Die Besprecherin

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Mit der rechten Hand wischte Anneke jetzt flüchtig über die weiß bereifte Holzbank in der Nähe der Gemüsebeete und setzte sich vorsichtig darauf. Eine Böe griff erneut nach ihrem Haar, das zum Teil unter der Kapuze hervorgeschaute. Starr hielt sie dennoch ihren Blick auf das Wasser gerichtet. Der trübe Himmel hing tief und so hatte auch das Wasser darunter eine dunkle, undefinierbare Farbe. Anneke saß eine Weile ganz still und fühlte sich wie aus der Zeit gefallen. Um sie herum war einfach nur Frieden. Sie hörte dem Rauschen des Windes in den Bäumen zu und lauschte dem Kreischen der Möwen. Es war bitterkalt. Erst jetzt spürte sie, dass sie fror. Sie schob die Hände tiefer in die Taschen ihrer Jacke. Eine Weile saß sie noch so da, zunehmend angespannt und im Stillen immer darauf gefasst, plötzlich die Stimme ihrer Großmutter hinter sich zu hören, die ihren Namen rief. Doch nichts geschah. Sie würde die Stimme ihrer Großmutter nie wieder hören. So schwer es Anneke auch fiel, so sehr sie sich innerlich auch dagegen sträubte, sie würde sich mit dieser Tatsache abfinden müssen. Ihr war klar, dass sie die Unabänderlichkeit des Todes in Wahrheit noch immer nicht begriffen hatte. Sie hatte sie nur verdrängt. Später, als dann ein Auto langsam auf der Dorfstraße vor dem Haus vorbeifuhr, erschrak sie regelrecht. Das Geräusch riss sie aus ihrer Erstarrung. Langsam erhob sie sich. Sie konnte unmöglich noch länger in der Kälte sitzen bleiben. Obwohl es nicht geschneit hatte, waren die Temperaturen doch sehr frostig. Auf der Regentonne ganz in ihrer Nähe sah sie eine dünne Eisschicht glitzern. Das erinnerte sie daran, dass ihr Großvater ihr schon in frühen Tagen beigebracht hatte, dass Regentonnen im Winter leer sein mussten. Leer, damit sie das Eis nicht auseinandertrieb, sie nicht zerstörte. Entschlossen stemmte sich Anneke mit aller Kraft gegen die mit Wasser gefüllte Tonne, die aber kein Stück zur Seite wich und erst recht keine Anstalten machte, umzufallen. Sie versuchte es noch ein weiteres Mal und scheiterte erneut. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als später Willi um Hilfe zu bitten. Der war trotz seines Alters noch gut bei Kräften und würde ihr sicher helfen können. Langsam ging sie die wenigen Schritte auf das Haus zu. Der Rasen war voller Raureif. Sie nahm es wie nebenbei wahr, während sie aus ihrer Jackentasche das Schlüsselbund hervorzog. Ein beklemmendes Gefühl überkam sie mit einem Male. Sie fühlte sich wie ein Eindringling, während sie den Schlüssel im Schloss drehte und dann das Innere des Hauses betrat. Dort schien alles unverändert zu sein. Links, an der Garderobe im Flur hing noch Großmutters Übergangsjacke, daneben ihr dunkelblauer Anorak und ein rotkarierter Stockschirm mit einem dunkelbraunen Holzgriff. Auf der Ablage darüber befand sich Großmutters hellgraue Strickmütze aus Schafwolle, die sie schon so viele Jahre besessen hatte. Auf dem Garderobenschränkchen daneben stand eine kleine Holzschale. In ihr lagen ein einzelner Schlüssel, eine Schachtel Streichhölzer, ein Gummiring, ein Kassenzettel aus dem Supermarkt und ein ungeöffnetes Päckchen Papiertaschentücher. Das war alles. Anneke schloss die Tür leise hinter sich. Es war kühl im Haus und es roch ein wenig dumpf. Als ihre Großmutter noch lebte, war der Geruch im Haus immer ein anderer gewesen. Meist hatte es nach Lavendel geduftet, den sie zu kleinen Sträußen gebunden auf dem Dachboden trocknete und manchmal auch nach ihrer Rheumasalbe. Anneke hatte den Geruch noch immer in der Nase. Es war eine Mischung aus Menthol und mildem Desinfektionsmittel. Sie hatte ihn trotzdem gemocht. Durch die geöffneten Türen zu den anderen Räumen drang ein wenig Licht in den Flur herein. Trotzdem war es nur dämmerig. Anneke durchquerte ihn und ging zuerst ins Wohnzimmer. Dort war alles so, als wäre noch jemand zu Hause. Sogar ein leeres Wasserglas auf einem Untersetzer aus Porzellan stand noch auf dem hölzernen Wohnzimmertisch. Nur die große