Die Farbe der guten Geister

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Nachdenklich holte sich Tilda ein großes, frisches Handtuch aus dem Badezimmerschrank, hängte es über den Rand der Badewanne und stieg in die Dusche. Sie hatte das Bedürfnis, diesen schrecklichen Tag einfach von sich abzuspülen. Alle negativen Gedanken wollte sie von sich abwaschen und die Ängste vom MRT am Vormittag gleich mit. Das warme Wasser prickelte auf ihrer Haut und beruhigte ein wenig ihre angespannten Nerven. Minutenlang genoss sie einfach nur, unter dem warmen Wasserstrahl zu stehen und sich für einen Moment keine Sorgen machen zu müssen.

Das Telefon klingelte. Tilda lief mit dem Handtuch ins Wohnzimmer und nahm das Telefon von der Ladestation. Es war ihre Mutter Brigitte, die von ihren Gesundheits-Sorgen zum Glück noch so gut wie nichts wusste. Tilda hatte ihren Eltern kaum etwas über ihr mysteriöses Unwohlsein der letzten Monate erzählt. Das war nicht schwer gewesen. Sie hatten sich auch nicht so häufig gesehen in der letzten Zeit. Genauer gesagt hatte Tilda ihre merkwürdigen Symptome nur ein einziges Mal beiläufig erwähnt. Das war zu Ostern gewesen. Danach hatte sie sich vorgenommen, keine Energie mehr in dieses Thema zu schicken, damit es nicht wuchs und gedieh wie ein Pilz. Schließlich wollte sie das Problem loswerden und es nicht füttern. Ihre Eltern hielten ihre mysteriöse Krankheit sicher für längst auskuriert und das war gut so. Tilda kannte sie. Sie wusste, dass sie sich Sorgen machen würden und deshalb wollte sie sie auf gar keinen Fall beunruhigen. Und noch etwas war der Grund für ihr Schweigen. Sie wollte keine guten Ratschläge von ihnen hören, was sie nun am besten tun sollte. Und sie wollte außerdem nicht hören, welche Ärzte aus ihrem Freundeskreis wahrhafte Koryphäen waren, die sich des Problems jetzt am besten sofort annehmen sollten…..

Ganz davon abgesehen war Tilda bisher noch immer davon überzeugt, dass in ihrem Körper alles wieder von allein in Ordnung kommen würde. Seit ihrem Termin beim MRT am Vormittag war ihr Optimismus allerdings irgendwie kleiner geworden. Sie hatte ein ungutes Gefühl. Während sie versuchte, auf ihre Mutter am Telefon entspannt zu wirken, zog sie sich so gut es ging nebenbei ihre Jeans und das mausgraue T-Shirt mit einem bunten Blumenaufdruck an. Sie hatte nicht schon wieder Lust auf Karl Lagerfelds Spruch, wenn Ludwig nach Hause kam.

Während sich Tilda auf die nachtblaue Couch im Wohnzimmer fallen ließ und den Schilderungen ihrer Mutter zuhörte, die alles immer spannend wie einen Krimi zu erzählen wusste, war sie gar nicht recht bei der Sache. Da ihre Mam aber allerhand berichtete, machte es ihr Redeschwall nur ab und zu erforderlich, dass sie antworten musste. Parallel dazu formulierte ihr Gehirn währenddessen bereits einige Sätze, die sie ihr über ihren angeschlagenen Gesundheitszustand sagen wollte, die sie ihr inzwischen fairerweise sagen musste. Tilda wollte auf gar keinen Fall, dass sich ihre Eltern Sorgen machten. Falls sich jetzt tatsächlich herausstellen sollte, dass mit ihrer Gesundheit irgendetwas nicht stimmte, wollte sie nicht den Vorwurf zu hören bekommen, dass sie von nichts gewusst hätten und dass sie übergangen worden seien.

