Extra Krimi Paket Sommer 2021

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»Genau die. Also: vorigen September.«

Bei Rogges drohendem Ton rang das Männchen nach Luft: »Was hab - denken Sie etwa - damit hab ich doch nichts zu tun.«

»Wirklich nicht?«

»Nein, bestimmt nicht.«

»Das soll ich Ihnen glauben?«

Wibbeke fuhr grob dazwischen: »Der Kerl lügt doch, Herr Kollege.«

»Moment mal, ich lüge nicht, im September bin ich gar nicht - im September war ich im Urlaub. Mit meiner Frau. In der Eifel. Sie können sie fragen.« Vor Erregung begann er zu stottern und zu sabbern.

»Pff. Seine Frau. Die wird uns Märchen erzählen, dass sich die Balken biegen.«

»Nein, warum denn - sie weiß doch gar nichts von meinen - warum sollte sie - wir waren wirklich in der Eifel.« Jetzt jaulte Eckard vor Verzweiflung, schaute flehend von einem zum anderen.

Rogge drohte leise, sodass der Kleine erneut zusammenfuhr: »Es gibt Zeugen, Herr Eckard.«

»Die können mich doch gar nicht gesehen haben, ich war doch gar nicht da!«

»Wer denn sonst?«

»Das weiß ich doch - vielleicht dieser Hinkende. Oder dieser Kerl mit dem großen Mercedes.«

»Ach, jetzt ist es auf einmal ein Mercedes«, höhnte Rogge, noch wie betäubt von dem Wort Hinkender. Wer das gewesen war, konnte er sich gut vorstellen.

»Ja, ein S 500 Coupé, blau metallic.«

»Toll!«, brüllte Kili los. »Was Sie nicht alles im Dunkeln sehen. Und das Kennzeichen?«

»H-PE und drei Ziffern, aber die hab ich mir nicht gemerkt.« Unter Kilis gespielter Wut hatte Eckard sich regelrecht geduckt; Wibbeke hatte Mühe, ernst zu bleiben.

»Aber die Buchstaben, die hat er sich gemerkt. Für wie dumm halten Sie uns eigentlich?«

»Es sind doch die Anfangsbuchstaben von meinem Namen!«, schrie der Kleine in heller Verzweiflung.

»Seine Initialen!«, jaulte Kili auf und schien zusammenzubrechen. »Nein, ich halt’s nicht mehr aus.«

»Mach du mal weiter, Kili!«, befahl Rogge düster und winkte Wibbeke. »Wir gehen ein wenig vor die Tür. Und wenn er nicht reden.will ...«

Wibbeke nahm eine Zigarette und fluchte leise: »Den Hinkenden kennen Sie?«

»Höchstwahrscheinlich Benno Brockes. Und die kleine Hure ist Andrea Wirksen, ich hab sie bei ihrem Geschäft beobachtet.«

»Und Sie glauben, Benno oder Andrea haben etwas gesehen?«

»Ich weiß nicht, Herr Wibbeke. Irgendetwas ist da faul an der ganzen Geschichte. Es kann mit dieser Frau zu tun haben, aber vielleicht auch mit einer ganz anderen Sache ...«

»Benno und Andrea, das ist ein Pärchen ...«

»Ja, schon, aber was ist mit Ollis Hehlerei? Da läuft was unter der Decke, Gertrud scheint zu wissen, um was es sich handelt, heute Abend wollte sie noch mit mir reden.«

»Gertrud ist in Ordnung«, betonte Wibbeke langsam.

»Ich hoffe«, erwiderte Rogge bedrückt.

Hinter der Tür erhob sich Kilis Stimme zum Gebrüll eines gereizten Löwen. Wibbeke griente verächtlich.

»Ich überlasse Ihnen das Würstchen«, entschied Rogge. »Diebstahl, Veruntreuung, Unterschlagung, machen Sie mit ihm, was Sie wollen. Im Protokoll soll nur nicht auftauchen, dass ich mich für die Leute interessiere, die sich im vorigen September auf der Feltenwiese herumgetrieben haben.«

»Geht in Ordnung. Er hat einen festen Wohnsitz, ich muss ihn laufen lassen. Wie haben Sie Ihren Rat dazu gebracht, vier Leute zur Bewachung des Rastplatzes abzustellen?«

»Simon hat ein schlechtes Gewissen. Deshalb diese Aktion.« »Und Olli?«

»Ich habe schon angekündigt, dass ich morgen früh abreise. Können Sie so lange warten?«

»Kein Problem. Zwei meiner Leute passen vor seiner Garage auf, falls Eckard ihn sofort anruft.«

»Er ist um 23 Uhr wieder im Bären erschienen.«

»Dann hat er keine Zeit gehabt, die Ware irgendwo hinzubringen«, sagte Wibbeke zufrieden.