Wanduhr aus Holz neben dem großen Bücherschrank mit den Glastüren, der nur etwa zur Hälfte gefüllt war, tickte nicht mehr. Sie war stehengeblieben. Anneke wusste, dass ihre Großeltern sie von Bennos Eltern zur Hochzeit geschenkt bekommen hatten. Seitdem sie auf der Welt war kannte sie diese Uhr, die pünktlich zu jeder Stunde einen oder mehrere melodische Gongschläge von sich gegeben hatte. Jetzt schwieg sie, weil sie niemand mehr aufgezogen hatte. Auf der gemütlichen, erdfarbenen Couch lag eine sorgsam zusammengelegte Wolldecke. Sofakissen in verschiedenen Farben machten einen einladenden Eindruck. Anneke kannte sie alle. Einige davon hatte sie ihrer Großmutter selbst geschenkt. Natürlich gab es darunter auch ein Kissen mit Stickerei. Es war roter Klatschmohn, der dort mit winzigen Kreuzstichen aufgestickt war. Vermutlich liebten alle alten Damen Kissen mit Kreuzstickerei. Ein zweites, ähnlich besticktes Kissen entdeckte sie kurz darauf in dem großen Sessel schräg gegenüber der Couch. Ansonsten gab es im Raum noch den hölzernen Couchtisch, der dieselbe Farbe hatte wie die Wanduhr, der Bücherschrank und das Sideboard, das an der gegenüberliegenden Wand stand. Darauf befanden sich einige Orchideen in weißen Keramiktöpfen, die ihre Blüten abgeworfen hatten. Seitlich an der Wand stand der Kachelofen. Er hatte eine dunkelgrüne, glänzende Oberfläche und mochte wohl an die fünfzig Jahre alt sein. Großmutter hatte ihn immer respektvoll und sorgsam behandelt. Oft hatte sie gesagt: „Ein guter funktionierender Kachelofen wie dieser hier, das ist ein Schatz. Man muss ihn hüten. So einen guten Ofen bekommen wir nicht wieder, Annchen. Merk dir das!“



Zögernd legte Anneke jetzt ihre Hand auf die Kacheln. Sie waren eiskalt. Um sie herum war es totenstill. Beklommen schaute sie durch das Fenster hinaus in den Garten und weiter nach hinten auf den trüben Himmel über dem Wasser, wo die Wellen immer noch vom Wind getrieben wurden. Es war beinahe derselbe Ausschnitt von der Welt, den sie bereits draußen von der Bank aus betrachtet hatte. Der zweite Kachelofen befand sich im Schlafzimmer gleich nebenan. Er war sandfarben und etwas kleiner. Großmutter hatte ihn nur an wirklich kalten Tagen geheizt. Ansonsten hatte es ihr genügt, wenn die Tür zum Schlafzimmer tagsüber offen geblieben war. Als Anneke noch sehr klein gewesen war, hatte ihr das, die als Stadtkind in einer mit Fernwärme beheizten Wohnung aufwuchs, immer zu schaffen gemacht. Jeden Morgen war es bitterkalt im Haus gewesen. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie ihre Großmutter ihr dann immer Wollsocken angezogen und schon am Abend zuvor eine zusätzliche Decke über ihr ausgebreitet hatte. Später, als sie dann sechs oder sieben Jahre alt war, hatte sie die kalten Temperaturen besser ertragen. Jetzt stand kein Kinderbett mehr im Schlafzimmer. Es gab nur noch ein Doppelbett aus hellem Holz mit einem dazu passenden, großen Kleiderschrank. Oben auf dem Schrank lagen zwei in die Jahre gekommene Koffer aus braunem Leder. Das große Fenster des Schlafzimmers gab den Blick auf den Wald frei. Anneke ging weiter. Auch in der Küche fand sie alles so vor, als wäre ihre Großmutter nur einmal hinausgegangen. Lediglich der Kühlschrank war ausgeräumt und stand offen. Der Stecker an einem weißen Kabel lag daneben auf dem gefliesten Fußboden. Anneke steckte ihn in die Steckdose und schloss die Tür. Auf der Arbeitsplatte neben der Spüle standen verschiedene Medikamente. Zögernd ergriff Anneke sie und beförderte sie dann doch entschlossen in den Mülleimer. Mit einem merkwürdigen Gefühl von Leere in sich setzte sie sich an den Küchentisch, an dem wie immer vier Stühle standen. Nachdenklich betrachtete sie die moderne Einbauküche. Ihre Großmutter hatte sie sich erst vor einigen Jahren selbst gekauft, nachdem sich ihre Tochter Giesela mehrmals missbilligend über ihr unmodernes Küchenmobiliar geäußert hatte. Die alten Möbel stammten noch aus den sechziger Jahren. Nun stand anstelle der alten Schränke eine schicke Einbauküche mit heller Holzfront