Tilda hatte immer ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern gehabt und das war ihr auch immer wichtig gewesen. Thomas und Brigitte Johannsen waren im letzten Jahr gemeinsam in den Ruhestand gewechselt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sie bei der Hamburger Sparkasse gearbeitet, jeder in einer anderen Filiale in der Stadt. Dank ihres beruflichen Engagements hatten sie sich in den letzten zwanzig Jahren recht weit nach oben gearbeitet. Wenn man berücksichtigte, dass sie vom einfachen Schalterdienst an der Basis im tiefsten Mecklenburg gestartet waren und zum Schluss ihre eigenen Abteilungen in Hamburg geleitet hatten, so war Tilda voller Respekt für sie. Aber das war es nicht allein. Sie waren ihr und ihrer Schwester Doro immer gute, verständnisvolle Eltern gewesen. Sie hatten ihr Bestes gegeben, auch wenn das für zwei Berufstätige nicht leicht gewesen war und Tilda und ihre Schwester sich manchmal allein gefühlt hatten. Im Stillen hatte Tilda manchmal ihre Freundinnen beneidet, deren Mütter fast alle Hausfrauen gewesen waren und die mittags mit dem Essen auf sie gewartet hatten, wenn sie aus der Schule nach Hause kamen. Doro und Tilda hatten niemanden gehabt, der mittags auf sie wartete, wenn die Schule zu Ende war. Aber sie hatten das Beste daraus gemacht. Sie hatten gemeinsam kochen gelernt und das hatte sich bald als überaus nützlich für ihr gesamtes weiteres Leben erwiesen. Je älter Tilda wurde, desto mehr wurde ihr klar, dass ihre Mutter mit ihrer Berufstätigkeit genau das Richtige getan hatte. Während die Mütter ihrer Freundinnen irgendwann nach den vielen Jahren als Hausfrau damit begannen, als geringfügig Beschäftigte im Supermarkt Regale aufzufüllen, und froh darüber waren, überhaupt wieder einen Job gefunden zu haben, wurde ihre Mutter Abteilungsleiterin bei der Sparkasse. Auch das war es, wofür sie ihren Eltern im Nachhinein dankbar war. Für Tilda hatte schon immer die Frage im Raum gestanden, was vom Elternsein blieb, wenn die Kinder erwachsen waren. Sie frage sich, ob es sich überhaupt lohnte, wegen dieser wenigen Jahre als Mutter kleiner Kinder die gesamte berufliche Perspektive auf´s Spiel zu setzen. Und das nur, um später und meist für den Rest des Berufslebens, darunter zu leiden. Tilda dachte in diesem Moment an ihre Schwester Dorothea, die trotz ihrer drei Kinder immer gearbeitet hatte und die es als selbstverständlich ansah, dass ihr Mann das auch unterstützte. Tilda wusste, dass ihre Eltern oft genug die Zähne zusammenbeißen mussten, um ihren Weg weiterzugehen. Das war sicher nicht leicht für sie gewesen. Es war auch ein Grund dafür, dass Tilda jetzt nichts ferner lag, als ihnen mit ihren Beschwerden die Ohren voll zu heulen. Von ihnen hatte sie gelernt, dass es wichtig war, sich nicht gehen zu lassen und Haltung zu bewahren.

Auch jetzt, mehr als ein Jahr nach ihrem Eintritt in den Ruhestand, wirkten Brigitte und Thomas Johannsen noch immer so, als würden sie mitten im Berufsleben stehen. Sie ließen keine Nachlässigkeiten in ihrem Leben zu, weder bei Ihrer Kleidung, noch bei allen anderen Lebensgewohnheiten. Sie standen immer noch um sechs Uhr morgens auf. So, als müssten sie zur Arbeit in die Bank. Disziplin und die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen waren wichtige Dinge, die ihre Eltern ihr und ihrer Schwester von Beginn an mit auf den Weg gegeben hatten. Tilda und Doro hatten das wie selbstverständlich in ihre Lebensphilosophien aufgenommen. Dass es nicht selbstverständlich war, und dass viele andere Menschen damit Schwierigkeiten hatten, hatte Tilda erst viel später bemerkt. Da war sie bereits erwachsen gewesen.

Jetzt, wo sie darüber nachdachte, war ihr alles wieder vollständig gegenwärtig. Vor zwanzig Jahren, als ihre ältere Schwester Dorothea und sie selbst noch klein waren, waren ihre Eltern wegen der besseren beruflichen Perspektive aus Klein Trebbow in Mecklenburg nach Hamburg umgezogen. Das war ein großer Einschnitt für alle gewesen. Draußen auf dem Lande hatten sie ein komplett anderes Leben geführt, als später in der Stadt. Tilda erinnerte sich noch genau an ihre ersten Lebensjahre in Mecklenburg voll von unendlicher Freiheit inmitten von Wiesen, Wäldern, Feldern und dem Ufer des Sees. Sie erinnerte sich an das alte, gemütliche Häuschen, dass ihre Mutter von Omi geerbt hatte und an dem ihr Vater Thomas unentwegt gebaut und repariert hatte. Es war nie so richtig fertig geworden. Damals, als sie von Klein Trebbow weggezogen waren, war die Terrasse immer noch im Rohbau gewesen und die Holzverschalung am Giebel war noch immer nicht gestrichen. Im Flur fehlte noch die Tapete, genauso wie das Waschbecken in der Gästetoilette. Und dennoch war dieses Haus für sie und ihre Schwester das schönste Häuschen auf der ganzen Welt gewesen. Tilda erinnerte sich auch an die scheinbar endlosen Sommer und an den kleinen Kindergarten mit den fünfundzwanzig Kindern, die in zwei Gruppen aufgeteilt waren. In jeder Gruppe waren Kinder unterschiedlichen Alters gewesen. Sie waren zwischen einigen Monaten und sechs Jahren alt. Und sie erinnerte sich an die beiden Erzieherinnen, die Frau Brathering und Fräulein Mielke hießen. Jeden einzelnen Tag, den sie im Gedächtnis behalten hatte, hatten die beiden Frauen versucht, zum schönsten ihrer gesamten Kindheit zu machen. Wenn es auf dieser Welt ein Kinderparadies gab, dann war es sicher der Kindergarten von Klein Trebbow gewesen.