Rogge grunzte: »Lassen Sie mir Brockes? Den brauche ich für meine Zwecke.«

Wibbeke nickte und Rogge fragte spontan: »Wissen Sie, dass Ollis Frau einen Liebhaber hat?«

»Nein, aber es verwundert mich nicht.«

»Na fein, dann sind wir uns einig.«

»Einschließlich des Versprechens, mir irgendwann einmal eine lange Geschichte zu erzählen.« Wibbeke schmunzelte und drückte die Zigarette aus. »Mein Schwiegersohn baut Wein an. Ganz ordentlich für hiesige Breitengrade.«

»Ich sage nicht nein.«

Als sie den Raum wieder betraten, schaute Rogge auf das Tonbandgerät und Kili drückte unauffällig die Aufnahmetaste. »Also, Herr Eckard, das Ganze noch einmal von vorne ...«

In sehr manierlichem Tonfall stellte Kili seine Fragen nach den Diebstählen und der erleichterte Eckard wiederholte bereitwillig sein Geständnis. An einem bestimmten Punkt schüttelte Rogge leicht den Kopf, Kili stoppte das Band und gemeinsam nahmen sie den Kleinen noch einmal in die Zange. Aber es lohnte die Mühe nicht. Ja, er hatte einen großen, hinkenden Mann gesehen. Und eine Frau, die zu Männern ins Auto stieg. Und mehrmals diesen Mercedes mit dem Hannoveraner Kennzeichen, im vorigen Sommer. Nein, sonst nichts.

Rogge schaute auf die Uhr.

»Was geschieht jetzt mit mir?«

»Das werden Sie von Oberkommissar Wibbeke erfahren.« Damit stand er auf und Kili kannte seinen Herrn und Meister gut genug, einen prächtigen Abgang hinzulegen: »Aber glauben Sie ja nicht, Sie seien uns los.«

Auf dem Marktplatz schöpften sie beide tief Luft. Die Wolken hatten sich verzogen, den Mond verdeckte leider ein Dach zur Hälfte, aber die Sterne funkelten. Es war sehr still und sehr friedlich.

»Was machst du jetzt?«

»Ich muss in den Bären zurück, Wibbeke wartet bis zum Morgen. Vielleicht können wir Olli täuschen, dass er mich mit seinen Scherereien nicht in Verbindung bringt.«

»Und ich peste das Kraftfahrzeugbundesamt.«

»Okay, wir sehen uns dann morgen - nein, verdammt, heute schon.«

»Ich glaube, die Staatsanwaltschaft hat Sehnsucht nach dir.«

»Gute Nacht, Kili.«

Rogge fuhr sehr langsam, müde und zugleich aufgekratzt. Hannover - das waren drei Stunden Fahrtzeit. Zwei, wenn man auf einer leeren Autobahn Tiefflug üben konnte. Etwas lang und weit, nur um eine Bordsteinschwalbe aufzupicken und zu vögeln. Eine Frau, die teure Unterwäsche trug und mit Schmuck für mehrere tausend Mark behängt war, passte eher in ein 500er Coupé.

Der Bär lag im Dunkeln, irgendwo mussten Wibbekes Männer warten und ihn jetzt beobachten, aber Rogge sah niemanden. So leise wie möglich rangierte er seinen Wagen auf den reservierten Streifen neben dem Garagentor und ging rasch zum Gästehaus. Alle Türen waren verschlossen. In seinem Zimmer fand er einen Zettel, unter der Tür durchgeschoben: Tut mir Leid, dass ich Sie versetzen muss, aber Michael ist noch gekommen. Ihre Gertrud.

Michael war wichtiger, stimmte Rogge belustigt zu.