und durchgehender Arbeitsplatte. Auch die Spüle war integriert. Die hatte sich vorher unpraktischerweise an der gegenüberliegenden Wand des Raumes befunden. Allein die alte Küchenlampe hing noch an ihrem Platz. Sie hatte einen Schirm aus lindgrünem Milchglas und wirkte in dieser modernen Umgebung seltsam verloren. Wahrscheinlich hatte sich ihre Großmutter nicht auch noch von ihr trennen wollen, nachdem sie schon nicht ganz freiwillig ihre vertrauten Küchenmöbel geopfert hatte. Anneke hob vorsichtig den Hebel der Mischbatterie an der Spüle hoch. Sofort ergoss sich ein Schwall Wasser in das Becken aus Edelstahl. Anschließend tippte sie vorsichtig auf den Lichtschalter unterhalb der Hängeschränke. Die Beleuchtung flammte sofort auf. Alles schien zu funktionieren. Langsam ging sie zum Fenster und sah hinaus. Von hier aus konnte sie hinüber zum Haus von Martha und Willi sehen, das gegenüber auf der anderen Seite der Straße stand. Im Gegensatz zu dem Backsteinbau ihrer Großmutter mit dem Dach aus Reet hatte das Haus von Martha und Willi eine weiß gestrichene Fassade und ein Ziegeldach aus dunkelroten Steinen. Es war erst in den siebziger Jahren erbaut worden. Damals waren Martha und Willi mit ihren beiden halbwüchsigen Kindern aus einer Neubauwohnung in der Stadt hierher aufs Land gezogen. Was Anneke sogar aus dieser Entfernung auffiel war der selbst jetzt im Winter schöne, mit viel Liebe zum Detail angelegte Garten, den eine immergrüne, sorgsam gestutzte Hecke zur Straße hin begrenzte. Die vielen Rosen waren zum Schutz vor der winterlichen Kälte in Vlies eingehüllt, das aus dieser Entfernung an Packpapier erinnerte. Gerade sah sie, wie Willi schnellen Schrittes durch den Garten hinter seinem Haus ging. Er schob das Garagentor mit einer schwungvollen Armbewegung in die Höhe und fuhr langsam das Auto heraus. Anneke bemerkte, wie er neugierig herübersah. Sie winkte ihm zu, aber er reagierte nicht darauf. Es war offensichtlich, dass er sie hinter der Fensterscheibe nicht erkennen konnte. Unwillkürlich musste sie lächeln. Er würde sie schon nicht für einen Einbrecher halten, denn er kannte schließlich ihr Auto. Sie hatte ihren alten Kombi schon seit über zehn Jahren und würde ihn, schon allein aus finanziellen Gründen, wohl auch noch eine ganze Weile behalten müssen. Anneke hatte sowieso vor, zu Martha und Willi hinüber zu gehen. Sicher warteten sie schon auf sie. Die Stille um sie herum hatte etwas Bedrückendes. Im Haus war nicht das leiseste Geräusch zu hören. Früher hätte Anneke das vermutlich noch nicht einmal bemerkt. Jetzt war es für sie ein Zeichen mehr dafür, wie empfindlich sie inzwischen geworden war. Zögernd ging sie zurück in den Flur. Im Vorbeigehen drehte sie dort das Heizkörperthermostat auf und hörte kurz darauf ein leises Klopfen in der Leitung. Die Heizung schien zu funktionieren. Neugierig schaute sie ins Badezimmer, dessen Tür ebenfalls nur angelehnt war. Sie ging hinein, stellte sich ans Fenster und sah eine Weile hinaus. Von hier aus konnte sie in einiger Entfernung das Nachbarhaus sehen, in dem die Schuhmanns lebten zu denen ihre Großmutter allerdings nie einen engen Kontakt unterhalten hatte. Es mochte daran gelegen haben, dass die Schuhmanns über viele Jahre hinweg große Hunde gezüchtet hatten. Große Hunderassen waren ihrer Großmutter schon immer suspekt gewesen. Gleich schräg hinter ihrem Haus begann der Wald. Es war ein Wald, der aus Pappeln und Kiefern bestand. Er war zu dieser Jahreszeit dunkel und nicht sonderlich einladend. Anneke betrachtete die Wiese, die sich vor ihm ausbreitete. Draußen war keine Menschenseele zu sehen. Minutenlang starrte sie hinaus. Den freien Blick auf die Welt da draußen empfand sie als unglaublich wohltuend nach der Enge der Stadt. Dort waren immer und überall Menschen. Menschen, die Hektik und Lärm verbreiteten. Selbst nachts in ihrer Wohnung fand dieser mit den Geräuschen des Aufzuges im Haus, den Wohngeräuschen der anderen Mieter und dem beständigen Rauschen der vorbeifahrenden Autos auf der nahegelegenen Straße kein Ende.