Frau Brathering war im letzten Jahr im Alter von nur 48 Jahren an Eierstock-Krebs gestorben. Alles war ganz schnell gegangen. Als Tilda die Nachricht darüber erhielt war alles schon vorbei gewesen. Sie hatte sich wie vor den Kopf gestoßen gefühlt. War ihr doch, als hätte sie gerade gestern noch als kleines Mädchen auf ihrem Schoß gesessen. In Tildas Erinnerung war Frau Brathering immer noch die junge Frau mit der Schafwoll-Strickjacke und der randlosen Brille, die sie meist nach oben ins Haar geschoben hatte. Sie hatte immer so gesund ausgesehen. Sie hatte die roten Wangen einer Landfrau und sprudelte nur so über vor guter Laune. Sie trug ihren dicken, brauen Zopf meist zu einem Dutt zusammengesteckt, damit er sie nicht störte. In Tildas Erinnerung war sie alterslos geblieben und noch genauso jung wie damals, als sie sie zum letzten Mal gesehen hatte. Tilda fragte sich, warum es ihrer Erzieherin nicht gelungen war, den Krebs abzuschütteln. Sie war gestorben, obwohl sie, wie Tilda später erfuhr, alle üblichen Therapien ausgeschöpft hatte.

Doro war es gewesen, die ihr die schreckliche Nachricht überbracht hatte. Ihre Schwester hatte immer noch gute Kontakte nach Klein Trebbow. Vielleicht kam das daher, dass sie, die seit über zwölf Jahren schon mit Mann und Kindern in den USA lebte und so weit weg von Deutschland war, die alten Freundschaften aus der Kinderzeit viel intensiver pflegte. Ihre Schwester hatte, so lange sich Tilda erinnern konnte, in Klein Trebbow immer mit ihrer Kinderfreundin Sandra Kontakt gehalten. Sandra war zu Doros Außenposten in der deutschen Pampa geworden. Mit ihr mailte oder telefonierte sie jede Woche. Auch Sandra hatte inzwischen, so wie Doro selbst, einen Ehemann und drei Kinder. Tilda hatte ein Foto von ihr gesehen und war erstaunt darüber gewesen, dass Sandra ihrer Mutter inzwischen zum Verwechseln ähnlich sah. Sie schien glücklich mit dem örtlichen Klempner verheiratet zu sein und wie es sich gehörte war sie bodenständig im Dorf geblieben. Jedenfalls war Sandra immer bestens über alles informiert. Es mochte sein, dass nicht ganz so wohlmeinende Stimmen aus dem Dorf ihr hinter vorgehaltener Hand den Spitznamen „Die Dorfzeitung“ gegeben hatten. Aber mit der Dorfzeitung befreundet zu sein, garantierte Doro selbst über eine Entfernung von mehreren tausend Kilometern hinweg, immer präzise auf dem letzten Stand der Dinge zu sein, die sich in Klein Trebbow und Umgebung ereigneten.

 

