie Oberkommissar Wibbeke bitte, dass ich ihn sprechen möchte? In der Zwischenzeit ^ehe ich in die Lokalredaktion vom Stockerboten.«



»Alles klar.«



Die Lokalredaktion war in sechs winzigen Räumen untergebracht, alle Verbindungstüren standen weit offen, sonst wäre Rogge wegen klaustrophobischer Attacken sofort geflohen.



Ilse Matussek schmunzelte breit, als Rogge sie danach fragte: »Denkmalschutz, Herr Hauptkommissar. Das war einmal das alte Ständehaus, wir dürfen uns glücklich schätzen und geehrt fühlen, dass uns der Kreis den ganzen ersten Stock vermietet hat.«



Der Rest des Redaktionsteams war draußen, wegen des Busunglücks, sie hielt hier die Stellung. »Der morgige Aufmacher ist also gesichert.«



Ihr Zynismus gefiel Rogge nicht, aber er passte zu ihrem scharfen Gesicht.



»Eigentlich wollte ich mich nur nach einem tödlichen Unfall mit Fahrerflucht erkundigen.«



»Aha.« Sie mochte es nicht, wenn man sich auf Umwegen einer Frage annäherte.



»Ich kenne nur den Namen des Opfers. Martin Lohse. Ein Kind.«



»Moment mal.« So altertümlich die Redaktion untergebracht war, so modern war sie ausgerüstet.



»Hier haben wir es. Soll ich’s Ihnen ausdrucken?«



»Bitte, ja, das wäre sehr nett.«



Der Drucker summte nach kurzer Zeit los, mit drei Blättern in der Hand drehte Ilse Matussek sich schwungvoll wieder Rogge zu, die Bretter knarrten und Rogge fragte nervös, nachdem er die Artikel überflogen hatte: »Hat es eigentlich nie Gerüchte gegeben, wer der Fahrer war?«



»Oho!« Ihre Augenbrauen stiegen in die Höhe. »Rede ich mit einem Privatmann oder mit einem Polizeibeamten im Dienst?«



»Die Wahrheit liegt wie immer in der Mitte. Ich bin hier nicht zuständig.«



»Na wunderbar. Dann darf ich also Ihre Anfrage zu einem Artikel verwursten?«



»Wenn da drinstehen würde, dass es Hinweise auf die Identität des flüchtigen Fahrer gibt, die jetzt durch Zufall ans Licht gekommen sind - nichts dagegen.«



»Und mehr nicht?«



»Wie ich Sie einschätze, können Sie schon aus der Tatsache, dass ich vor Ihnen sitze, einen Aufmacher schreiben.« Absichtlich hatte Rogge es in seinem trockensten Ton vorgebracht, aber Ilse Matussek besaß ein dickes Fell und entschied selbst, wer sie beleidigte.



»Okay, kapiert, Sie wollen den ehrwürdigen Stockerboten missbrauchen und eine Mine legen.«



»Soll ich aus Prinzip widersprechen?«



»Nein.« Sie lachte kurz. »Sogar bis zu uns hat sich schon herumgesprochen, was mit dem Bärenwirt geschehen ist. Und dass Olli Lohse den Sohn seiner Frau nie leiden mochte, ist bekannt. Es gab sogar böse Gerüchte, dass er ihn selbst überfahren hat, aber natürlich haben wir uns gehütet, das zu schreiben. Verdächtigen Sie Olli?«



»Nein«, erwiderte Rogge bedächtig, »nicht Olli. Der ist viel zu gerissen. Aber Olli hat Freunde und Helfer.«



»Einen Namen wollen Sie mir nicht nennen? Zuflüstern? Unter dem dicksten Siegel größter Verschwiegenheit anvertrauen?«



»Nein. Aber vielleicht sollten Sie mich mit der kryptischen Bemerkung zitieren, dass ich nicht an einen Fahrer von auswärts glaube, der zufällig die Landstraße von Herlingen nach Stockau benutzt hat. Dass ich durch reinen Zufall herausgefunden habe, dass es Frauen gibt oder gegeben hat, die von Martin Lohses Existenz nicht begeistert waren.«



»Dieser Zufall hat sich im Zusammenhang mit den Ereignissen im Bären ergeben?«



Einen Minute prüfte Rogge ihre Miene aufmerksam. Sie konnte giftig, gallig und gehässig sein, aber gerade weil sie das so offen zu erkennen gab, entschloss er sich, ihrer Intelligenz und Korrektheit zu vertrauen.



»Ja«, brummte er deshalb und erhob sich vorsichtig. Trotzdem knarrte das Bodenbrett erschreckend laut. »Vielen Dank, Frau Matussek.«



»Ich würde mich freuen, wenn Sie wieder einmal hereinschauten. Ihre Furcht ist übrigens unbegründet. Mein Chef wiegt an die drei Zentner und das Haus steht immer noch.«



Vor der Zimmertür hielt Rogge unwillkürlich einen Moment inne, diese Wände und Decken bildeten doch kein Rechteck mehr, sondern schon eine Raute, und die Journalistin nutzte ihre Chance: »Sie haben doch nicht wegen Ollis Schiebereien im Bären gewohnt?«



Schmunzelnd drehte er sich um; zuckersüß himmelte sie ihn an und ließ den Bleistift über dem Stenoblock wippen. »Nein. Das war sozusagen ein Abfall-Ergebnis. Ich sollte die Identität der Frau feststellen, die im vorigen September auf dem Parkplatz Feltenwiese gestrandet ist.«



»Und? Hatten Sie Erfolg?«



»Natürlich.« Angesichts Rogges prahlerischem Ton schnaufte sie. »Sie heißt Charlotte.«



»Charlotte und wie weiter?« Ilse Matussek stenographierte ausgesprochen schnell.



»Das erzähle ich Ihnen bei meinem nächsten Besuch.« Vor ihrem Protest hob Rogge lachend beide Hände. »Die Geschichte geht nämlich noch weiter ... Nein, alles andere später.«



Wibbeke verbarg seinen Unmut nicht. Die Szenen, die sich bei dem verunglückten Bus abgespielt hatten, waren ihm an die Nieren gegangen und Rogges Eigenmächtigkeit strapazierte seine Geduld bis zum Äußersten. Nach einem flüchtigen Blick hatte er Rogge die Artikel unwirsch zurückgegeben.



»Alles bekannt.«



»Gertrud behauptet, Olli habe nie erfahren, wer Martins Vater war.«



»Gut möglich.«



»Es war Adalbert Fuh