 



Das Badezimmer an sich war ausgesprochen unauffällig. Ihre Großmutter hatte immer ein Händchen für Ordnung und Sauberkeit gehabt und für klare Strukturen. Das hübsche Dekorieren von Räumen allerdings hatte nie zu ihren Begabungen gehört. So war das Badezimmer nur ein kleiner Raum, der in schlichtem Weiß gehalten war. Es gab keine Dusche, dafür aber eine Badewanne, die ihre Großmutter allerdings wenig benutzt hatte. Sie war von ihren Eltern zur Sparsamkeit erzogen worden und so durfte warmes Wasser nicht verschwendet werden. Alles in diesem Raum war zwar blitzsauber, aber nicht sehr gemütlich. Großmutters Badezimmer war nichts anderes als ein nützlicher Raum, in dem sich Anneke noch nie besonders wohl gefühlt hatte. Das hatte sich auch jetzt nicht geändert. An der Wand neben dem Waschbecken hingen einige Handtücher. Seife, Kamm und Zahnbürste lagen ordentlich an ihren Plätzen und auf der Ablage vor dem Spiegel stand noch eine Flasche Lavendel-Parfüm, das ihre Großmutter immer so geliebt hatte. Auf der Waschmaschine gleich daneben lag eine angebrochene Packung Waschpulver in einem leeren, dunkelgrünen Wäschekorb aus Plastik. Einen Trockner gab es nicht, dafür aber eine lange Wäscheleine im Garten und eine kürzere auf dem Dachboden. Direkt neben dem Badezimmer befand sich noch ein kleiner Raum, den Anneke früher nur selten betreten hatte. Jetzt ging sie hinein. Damals, als sie noch ein kleines Mädchen war, hatte ihre Großmutter ihr erklärt, dass dies ihr Arbeitszimmer sei und folglich kein Spielzimmer. Anneke fand die Tatsache damals zwar ein wenig verwunderlich, denn sie wusste ja, dass ihre Großmutter eigentlich als Melkerin im Kuhstall arbeitete. Letztlich hatte sie sich aber keine weiteren Gedanken darum gemacht. Ihre Eltern hatten schließlich auch immer ein Arbeitszimmer zu Hause gehabt.



Sie betrat den kleinen Raum, der nur etwa zehn Quadratmeter groß war. An der einen Seite stand ein Bücherregal, in der Mitte des Raumes befand sich ein Schreibtisch mit zwei Stühlen, die sich gegenüberstanden. An der anderen Seite, in der Nähe des Fensters, stand eine Liege. Eine weinrote Wolldecke lag darauf. Auf den Sitzflächen der Stühle befanden sich Stuhlkissen aus grob gewebtem Leinen, die an den Lehnen mit zwei Bändern festgebunden waren. Auf dem Schreibtisch stand ein Becher, in dem einige spitze Bleistifte und ein Kugelschreiber steckten. Eine altertümliche Schreibtischlampe und einen vollständig leeren Schreibblock, der aufgeschlagen danebenlag, gab es auch. Im Regal an der Wand fand Anneke zu ihrer Überraschung eine Packung Räucherstäbchen mit einem Räucherbrettchen vor, ein weiteres solches Brettchen und eine große Metalldose mit altertümlichen Verzierungen auf dem Deckel und einigen kleinen Roststellen an der Unterseite gab es auch. Die Dose enthielt getrocknete Kräuter. Als Anneke sie vorsichtig öffnete verströmten sie einen etwas muffigen, aber nicht unangenehmen Duft. Daneben lag eine kleine, in Aluminiumpapier eingewickelte Rolle. Wie die Banderole erkennen ließ enthielt sie Tabletten aus Räucherkohle. Anneke betrachtete sie interessiert. Es handelte sich offenbar um Presslinge aus Kohle, die etwa die Größe von Zwei-Euro-Münzen hatten. Vorsichtig legte sie die Rolle wieder zurück an ihren Platz, so als könne jemand Anstoß daran nehmen, dass sie alles ganz genau betrachtet hatte. Im Anschluss daran entdeckte sie noch drei Schalen aus rotem Ton in unterschiedlicher Größe, die wie selbstgetöpfert aussahen. Einige von ihnen enthielten Rückstände von Asche. Ihre Großmutter schien sie zum Räuchern oder zum Verbrennen von irgendetwas benutzt zu haben. Im Regal standen auch etwa zwanzig Bücher. Manche schienen schon sehr alt zu sein, andere waren