Tilda fand es wirklich erstaunlich, wie präsent das alles noch in ihrer Erinnerung war. Jetzt, wo sie daran dachte, hätte sie sogar die Namen aller Kinder, mit denen sie gemeinsam in den Kindergarten gegangen war, aufzählen können. Allerdings hatte sie im Gegensatz zu ihrer Schwester nach dem Umzug recht schnell den Kontakt verloren. Vielleicht hatte das daran gelegen, dass sie in der großen Stadt schnell neue Freundinnen gefunden hatte und auch daran, dass sie in Klein Trebbow nicht so eine Busenfreundin zurückgelassen hatte wie ihre Schwester. Tilda hatte überhaupt keine Ahnung davon, was aus den meisten anderen von damals geworden war. Trotzdem war die Erinnerung an diesen wundervollen Kindergarten und das Landleben in den Jahren danach kaum verblasst. Wie oft hatten sie als Kinder zusammen mit den Erzieherinnen Nudeln mit Tomatensoße in der winzigen Küche des Kindergartens gekocht? Wie oft hatten sie Gemüse für einen Salat klein geschnitten, das sie aus den elterlichen Gärten mitgebracht hatten? Wie oft hatten sie mit Fräulein Mielke die Vogelhäuschen auf dem Kindergartengelände mit Vogelfutter gefüllt, aus Perlen Ketten und Untersetzer gefädelt, Bäumchen gepflanzt und sogar einmal eine verletzte Amsel aufgepäppelt? Wie oft hatten sie gemeinsam aus Ästen, Zweigen und Moos Hütten im nahen Wald gebaut oder hatten dort herumgetobt und verstecken gespielt? Tilda war sich sicher, dass dieser wunderbare Land-Kindergarten mit seinen Freiheiten der Beste war, das einem Kind zu Beginn seines Erdenlebens passieren konnte. Inzwischen war er geschlossen. Es gab nicht mehr genug Kinder im Dorf.

Jetzt wo Tilda erwachsen war, in Hamburg lebte und selbst an einer Schule arbeitete, kannte sie auch den Erlebnishorizont der Stadtkinder. Bestimmt hatten die meisten von ihnen keine Ahnung davon, wie man am schnellsten auf einen Baum klettern konnte oder wie man in eine Schlammpfütze hüpfen musste, damit alle anderen in der Nähe voll Schlamm waren, man selbst aber sauber blieb. Bestimmt hatten sie im Herbst noch nie Säcke voller Eicheln und Kastanien für die Tiere des Waldes gesammelt. Und sie hatten sie anschließend auch nicht mit einem Handwagen zum Forsthaus im Wald gezogen, um anschließend gemeinsam mit dem alten Förster am Lagerfeuer Stockbrot zu backen.

Sicher, es gab Kinos in der Stadt, Spielplätze, Hüpfburgen und Einkaufszentren und die Stadtkinder kannten sich oft besser mit ihren Smartphones aus. Sie konnten schon frühzeitig ihre Fahrkarten für Bus und Bahn allein am Automaten lösen. Es war wirklich schwierig, das eine mit dem anderen zu vergleichen. Es fühlte sich für Tilda an, als würde sie Äpfel mit Birnen vergleichen wollen. Welches der Stadtkinder hatte schon gelernt, Frösche zu fangen, ohne sie zu verletzen und welches konnte die Vögel des Waldes an ihrem Ruf unterscheiden? Die Stadtkinder konnten Automarken voneinander unterscheiden. Tilda war irgendwann in der Stadt klar geworden, dass die Wenigsten von diesen Kindern jemals diese Art unendlicher Freiheit kennenlernen würden, deren Magie sie und ihre Schwester unauslöschlich mit hinüber in ihr Erwachsenenleben genommen hatten. Auch Doro, mit der sie später gemeinsam mit den anderen Dorfkindern in die 15 Busminuten entfernte kleine Schule in Lankow ging, war nach dem Umzug wochenlang tief erschüttert gewesen. Hatte sie doch alle ihre Freundinnen in Klein Trebbow zurücklassen müssen. Tilda hatte diesen Umstand ebenfalls als ein wahrhaftiges Drama in Erinnerung mit Sturzbächen von Tränen und mit Fieber, Bauchschmerzen und Schüttelfrost. Damals war ihnen beiden noch nicht klar gewesen, dass es in ihrem Leben nie wieder so werden würde, wie es gewesen war. Und doch war die Hoffnung auf ein Leben auf dem Lande auch später irgendwo immer tief in ihnen geblieben.

Das Häuschen ihrer Großmutter hatten ihre Eltern damals verkaufen müssen. Sie hätten sich von Hamburg aus nicht darum kümmern können. Das zumindest hatten sie ihren Töchtern erklärt. Dafür waren sie in eine schicke Wohnung mit Balkon in der Stadt gezogen. Die Mädchen hatten ihre eigenen Zimmer bekommen mit rosa Tapeten und neue Fahrräder und irgendwann verblasste auch die Erinnerung an Klein Trebbow ein wenig. Der neue Alltag hatte das Heimweh weggewischt. Das Häuschen von Omi gab es inzwischen nicht mehr. Es war abgerissen worden. Der Käufer von damals hatte es zugrunde renoviert. Es war nicht mehr zu retten gewesen. Ihre Eltern Thomas und Brigitte hatten nie darüber gesprochen. Jetzt, wo sie im Ruhestand waren, begannen sie wieder nach einer neuen Bleibe in Klein Trebbow Ausschau zu halten. Sie wollten zurück nach Hause, zurück auf´s Land, woher sie gekommen waren. Anfangs fand Tilda diesen Gedanken verrückt, aber je länger sie darüber nachdachte, desto mehr konnte sie ihre Eltern inzwischen verstehen.