Freitag, 22. September

Lautes Gebrüll weckte Rogge, das Geräusch von Schritten, Männer schrien, Türen knallten, er fuhr hoch, sein Herz raste, und erst nachdem sich der Schwindel gelegt hatte, verstand er: Wibbekes Männer hatten zugegriffen und sich Olli geschnappt. Rogge zog sich langsam an, lauschte auf ein Martinshorn, das sich entfernte, und packte gemütlich. Je später er nach vorne kam, desto besser.

Die Polizeiaktion hatte den Fahrplan des Bären völlig durcheinander gebracht, die beiden Frühstückstische waren wohl schon gedeckt, aber kein Mensch ließ sich blicken.

Nach einer Viertelstunde machte Rogge sich auf die Suche, öffnete die Tür zu den Privaträumen und rief laut: »Hallo?«

Die Tür zur Küche ging auf und die schöne Wirtin starrte ihn an, als sehe sie Rogge zum ersten Mal.

»Guten Morgen«, grüßte Rogge munter. Offiziell wusste er ja von nichts.

Sie runzelte die Stirn, ihr Blick kam aus weiter Ferne zurück und dann haute es ihn fast um: Sie lächelte, nicht mühsam oder höflich, sondern herzlich, geradezu fröhlich. »Guten Morgen«, erwiderte sie.

»Entschuldigen Sie, ich wollte nicht stören ...«

»Nein, nein. Es tut mir Leid, ich habe mich verspätet, Ihr Kaffee kommt sofort.«

Sieh mal an, dachte er amüsiert. Frau Wirtin schien von der Tatsache, dass die Polizei ihren Mann einkassiert hatte, nicht gerade erschüttert. Eher erleichtert. Ob sie etwas von Ollis Hehlerei geahnt hatte? Oder nur auf einen solchen Vorfall gewartet hatte?

Als sie das Tablett absetzte, hatte sie sich jedenfalls wieder gefangen. Ein Monatsgehalt für das, was hinter deiner schönen Stirn vorgeht, schoss Rogge durch den Kopf.

Aber sie sagte nichts außer »guten Appetit«, und als sie zum Tresen ging, musterte Rogge sie etwas aufgebracht. Enge Samthosen und ein enges, dünnes weißes Oberteil, für sie ging das gewohnte Leben weiter. Er zahlte und sie behielt das verträumte Lächeln bei.

»Grüßen Sie bitte Gertrud von mir«, bat er, was sie versprach: »Gerne, Herr Rogge. Alles Gute.«

Um zwei betrat Rogge sein Büro, bereit, die unvermeidliche Papierkriegsschlacht zu bestehen. Drei Stunden saß er vor dem Computer und tippte seinen Bericht, tastete die Druckbefehle und ging ins Dienstzimmer, wo der Drucker leise summte. Seine Leute hatten ihn nicht zu stören gewagt oder nicht bemerkt, dass er wieder an Deck war. Kili belämmerte Hertha mit einer langen Erzählung, sie schmunzelte, eigentlich mochte sie den Filou ganz gut leiden, aber sie würde sich lieber die Zunge abbeißen, als das zuzugeben.

»Gibt’s schon Ergebnisse von der KTU?«, unterbrach Rogge den Kaffeeplausch.

»Nein. Lohse und Eckard kriegen wir dran, aber das ist ja wohl nicht das, was dich im Moment beschäftigt. Ach ja, hier sind die drei Anschriften. Und dann hat vorhin Wibbeke angerufen, das Labor wolle sich nicht festlegen. Was meint er damit?«

 

»Lies meinen Bericht - ach, und schick einen Durchschlag an Wibbeke. Oder bring ihn hin, ich verreise übers Wochenende.«

»Schon wieder?«, argwöhnte Kili, die Stirn wie ein Dackel gefaltet.

Rogge holte tief Luft: »Weißt du, Kili, in diesem Laden ersticke ich manchmal.«

Samstag, 23. September

Um sechs Uhr ordnete er sich auf der Autobahn ein und staunte. Tiefflug konnte er zwar nicht üben, das gab sein betagter Wagen nicht mehr her, aber bis Hannover brauchte er nur ziemlich genau drei Stunden, obwohl die Autobahn kurz vor Hildesheim doch voll geworden war. Er folgte den Hinweisschildern ins Zentrum und stieg auf gut Glück im erstbesten Hotel ab; der junge Mann beglückwünschte ihn gemessen zum Wochenend-Sonderpreis, Sauna und Gymnastikstunde inklusive, und organisierte im Handumdrehen einen Stadtplan.