offensichtlich neueren Datums. Sie nahm eins von ihnen heraus. „Die Grundlagen des Pranaheilens“ stand in sachlicher Blockschrift auf dem Cover. Anneke war überrascht, wofür sich ihre Großmutter im Alter noch interessiert hatte. Langsam ließ sie die Seiten des Buches durch ihre Finger gleiten und stellte es dann zurück an seinen Platz. Selbstverständlich konnte sie sich gut daran erinnern, dass früher oft fremde Leute hierhergekommen waren und ihre Großmutter sie dann meist zum Spielen nach draußen geschickt hatte. Jedoch das, was Hermine mit den Fremden sprach oder was sie genau mit ihnen machte, war nie ein Gesprächsthema zwischen ihnen gewesen. Nur ein einziges Mal hatte Anneke direkt danach gefragt. Das war sie etwa zwölf Jahre alt gewesen. Sie hatte zur Antwort bekommen: „Kümmere dich nicht darum. Das ist noch nichts für dich, Annchen! Das erklär´ ich dir später, wenn du alt genug dafür bist. Später, dann schreib ich dir alles auf. Dann wirst du meine Arbeit fortführen.“ Anneke konnte sich nicht daran erinnern, dass sie später noch einmal danach gefragt hatte. Sie hatte immer den Eindruck gehabt, dass ihre Großmutter nicht darüber sprechen wollte. Noch später, als sie dann fast schon erwachsen war und die Schule beendet hatte, war sie nicht mehr so oft in Michaelsdorf gewesen. Und wenn sie sich die Zeit für einen Besuch bei ihrer Großmutter genommen hatte, dann war sie nicht mehr so lange geblieben. In den letzten Jahren hatte sie deshalb gar nicht mehr mitbekommen, ob ihre Großmutter noch immer kranke Leute behandelt hatte. Jetzt huschte ihr Blick über die Wände des engen, aber freundlichen Raumes. Da gab es Bilder von grünen Waldwegen, von Wasserfällen und von einer Hängebrücke, die ins Nirgendwo zu führen schien. Es gab auch einen Sonnenuntergang am Strand und ein schlichtes, hölzernes Kreuz über der Tür. All das strahlte Harmonie aus. Es schien beinahe so, als hätte ihre Großmutter hier bis zu ihrem Tode noch gearbeitet. Der Raum wirkte keineswegs verlassen. Nachdenklich inspizierte Anneke danach auch noch die übrigen Räume des Hauses. Die stieg die hölzerne Treppe hinauf, die ins Obergeschoss mit den schrägen Wänden führte. Dort gab es nur ein einziges Zimmer unter dem Reetdach, das ausgebaut war. Es hatte früher als Gästezimmer gedient und so wie es jetzt aussah, war es wohl schon lange nicht mehr benutzt worden. Es war zu einer Art Abstellkammer geworden. Auch sie selbst hatte in den letzten Jahren bei ihren Besuchen immer im Erdgeschoss geschlafen. Es waren Spinnenweben an den Wänden des Raumes und die Luft roch abgestanden. Anneke schloss die Tür schnell wieder. Sie fror. Hier oben war es bitterkalt. Eilig nahm sie den Rest des Obergeschosses in Augenschein. Hier befand sich alles, was sich im Laufe der Jahre so angesammelt hatte. All das, was eben in einem Menschenleben so auftauchte und dann nicht wieder verschwinden wollte. Neugierig spähte Anneke aus dem trüben Dachfenster der Gaube. Sie sah einen kleinen Teil der Dorfstraße und hatte von hier aus auch einen Blick auf die nahen Häuser. Genau in diesem Moment fuhr das gelbe Postauto die Straße entlang und hielt vor dem Nachbarhaus. Eine kleine, rundliche, blau-gelbe Postfrau mit dunkelblondem Haar sprang heraus und verteilte in Windeseile Briefe und Sonstiges auf die Kästen der umliegenden Häuser. Einen Augenblick später war sie bereits wieder verschwunden. Bevor Anneke über die hölzerne Treppe wieder ins Erdgeschoss hinabstieg ließ sie ihren Blick noch einmal über die alten Möbel, die Kartons und die alte Stehlampe, die daneben stand, gleiten. So einiges moderte hier, in dem nicht ausgebauten Bereich unter dem Dach, vor sich hin. In früheren Zeiten war das alles sicher zu schade zum Wegwerfen