Letztendlich hatte es die ganze Familie irgendwann mehr oder weniger geschafft, das Heimweh abzustreifen. Die Kinder mussten der Tatsache ins Auge sehen, dass die berufliche Karriere ihren Eltern wichtiger war, als ihre Freiheiten auf dem Lande. Es wurde in der Folgezeit nicht mehr viel darüber gesprochen. Wohl auch, um nicht ständig alte Wunden aufzureißen. Die Stadt Hamburg war voller Leben und Aktivitäten und entschädigte sie auf ihre Art für den Verlust der alten Heimat. Diese Stadt war kein Ort, um unglücklich zu sein. Doro und Tilda hatten schnell neue Freunde gefunden. Und ihre Eltern hatten sich nach Kräften bemüht, mit ihnen die neue Umgebung zu erkunden. Tilda erinnerte sich noch an ihre gemeinsamen Stadt-Erkundungstouren an den Wochenenden, die sie eine lange Zeit über regelmäßig unternommen hatten. Meist endeten diese Touren dann im Kino, im Zoo oder in einem Fastfood-Restaurant. Die Stadt wurde in ihren Augen bald zum großen, neuen Abenteuer. Obwohl Tilda und ihre Schwester immer noch Heimweh hatten und nach wie vor still ihrer verlorenen Mecklenburger Freiheit hinterhertrauerten, konnten sie sich bald nicht mehr wirklich vorstellen, je wieder so weit draußen auf dem Land zu wohnen. Dort, wo nur viermal am Tag ein Bus in die nächste Stadt fuhr und wo man ohne Auto vollkommen aufgeschmissen war. Aus zwei kleinen Landeiern waren zwei Stadtkinder geworden. Doch die Sehnsucht nach der alten Heimat war nie ganz weggegangen.

Jetzt, nach über zwanzig Jahren, verkündete Tildas Mutter am Telefon erneut, wie sehr sie das Landleben vermissen würde. Genau genommen war es noch nicht einmal einen Monat her, dass ihre Eltern sie und Ludwig beim gemeinsamen Kaffeetrinken in ihrem Wohnzimmer mit der Tatsache überrascht hatten, dass sie wieder zurück nach Klein Trebbow zu wollen. „Alles hat seine Zeit“, hatte ihr Vater Thomas an diesem Nachmittag gesagt und dabei merkwürdig vor sich hingelächelt. „Der Lebensabschnitt Hamburg nähert sich für uns dem Ende. Es ist einfach so.“ Für Tilda kam die Idee ihrer Eltern vollkommen überraschend. Natürlich konnte sie die beiden irgendwie verstehen. Inzwischen sah es tatsächlich so aus, als würden sie dort ein kleines Häuschen in einer neuen Wohnsiedlung kaufen können. Das Haus war noch im Bau und alles war noch in der Schwebe. Sandra, Doros Außenposten in Klein Trebbow, hatte ganze Arbeit geleistet und alles, soweit möglich, schon in die Wege geleitet. Wahrscheinlich war es nicht mehr als eine Kleinigkeit für sie gewesen. Sie hatte ihrem Mann, dem Klempner Bodo mit den Segelohren Bescheid gesagt, der hatte seinem Chef Bescheid gesagt, der wiederum hatte dem Investor Bescheid gesagt und schon war der Deal perfekt gewesen. Tilda fand noch immer nicht, dass es eine gute Idee war, ihre Eltern im Alter so weit entfernt zu wissen. Es gab keinen Arzt im Dorf, keine Apotheke und keinen Supermarkt in der Nähe, noch nicht einmal im Nachbardorf.

Aber verstehen konnte sie ihre Eltern. Selbstverständlich waren es keine rationalen Gründe, die sie wieder nach Klein Trebbow zurückzogen. Jetzt waren die beiden noch fit und gesund und jetzt würde es auch noch kein Problem geben. Doch wie würde das in zehn Jahren aussehen? Wie würde das in zwanzig Jahren aussehen? Während Tilda dem Monolog ihrer Mutter am Telefon zuhörte, sah sie nachdenklich aus dem Fenster. Ein bisschen bedrohlich wirkte die Perspektive ihres Umzuges schon auf sie. Aber vielleicht kam alles doch noch ganz anders. Vielleicht würden es sich die beiden doch noch überlegen. Tilda schob die Gedanken weg. Fest stand, dass ihre Schwester jetzt in Arizona lebte und ihr später in dieser Hinsicht keine Unterstützung geben konnte. Sie würde die Entscheidung ihrer Eltern voraussichtlich irgendwann allein tragen müssen.