Drei Männer hatten im vorigen September einen Mercedes S 500 Coupé mit dem Kennzeichen H-PE xxx gefahren. Eine Adresse lag direkt an der Eilenriede, eine Straße fand Rogge in Hainholz, die dritte in Linden.

In der Klenzestraße musste er sein Auto in eine winzige Parklücke rangieren und sich wie ein Aal heraus schlängeln. Das Haus Nummer 19 war ein Neubau, bei dem an nichts gespart worden war, weder an Glas, Kupfer noch an Holz. Jede Wette, das waren Eigentumswohnungen, und zwar in der Preislage, die sich normale Sterbliche nicht leisten konnten, erst recht keine Hauptkommissare. Ein Coupé entdeckte er nicht, das Tor zur Tiefgarage war geschlossen.

Arno Welder schien das Penthouse zu bewohnen, Rogge rückte die Krawatte zurecht, übte noch einmal kurz das beflissene Gesicht und klingelte.

Eine etwas nörglerische Frauenstimme meldete sich; »Ja?«

»Guten Morgen, mein Name ist Rogge, ich bin mit Herrn Welder verabredet.« Zehn Sekunden später summte der Türöffner.

Der Architekt musste selbst beim Aufzug überlegt haben, was er an zwar überflüssigem, aber teurem Schnickschnack einbauen konnte. Rogge schnaufte mäßig beeindruckt und verließ den Käfig mit, wie er hoffte, serviler Eile und dienstbeflissener Miene. In der Tür stand eine leicht bekleidete Schönheit, die ihn geringschätzig musterte; eine brennende Zigarette hing achtlos zwischen ihren Fingern, was Rogge als starken Raucher vergrätzte, und während er sich vor ihr verbeugte, hüllte ihn eine Wolke eines schweren, süßlichen Parfüms ein. Kunstblonde Gespielin kurz vor dem Verfallsdatum, taxierte Rogge.

»Sie wollen zu Arno?«, quengelte sie und er nickte demütig: »Bitte.«

»Er kommt gleich.« Damit trat sie zur Seite.

Über Geschmack ließ sich bekanntlich nicht streiten, ebenso wenig darüber, dass diese Sammlung von nicht zueinander passenden Scheußlichkeiten ein aasiges Geld gekostet haben musste. Welder besaß mit Sicherheit keinen Stil, aber ohne jeden Zweifel ein dickes Bankkonto.

»Wollen Sie was trinken?«, erkundigte die Frau sich und verschliff die einzelnen Wörter.

»Wenn Sie einen Kaffee für mich hätten ...«

»Kaffee gibt's nicht«, beschied sie ihn verächtlich und glitt in einen Sessel, wobei ein Gutteil ihrer ohnehin spärlichen Bekleidung zur Seite geschoben wurde; die Dame war, vom Gesicht abgesehen, ganz ansehnlich, aber sonst ein Museumsstück, wie Rogge solche Frauen bezeichnete: Schau hin, aber lass die Finger davon. Bewusst dekorativ goss sie sich ein Glas Champagner ein, er betrachtete sie ausdruckslos.

Nach drei unbehaglichen Minuten spazierte ein großer, kräftiger, auffällig gebräunter Mann ins Wohnzimmer. Er mochte Mitte dreißig sein, trug auf der Stirn das Schild Sportfanatiker und unter dem Kinn den Hinweis: Vorsicht, verträgt keinen Spaß.

Rogge war er auf den ersten Blick unsympathisch und deshalb erhob er sich besonders höflich: »Herr Welder?«

»Ja.« Kein Gruß, auch Welder liebte es kurz angebunden da, wo er glaubte, auf Höflichkeit verzichten zu dürfen, und sein Blick verriet, dass er Rogge längst als unbedeutend, außerdem als lästig klassifiziert hatte.

»Mein Name ist Rogge, von der Firma Terrana Immobilien.« Sein erwartungsvolles Lächeln löste bei Welder nur ein Stirnrunzeln aus.