gewesen. Aber jetzt, Jahre später, hatte es sich von ganz allein in wertlosen Plunder verwandelt, den niemand mehr gebrauchen konnte. Allein die Zeit hatte das bewerkstelligt. Nachdenklich blieb ihr Blick an dem verstaubten Sekretär hängen, an dessen alten Platz im Wohnzimmer sie sich noch genau erinnern konnte. Damals, als sie klein war, durfte sie nicht daran spielen. Ihre Großmutter achtete immer streng darauf, dass sie ihre Bilder mit Farbstiften und Wachskreide am Küchentisch malte. Sie war immer sehr besorgt gewesen, dass das hölzerne Nussbaum-Furnier Schaden nehmen könnte oder Farbstriche darauf zurückbleiben würden. Nun stand der gute, alte Sekretär also hier oben. Die Temperaturen in dem unbeheizten Bereich hatten seinem Holz nicht gut getan. Er sah ramponiert aus. An einigen Stellen löste sich das viel gehütete Furnier bereits ab. Direkt daneben entdeckte Anneke auch noch die Möbel aus Großmutters altem Schlafzimmer, das sie bereits kurz nach dem Tode von Opa Benno hierher auf den Dachboden gebracht hatte. Zur Verwunderung aller war das damals ihre erste Maßnahme gewesen, nachdem sie sich vom ersten Schock nach dem Tode ihres Mannes erholt hatte. Niemand der Angehörigen konnte sie damals verstehen, denn es war noch vor Opa Bennos Beerdigung gewesen. Allein ihre Großmutter schien gewusst zu haben, warum sie die Schlafzimmermöbel damals unbedingt so schnell loswerden wollte. Jetzt stand dort unten ein neues Schlafzimmer aus hellem Holz mit einem Doppelbett und einem großen Kleiderschrank. Das machte den Raum hell und freundlich und verschlang nicht alles Licht wie das alte, mahagonifarbene Mobiliar, das dort säuberlich in Einzelteile zerlegt an der Wand lehnte. Die Spiralfedern der beiden Federböden waren bereits verrostet. Niemand würde sie je mehr brauchen können. All das musste nun mit dem Sperrmüll entsorgt werden. Anneke schauderte bei dem Gedanken daran, dass der gesamte Dachboden leergeräumt werden musste, bevor das Haus verkauft werden konnte. Leider würde sich wohl kein Käufer finden, der das Haus mit allem Inventar übernahm. Anneke sah sich in der Pflicht, ihren Eltern beim Entrümpeln zu helfen. Sie hoffte darauf, dass es ihr bis dahin besser ging. Langsam stieg sie wieder die Treppe ins Erdgeschoss hinunter und setzte sich einen Moment lang auf die Couch im Wohnzimmer. Die Vorstellung machte sie unglücklich, dass sie die Besitztümer ihrer Großmutter einfach so wegwerfen sollte. Das fühlte sich schäbig an, respektlos und undankbar. Wenn sie gekonnt hätte, dann hätte sie alles im Haus so gelassen, wie es war. Dann wäre alles so geblieben, als wäre ihre Großmutter Hermine nur einmal kurz weggegangen, als würde sie bald zurückkehren. Anneke stellte sich vor wie sie ihr Haus betrat und verwundert sagte: „Annchen, du bist ja schon da! Was macht die Hauptstadt? Du warst ja schon lange nicht mehr hier, Mädchen!“ Das hatte sie immer gesagt. In diesem Augenblick konnte sie sie regelrecht vor sich sehen. Sie konnte ihre Stimme im Geiste hören, die sie fragte:„Soll ich uns einen Tee machen, Annchen? Wenn du magst kannst du auch meine neuen Plätzchen probieren. Die sind ganz frisch. Hab ich gestern erst gebacken. Du weißt doch, die Guten nach dem alten Rezept meiner Mutter.“ Anneke schloss die Augen, so als könnte es ihr dadurch gelingen, den Moment festzuhalten. Den Moment, in dem sie ihre Großmutter hier in ihrem eigenen Haus so deutlich wahrnehmen konnte. So, als wäre sie tatsächlich da. Es gelang ihr jedoch nicht, die Illusion festzuhalten. Das Bild verschwand so plötzlich aus ihrem Kopf wie sie gekommen war. Enttäuscht öffnete Anneke wieder die Augen. Um sie herum war alles still. Bis auf ein leises Ticken im Heizkörper war nichts zu hören.