Es war nicht das erste Mal, dass sie ihre um sechs Jahre ältere Schwester im Stillen beneidete. Doro hatte vor beinahe dreizehn Jahren Sam geheiratet und war zu ihm gezogen. Sam war Amerikaner und jetzt lebte sie mit ihm und ihren drei gemeinsamen Kindern Gregory, Gesine und Gustav in Scottsdale/ Arizona. Dort waren Sam und sie inzwischen die Inhaber der gutgehenden Eisdiele „Dicken´s Creamery“ geworden, die sie vor gut zwei Jahren von Sams Eltern übernommen hatten. „Dicken´s Creamery“ war als regionaler Geheimtipp inzwischen in vielen Reiseführern aufgeführt, was den beiden einen enormen Gästezustrom und viel Arbeit bescherte. Besonders an den Wochenenden war es im Geschäft voll, wenn sich zu den Touristen auch noch die einheimischen Gäste hinzugesellten. Trotzdem gab es zwischen Tilda und ihrer Schwester ein heiliges Ritual, das darin bestand, jeden Samstagnachmittag zur gleichen Zeit miteinander zu telefonierten. Das war bei Doro durch die acht Stunden Zeitverschiebung dann vormittags, so dass sie noch zu Hause war und nicht im Geschäft stand. Außerdem hatten sie sich beide geschworen, sich so oft wie möglich zu besuchen. Solange Tilda noch studiert hatte, war das auch kein Problem gewesen, wenn sie von der finanziellen Seite einmal absah. Manchmal hatte sie sich das Geld für die Flüge bei ihren Eltern borgen müssen. In Sottsdale hatte ihre Schwester es ihr dann jedes Mal zurückgegeben, auch wenn sie das nie gewollt hatte.

Jetzt, seitdem Tilda als Lehrerin arbeitete und mit Ludwig zusammenwohnte, waren Aufenthalte bei Doro und ihrer Familie in Scottsdale für sie viel schwerer zu organisieren. In den letzten 5 Jahren hatte es deshalb irgendwie nie geklappt, zumal Doro und Sam wegen der Übernahme des Geschäftes auch nicht nach Deutschland gekommen waren. Tilda fand das schlimm. Sie fand es auch schlimm, dass sie in ihrer Beziehung mit Ludwig ihre eigenen Interessen nach und nach immer weniger verfolgt hatte. Und er war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, als dass ihm das aufgefallen wäre. Vielleicht war es ihm auch aufgefallen, aber er hatte nichts gesagt, weil es ihm so viel besser gefiel. Gerade neulich hatte Tilda sich wieder einmal vorgenommen, sich von einigen Gewohnheiten ihrer Beziehung, die sie lähmten, zu befreien. Ludwig konnte schließlich auch einen Teil der Aufgaben übernehmen, die erledigt werden mussten. Er übernahm fast nichts und Tilda vermutete, dass er sich sträuben würde oder wenigstens versuchen würde zu diskutieren, wenn sie ihm ihre Pläne darlegen würde. Trotzdem hatte sie sich fest vorgenommen, nicht einzuknicken. Merkwürdigerweise schien er der Auffassung zu sein, dass für sie als Frau die Liebe zur Hausarbeit automatisch angeboren war.

Ludwig hatte in dieser Hinsicht eine sehr konservative Erziehung genossen. Seine Mutter war immer Hausfrau gewesen, hatte nie gearbeitet und sich um alle häuslichen Belange allein gekümmert, während sein Vater als Pharmavertreter das Geld für die Familie verdiente und viel unterwegs war. Nun verlangte Ludwig von Tilda unausgesprochener Weise das gleiche, obwohl sie beruflich genauso eingespannt war wie er. Er begründete das damit, dass er keine Zeit dafür hätte, sich um den Haushalt zu kümmern. Das Thema hatte sich zwischen ihnen bereits zu einem ständigen Streitpunkt entwickelt. Auch für Reisen in die USA wollte sich Ludwig nicht die Zeit nehmen, weil ihn das Land, wie er immer behauptete, nicht interessieren würde. Das war jedoch nur die halbe Wahrheit. Der Hauptgrund war wohl vielmehr der, wie Tilda inzwischen herausgefunden hatte, dass er unter Flugangst litt und sich den Stress eines Transatlantik-Fluges nicht zutraute. Natürlich war Flugangst „unmännlich“ und deshalb hatte er sie auch niemals zugegeben. Er verbarg seine Flugangst in letzter Zeit durchaus erfolgreich damit, dass er es inzwischen schaffte, die Kurzstreckenflüge von Hamburg nach München zu seinen Eltern mit äußerlicher Gelassenheit zu ertragen. Aber Tilda hatte ihn durchschaut. Vermutlich würde er sich niemals auf einen Langstreckenflug einlassen.