»Ja?«, machte Welder noch einmal, schon hörbar unfreundlicher.

»Ich komme wegen der Hotelanlage in Sunderloch.« Dabei griff Rogge mit großer Gebärde nach seiner Aktenmappe, was den Zweck nicht verfehlte.

»Sunderloch?«

Rogge verlangsamte seine Bewegung und zauberte einen Ausdruck von besorgter Unsicherheit auf sein Gesicht. »Ja, Sie wollten doch mit uns sprechen ...«

»Ich mit Ihnen?« Welder bekam schmale Augen.

»Ja, doch. Wegen der Hotelanlage, der Beteiligung ...« Er war immer leiser geworden.

»Wie heißt Ihre Firma?«

»Terrana Immobilien.«

»Kenne ich nicht.« Welder presste die Lippen zusammen.

»Das verstehe ich nicht. Ich bin doch extra aus Stuttgart ... Arno Welder, Klenzestraße.«

»Ja, der bin ich, aber Ihre Klitsche kenne ich nicht, und nun machen Sie, dass Sie verschwinden.«

Gegen einen sauberen Rauswurf wehrte Rogge sich nicht, langte nach seiner Mappe und verbeugte sich tief verletzt, aber höflich vor ihr und ihm. Sie gluckste, als habe eine Fliege Männchen gemacht.

Auf der Straße grinste Rogge. Hätte er sich ordnungsgemäß bei seinen Hannoveraner Kollegen angekündigt, würde er denen jetzt den Tipp geben, sich um die Einkommensverhältnisse dieses Arno zu kümmern.

Goldkettchen, Goldamulett, Rolex, das Seidenhemd halb bis zum Bauchnabel aufgeknöpft. Und so viele Haare auf der gebräunten Brust, freilich nicht dicht genug, die Tätowierung zu bedecken. Zuhälter-Uniform.

Den durfte er streichen! Seine sexuellen Bedürfnisse konnte Arno jederzeit in nächster Umgebung stillen.

Die Ulanenstraße verriet weniger Geld als die Klenzestraße und die Nummer 35 gehörte zu einer Zeile von Stadthäusern, die offenbar der Zerstörung ringsherum entgangen waren, Wand an Wand errichtet, mit den Giebel-Schmalseiten zur Straße.

Eberhard Böttiger schien über die Störung alles andere als erfreut. Er war Ende vierzig, mittelgroß und schleppte einen winzigen Bauch mit sich herum, der ihn zwar gemütlich aussehen ließ, aber seiner Eitelkeit ein schlechtes Zeugnis ausstellte. Und eitel schien er zu sein, Rogge erkannte dieses schnelle, nervöse Blinzeln, mit dem Kurzsichtige, die keine Brille aufsetzen wollten, ihre Nöte verbargen.

»Terrana Immobilien? Das muss ein Irrtum sein.«

»Ich habe von der Firma Ihren Namen und Ihre Anschrift erhalten«, stotterte Rogge.

»Hotelanlage in Sunderloch - tut mir Leid, Herr Rogge, davon hab ich nie gehört, das muss eine Verwechslung sein.«

»Ja, wird wohl«, gab Rogge zu und alles Elend einer langen, vergeblichen Fahrt schwang in den drei Silben so vernehmbar mit, dass Böttiger ihn mitleidig musterte. Aber trotzdem nicht ins Haus bat!

Nach zwei Stunden wurde ein günstiger Parkplatz frei, Rogge holte sein Auto und richtete sich auf eine lange Wartezeit ein, die zum Glück schon eine Stunde später endete. Böttiger verließ das Haus, begleitet von einer jüngeren Frau in einem Umstandskleid, Hand in Hand, und Böttiger bemühte sich um sie, als führen sie direkt zur Entbindung ins Krankenhaus. Was, wie Rogge schätzte, bei normalem Verlauf noch gut zwei Monate Zeit hatte.

Böttiger verfrachtete die Schwangere sorgsam in einer viertürigen Familienkutsche. Danach stürzte er ins Haus und kehrte mit einem Kleinkind auf dem Arm zurück, das er ihr ins Auto reichte, um dann den Klappwagen und eine Kinderliege zu holen, die er auf der Rückbank festschnallte. Dann legte sie das Baby in die Liege, während er den Klappwagen im Kofferraum verstaute und das Haus verschloss.