 



Obwohl es erst früher Nachmittag war, begann es draußen bereits dunkel zu werden. Sie ging hinaus zu ihrem Auto, holte den Korb mit ihrem Proviant herein und ihre Tasche mit den warmen Sachen. Sie war sich noch immer nicht sicher, ob sie bleiben wollte und ließ ihr Bettzeug deshalb erst einmal draußen. Es hatte angefangen zu nieseln. Ein feiner Regenschleier hatte sich auf alles gelegt und die hereinbrechende Dunkelheit ließ die kahlen Bäume am Waldrand wie schwarze, stumme Riesen erscheinen. Es war die Art von Wetter, bei dem sich jeder am liebsten zu Hause verkroch. Anneke schüttelte sich unwillkürlich. Nebenan bei Martha und Willi war bereits Licht in der Küche. Die beiden schienen von ihrem Ausflug zurückgekehrt zu sein. Schnell trug Anneke ihre Sachen ins Haus. Mit der Wärme aus den Heizkörpern kam langsam die Behaglichkeit in die ausgekühlten Räume zurück. Anneke hängte ihre Jacke an die Garderobe neben die Sachen ihrer Großmutter. Dann ging sie noch einmal hinaus und kramte ihre alten, roten Gummistiefel aus dem Kofferraum hervor, die sie eigentlich schon längst hatte entsorgen wollen. Es schien, als hätte es schon seinen Grund gehabt, warum sie es bisher nicht getan hatte. Sie stellte die Stiefel gleich neben die Tür auf die Matte in unmittelbarer Nähe der Garderobe. Genau an diesem Ort hatten ihre Schuhe auch früher immer gestanden. Zuerst die ganz kleinen und später die größeren. Es war immer gut, hier auf dem Lande für rustikales Wetter gerüstet zu sein. Anneke war zufrieden, dass sie auf alles vorbereitet war. Wenig später kramte sie dann im Schlafzimmer die dicke Strickjacke aus Schafwolle aus ihrer Reisetasche hervor, schlüpfte hinein und ging eilig hinüber zum Haus von Martha und Willi. Der kalte Nieselregen schlug ihr ins Gesicht. Sie zog die Jacke fester um sich und beschleunigte ihren Schritt. Die beiden waren gerade dabei, sich einen Nachmittagskaffee zu kochen, als sie klingelte. Lächelnd öffnete ihr Willi die Tür. Er sah genauso aus wie immer. Er schien einfach nicht zu altern. „Na, min Deern?“, sagte er breit lachend und umarmte sie. „Willkommen in unserer Einöde! Komm rein! Wir haben dich schon gesehen. Geschafft siehst du aus, Mädchen! Die Stadtluft tut dir gar nicht gut. Oder bist du krank?“ Anneke nickte. „Beides“, sagte sie zögernd. Die Stadtluft tut mir nicht gut und krank bin ich auch. Aber das liegt wohl mehr an meiner Arbeit. Die ist nicht gut für mich. Die macht mich krank.“ Martha kam aus der Küche in die Diele gelaufen und trocknete sich dabei die Hände an einem Küchenhandtuch ab. Sie lächelte und umarmte Anneke, während sie glücklich sagte: „Annchen! Schön, dass du endlich mal gekommen bist! Wir hatten schon viel früher mit dir gerechnet.“ Martha betrachtete sie einen Augenblick lang prüfend und sagte dann kritisch: „Müde siehst du aus!“ Ein wenig zögernd strich sie ihr über das feuchte Haar, so als wäre sie nicht ganz sicher, ob sich das bei einer erwachsenen Frau noch gehörte. Dabei hatte sie das zur Begrüßung schon immer getan. Sie kannten sie schließlich schon seit ihrer Geburt. „Deine schönen Locken!“, fuhr Martha begeistert fort. „Nicht zu viel und nicht zu wenig. Du hast so wunderschönes Haar. Genau wie deine Großmutter. Hermine hatte auch immer so schönes Haar. Nicht dieses Straßenköterblond, das hier die meisten haben. Ich leider auch.“ Sie lachte. „Schneid´ sie bloß nicht ab, deine Haare!“ Als Anneke daraufhin entsetzt den Kopf schüttelte nickte sie zufrieden. Wehmütig lächelnd fuhr sie fort: „Ihr wart euch schon immer so ähnlich, deine Großmutter und du. Man konnte es schon sehen als du noch ganz klein warst. Damals, als wir hier gebaut haben, sah sie beinahe so aus, wie du jetzt aussiehst. Es ist schon merkwürdig, wie sich die Dinge wiederholen. Manchmal kann man es gar nicht glauben“. Martha war einen Kopf kleiner als Anneke, die mit ihren 1,75 m recht groß war. Wortlos stellte sie ihr ein paar rosafarbene Gästepantoffeln vor die Füße, die sie aus dem Flurschränkchen hervorgeholt hatte. Anneke schlüpfte brav hinein.