 

Ludwigs Eltern in München schienen ohnehin argwöhnisch darüber Buch zu führen, wie häufig ihr geliebter Sohn bei ihnen erschien. Tilda hatte sich wirklich nach Kräften bemüht, ein gutes Verhältnis zu ihnen aufzubauen, aber es war ihr nicht so ganz geglückt. Die Beziehung zu seinen Eltern blieb angespannt. Tilda konnte die beiden einfach nicht gern haben, obwohl sie es wirklich versucht hatte. Nach den sechs Jahren, in denen sie nun schon mit Ludwig zusammen war, empfand sie seine Eltern nach wie vor als Diktatoren, als vollkommen selbstbezogene Menschen, denen sie es niemals recht machen konnte. Wahrscheinlich war es das elterliche Vorbild gewesen, das Ludwig so egoistisch werden ließ. Er hatte dieses Familienerbe mit in sein Leben genommen. In letzter Zeit hatte Tilda immer öfter versucht, sich vor den Besuchen in München zu drücken. Leider war ihr das nur mit mäßigem Erfolg gelungen.

Während Tilda das dachte, war ihre Mutter gerade wortreich dabei, sich über den Autounfall ihrer neuen Nachbarin auszulassen, die dabei zum Glück nicht verletzt worden war. Tilda kannte die neue Nachbarin ihrer Eltern überhaupt nicht. Jetzt sah sie ihre Zeit gekommen. Sie holte tief Luft und räusperte sich vielsagend. „Mam!“ unterbrach sie ihre Mutter. „Ich muss dir auch noch was Wichtiges sagen. Ich war heute beim MRT.“ Ihre Mutter unterbrach sie sofort mit entsetzter Stimme: „Aber Kind……“ Tilda ließ sie jedoch nicht zu Wort kommen und fuhr stattdessen fort: „Mir war doch oft so schlecht in letzter Zeit. Weißt Du noch? Ostern hab ich´s euch erzählt.“ Es folgte eine kleine Pause und ein Knacken am anderen Ende der Leitung. Darauf ließ sich Tildas Mutter Brigitte vorwurfsvoll vernehmen: „Aber Kind! Das ist doch alles schon wieder gut gewesen! Du hast doch gar nichts mehr davon gesagt!“ Tilda erwiderte einlenkend: „Ja, Mam. Es ist nur eine reine Vorsichtsmaßnahme, weil die Ärzte nichts finden konnten. Ich wollte es euch bloß sagen, nichts weiter. Sie werden bestimmt nichts finden. Das hoffe ich zumindest. Jetzt mach dir bitte keine Sorgen deshalb!“ Tilda wollte ihre Mutter auf keinen Fall beunruhigen, aber sie fühlte, dass sie sie wenigstens von den Tatsachen in Kenntnis setzen musste. Sie kannte ihre Mutter. In dieser Hinsicht war sie überaus empfindlich.

So ganz und gar traute Brigitte ihrer Tochter offenbar nicht über den Weg. Vom anderen Ende der Leitung her kam ein strenges: „Aber Kind! Wir haben doch so viele Ärzte im Freundeskreis. Da geh doch erst einmal dahin!“ Es folgte die Aufzählung diverser Namen und Titel. Es war eine wirklich erstaunliche Anzahl von Menschen, die ihrer Mutter zufolge als Diagnostiker und Therapeuten schier übermenschliche Fähigkeiten und einen Röntgenblick haben mussten. Tilda hörte ihr geduldig zu und ließ sie ausreden. Dann sagte sie entschlossen: „Mam, du weißt ja, ich bin nicht so der Arztgänger. Kommt von alleine, geht von alleine. Wie Omi schon immer sagte. Und für Tabletten bin ich auch nicht. Das weißt du doch!“ Tildas Mutter Brigitte schnaufte aufgebracht am anderen Ende der Leitung und erwiderte scharf: „Manchmal sollte man aber trotzdem Tabletten nehmen! Manchmal geht es einfach nicht anders.“ Tilda merkte, wie sehr sie sich persönlich angegriffen fühlte, weil sie schon seit Jahren ihre diversen Rheuma-Mittelchen in sich hineinschluckte. Tilda bemühte sich sofort um eine Entschärfung der Situation. Sie wusste, dass ihre Mutter in dieser Hinsicht sehr empfindlich war.