Rogge schüttelte den Kopf: Wie kompliziert Ausflüge mit Kleinkindern waren, hatte er schon vergessen. Rogge strich Böttiger von seiner Liste.

Sein letzter Kandidat hieß ebenfalls Eberhard mit Vornamen, Eberhard Fuhrmann, Van-Haaren-Allee. Grau angelaufene vier-und fünfstöckige Mietshäuser, die ihren besten Jahren nachtrauerten und aus großen, altmodisch hohen Fenstern triste auf ihn herabblickten. Die Straßenränder bis auf den letzten Zentimeter zugeparkt, ein großer Teil der Bürgersteige zugestellt und auf den beiden verbleibenden Fahrspuren rollte pausenlos der Verkehr.

Zunehmend gereizt kurvte Rogge durch das Viertel, bis er einen Parkplatz fand, und musste sich anschließend zur Van-Haaren-Allee durchfragen.

Zehn Mietparteien, Fuhrmann schien im obersten Stockwerk zu wohnen. Fünfmal klingelte er vergeblich, bis Rogge auf gut Glück den Knopf daneben drückte. Jetzt schnarrte der Öffner.

Im Treppenhaus roch es ungelüftet und die praktische Ölfarbe, ein scheußliches Oliv, blätterte an einigen Stellen ab. Im letzten Stock hatte ein alter Mann seine Wohnungstür einen Spalt aufgezogen und schaute ihm griesgrämig entgegen; Rogge schoss durch den Kopf, dass der Mann neben seiner Klingel unten ein Schildchen anbringen sollte: Verbitte mir jede Störung.

»Guten Tag, Herr Vorwerk, entschuldigen Sie bitte die Störung, mein Name ist Rogge, Jens Rogge.«

»Guten Tag«, quäkte der Alte.

»Ich bin ein alter Bekannter von Herrn Fuhrmann und wollte ihn besuchen, aber er scheint nicht zu Hause zu sein.«

Seine Antwort überlegte sich Vorwerk gründlich. »Nein.« Der Name Fuhrmann hatte bei ihm keine freundlichen Assoziationen ausgelöst.

»Wissen Sie zufällig, wo er ist? Oder wann er zurückkommen wird?«

Unwillkürlich spitzte der Alte die Lippen, als wolle er ausspucken. Zwischen ihm und seinem Nachbarn mangelte es offenkundig an Harmonie.

»Wir haben uns vor vielen Jahren aus den Augen verloren, und weil ich nun mal zufällig in Hannover bin ...«, bat Rogge.

»Keine Ahnung, wo der sich rumtreibt.« Das hörte sich so kratzig und falsch an, als feile Opa Vorwerk Stahl.

»Ich hab’s auch schon in der Firma versucht, aber da nimmt niemand ab.«

»In der Firma?«

Vorsicht, dünnes Eis! »Ja«, bestätigte Rogge verwundert, »wir haben uns bei Phoenix kennen gelernt.«

Das war zu viel für eine zornige Altmännerseele. »Der hat mal fest in einer Firma gearbeitet?«

»Sicher, ja, warum nicht?«

»Kann ich mir gar nicht vorstellen.«

»Wieso? Was macht er denn heute?«

»Klinkenputzer ist er. Vertreter.«

»Eberhard?« Wenn dramatisches Theater gewünscht wurde, konnte Rogge mithalten und die Rolle des entsetzten Ungläubigen beherrschte er berufsbedingt besonders gut. »Eberhard hat seinen Job aufgegeben?«

»Ich weiß nur, dass er Vertreter ist. Dickes Auto, große Sprüche, Schulden bis obenhin, immer neue Mädchen nebenan und ewig Lärm, rücksichtslos bis zum Es-geht-nicht-Mehr.« Jetzt war es heraus, das hatte er mal loswerden müssen, und was er Eberhard nicht an den Kopf werfen konnte, durfte er wenigstens bei seinem mitschuldigen Freund und Bekannten abladen.