Wenig später, beim Kaffeetrinken in der gemütlichen Küche, begann Willi zögernd: „Wir machen uns wahrscheinlich mehr Gedanken als ihr. Aber wisst Ihr inzwischen schon, was ihr mit dem Haus drüben machen wollt? Ich meine, deine Eltern und du? Ewig kann es ja nicht leer stehen. Es wird ja nicht besser davon. Es gibt einen Interessenten aus dem Nachbardorf, der mich darauf angesprochen hat. Er liegt mit seiner Frau in Scheidung und sucht gerade ein neues Zuhause für sich und seine neue Flamme. Wie das eben immer so ist. Er ist kein schlechter Mensch und Geld dafür hätte er auch, denke ich. Wir kennen ihn, nicht wahr, Martha?“ Er lachte, während er fortfuhr: „Natürlich kennen wir ihn. Hier kennt ja jeder jeden. Das ist nicht schwer.“ Er machte eine kurze Pause und fügte dann erklärend hinzu: „Für uns beide wäre es natürlich schöner, wenn es kein Fremder ist, der hier gegenüber einzieht und dann vielleicht nur im Sommer da ist. Das Dorf hat sowieso zu wenig Einwohner und Hermine ist ja nun auch leider nicht mehr da. Es werden immer weniger.“ Er zuckte ratlos die Achseln und sprach weiter: „Das ist eben der Lauf der Dinge. Die Jungen gehen in die Städte. Da haben sie alles beisammen und eine besser bezahlte Arbeit obendrein. Man kann es ihnen nicht verdenken. Aber für uns hier, für uns Alte, ist das gar nicht gut.“ Martha nickte und fügte bekräftigend hinzu: „Wir werden ja auch nicht jünger. Vielleicht sind wir irgendwann mal auf unsere Nachbarschaft angewiesen. Du weißt schon wie ich das meine. Und wenn dann keiner da ist oder vielleicht nur so ein Döskopp, den man nicht bitten mag, dann wäre das schlimm für uns.“ Sie lächelte entschuldigend und fügte zögernd hinzu: „Eigentlich wäre es Willi und mir am liebsten, wenn du drüben einziehst. Wir kennen dich wie unser eignes Kind. Du hast hier schon an diesem Tisch gesessen, als du so groß warst.“ Sie hielt ihre ausgestreckte Handfläche etwa einen halben Meter über den Boden. Willi nickte zustimmend. „Ja, es stimmt, was Martha sagt. Aber dieser Tisch war es nicht. Wir haben inzwischen einen neuen!“ Martha berührte ihren Mann sanft am Arm und sah ihn strafend an: „Klugschieter! Als ob das jetzt wichtig wäre! Dieser Tisch oder ein anderer. Das ist doch völlig egal! Nicht wahr, Annchen?“ Anneke nickte brav. Sie fand es schön, einfach so wie früher mit den beiden zusammen zu sitzen. Vorsichtig trank sie jetzt einen kleinen Schluck von dem heißen Kaffee in ihrer Tasse und sagte zögernd: „Ich würde ja. Ich meine, ich würde schon gern da drüben einziehen. Berlin ist eine verrückte Stadt und sie wird immer verrückter. Aber ich hab hier keine Arbeit. Wovon soll ich denn leben?“ Willi wandte sofort ein: „Arbeit gibt es hier auch. Man findet immer was, wenn man wirklich was sucht. Das ist hier wie überall. Nur so gut bezahlt wie in Berlin wirst du hier wohl nicht. Davon muss man leider ausgehen.“ Nach kurzem Überlegen fuhr er fort: „Aber man braucht hier auch nicht so viel. Wir sind hier alle mit weniger Geld glücklich, wenn man das mal mit dem Rest von Deutschland vergleicht. Notgedrungen……..“ Er sah gleichmütig aus und lächelte matt: „Wir müssen eben damit zufrieden sein und wir sind es. Es bleibt uns gar nichts anderes übrig. Hier oben im Norden gab es noch nie großen Wohlstand. Das ist eben das Nord-Süd-Gefälle. Ich glaube wir sind das ärmste Bundesland von allen. Das ist nun mal so.“ Nachdem er das gesagt hatte, verstummte er. Plötzlich breitete sich wie aus dem Nichts ein Lächeln über sein Gesicht aus. „Wir sind nicht reich, aber dafür sind wir frei. Das sag ich immer. Wir sind viel freier als die Stadtmenschen und viel freier als die Menschen aus dem Süden, die in der Enge zwischen ihren Bergen hocken müssen. Wir haben hier das weite Land und die frische Luft vom Meer. Wir können uns treffen, wenn wir das wollen und wir können uns auch prima aus dem Weg gehen. Es ist genug Platz für jeden von uns da. Also wir waren ja mal im Ruhrgebiet… .“ Martha unterbrach ihn sofort. „Willi, jetzt lass doch den ollen Kram!“ Ungerührt fuhr Willi dennoch fort: „Im Ruhrgebiet war es grauenvoll! Bist du da schon mal gewesen?“ Er schaute Anneke fragend an. Als sie den Kopf schüttelte fuhr er fort: „Ja, ich weiß. Martha hat Recht. Man muss das nicht immer wieder rausholen. Und es ist auch schon über zehn Jahre her. Aber es hat uns sehr schockiert.“ Erklärend