Nach dem Telefonat fühlte sie sich einerseits erleichtert, aber andererseits auch beunruhigt bei dem Gedanken daran, was möglicherweise in ihrem Befund stehen könnte. Das Gespräch mit ihrer Mutter hatte alles wieder aufgewühlt. Als kurze Zeit später Ludwig nach Hause kam, verdrängte sie die dunklen Gedanken. Das Wichtigste war letztendlich, dass sie bei dem Termin am nächsten Tag keine schlimmen Nachrichten bekam. Sofort erfasste sie erneute Unruhe, die sie wie eine große Welle packte und mit sich fort zu reißen drohte. Tilda fühlte sich ruhelos und nervös. Sie war mit ihren Gedanken weit weg und gar nicht bei der Sache. Als sie für Ludwig und sich wenig später einen Kaffee aufbrühen wollte, goss sie die Milch aus dem Tetrapack direkt über das Kaffeepulver, das in der Kaffeepresse eigentlich auf kochendes Wasser wartete. Ludwig saß derweil im Wohnzimmer und merkte davon nichts. Sie war heilfroh darüber. Er hätte sie vermutlich die nächsten zwei Jahre damit aufgezogen. Nein, von Ludwig konnte sie keine wirkliche Unterstützung erhoffen. Er konnte sich kaum in andere Menschen hineinversetzen. Das hatte Tilda auch früher schon festgestellt. Außerdem war er ohnehin schon immer der Meinung gewesen, dass man sich um „ungelegte Eier“ keine Sorgen machen sollte. Und solange es keinen schlimmen Befund gab, brauchte in seinen Augen also niemand die Pferde scheu zu machen, brauchte man seiner Ansicht nach noch nicht einmal einen Gedanken daran verschwenden.

Spät am Abend rief Conny an. Während Tilda mit ihr telefonierte, hatte sie erneut Schwierigkeiten, ihre Fassung zu wahren. Im Grunde genommen war nichts anderes passiert, als dass Conny sich schockiert darüber geäußert hatte, dass Tilda wegen der Übelkeitsgeschichte und wegen ihrer gelben Augen sofort durch´s MRT geschoben worden war. Für sie war das überhaupt kein gutes Zeichen, sondern vielmehr ein deutliches Alarmsignal. Nachdem Conny anschließend auch noch bekundet hatte, dass sie es nicht normal fand, wenn ein Patient nach einer derartigen Untersuchung bereits am nächsten Tag zur Auswertung einbestellt wurde, war es mit Tildas Fassung endgültig vorbei gewesen. Sofort war der Gedanke wieder da, dass die Ärzte im Krankenhaus womöglich schon auf den ersten Blick etwas Furchtbares bei ihr gesehen hatten. Sie war mit einem Male wieder erfüllt von schlimmen Befürchtungen, die sie doch schon im Griff zu haben glaubte. Entschlossen wischte sie sich die Tränen weg, die sie zu unterdrücken versuchte, während sie mit Conny sprach. Sie zitterte und versuchte vergeblich, sich zu beruhigen. Ihr Hals war wie zugeschnürt. Conny am anderen Ende der Leitung beschwor sie, sich sofort nach der Auswertung am nächsten Tag bei ihr zu melden. Ihre Stimme klang außerordentlich besorgt. So hatte Tilda ihre Freundin noch nie gehört.

Tilda musste anschließend hilflos zur Kenntnis nehmen, wie sie immer ängstlicher wurde. Je länger sie mit der aufgeregten Conny sprach, desto mehr kam Panik in ihr auf. Unter einem fadenscheinigen Vorwand beendete sie schließlich das Gespräch. Stumm legte sie das Telefon zur Seite und setzte sich mit leerem Blick auf ihr Bett im Schlafzimmer, um sich einen Moment lang zu sammeln. Im Badezimmer duschte Ludwig. Sie konnte das Wasser leise in der Wand rauschen hören. Ihr blieb nicht lange Zeit, um zu grübeln. Auf keinen Fall wollte sie, dass er sah, dass sie geweint hatte. Wegen ungelegten Eiern weinte man nicht. Sie kannte seine Meinung. Es war wirklich zum Haare-Raufen. Je mehr Tilda sich darum bemühte, sich zu beruhigen, desto weniger wollte es ihr gelingen.

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