Rogge fasste es nicht: »Eberhard? So kenne ich ihn gar nicht.«

»Dann wird es höchste Zeit, dass Sie Ihren Freund richtig kennen lernen.«

Rogge schüttelte den Kopf: »Da muss was passiert sein.«

Vorwerk meckerte vorwurfsvoll. »Wetten, dass er wieder unterwegs ist, um sich ein neues Flittchen aufzugabeln?«

»Aufzugabeln? Wo?«

»Meistens in Onkel Toms Hütte.«

Ach nee, er spionierte seinem ungeliebten Nachbarn also doch nach, aber Rogge wollte den Alten nicht darauf hinweisen, dass er sich verraten hatte.

»Das ist ja alles sehr betrüblich«, trauerte er. »Tja, vielen Dank auch und entschuldigen Sie bitte die Störung.«

Der junge Mann an der Hotelrezeption betrachtete ihn voller Zweifel, der mit Abscheu gemischt war: »Onkel Toms Hütte?«

»Ja, kennen Sie das Lokal?«

»Doch, ja. In der Nähe vom Steintor, im Rotlichtviertel.«

Das Lokal lag im doppelten Sinne des Wortes an der Grenze und Rogge betrat es erst, nachdem er zwei Straßen weiter ein dunkelblaues Coupé mit der Buchstabenkombination H-PE entdeckt hatte. Eine Kneipe mit schlechter Luft und lauter Musik, billig mit Resopaltischen und unbequemen Metallrohrstühlen eingerichtet, an den Wänden ein Spielautomat neben dem anderen, der Holzboden übersät mit Kippen. Einen Moment fürchtete Rogge, Giftzwerg Vorwerk habe sich geirrt, aber dann fiel ihm auf, dass sich keiner nach ihm umdrehte. Das Publikum war ausgesprochen gemischt, alte Männer und junge Frauen, und der Mann hinter dem Tresen fletschte die Zähne so liebenswürdig wie eine ausgehungerte Speikobra.

 

»’nen Bier«, brummte Rogge und bemühte sich, nicht auf die fleckige Sitzfläche des Hockers zu schielen. Bisher ging der Fall gewaltig zu Lasten seiner Garderobe.

»Zum ersten Mal hier?«, vergewisserte sich der Wirt.

Rogge unterschätzte die Fähigkeit dieser Leute nicht, einen Bullen zehn Meilen gegen den Wind zu riechen. »Ja. Bin mit einem Hardy hier verabredet.«

Das sagte dem Knaben nichts, er zuckte die Achseln und Rogge drehte sich sofort weg, eine Antwort erwartete er nicht.

Nach einer halben Stunde leistete er dem wütenden Nachbarn in einem Punkt Abbitte. Onkel Toms Hütte war tatsächlich eine Anbandelkneipe, zwar auf dem untersten Niveau, aber auf hohen Touren. Ab und zu kamen zwei Frauen zusammen herein, aber nie ein Paar, und wer sich allein an einen Tisch setzte, ob Männlein oder Weiblein, wurde sehr bald angesprochen. Die meisten gingen nach einer halben Stunde wieder, und zwar in Begleitung.

Rogge überlegte, wie er weiter vorgehen sollte, aber da wurde ihm die Entscheidung abgenommen. Hinter ihm polterte es plötzlich bedrohlich, und als er herumfuhr, sah er, wie zwei Männer aufeinander einschlugen. Wie der Blitz schoss der Kerl hinter dem Tresen hervor, in der Hand einen gummibezogenen Knüppel, doch es lief nicht so ab, wie er sich das vorgestellt hatte. Den einen Kampfhahn erwischte er zwar sauber am Kinn, hatte aber eine Zehntelsekunde nicht aufgepasst und wurde deshalb voll von dem Stuhl getroffen, den der andere Streithahn mit mörderischer Wut schwang. Riesengebrüll, der Thekentyp ging zu Boden, riss einen Tisch mit um, andere Männer sprangen auf, Frauen kreischten, Glas splitterte und Rogge glitt eilig vom Hocker, kippte ihn einem Heranstürmenden, der bereits die Übersicht verloren hatte, in den Weg und schlängelte sich vorbei an dem Hektischen, der lang hinschlug, nach draußen. Drinnen tobte jetzt eine mittlere Völkerschlacht. Dass er seine Biere nicht bezahlt hatte, beschwerte Rogges Beamtengewissen nur mäßig.

Er schaute zwei Straßen weiter nach, das Coupé war verschwunden. Er machte sich auf die Suche nach einem Taxi.