Die Besprecherin

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Die Stimme von Henry, einem der Autoverkäufer, riss sie aus ihren trüben Gedanken. Dicht vor ihr, auf der anderen Seite des Tresens stehend, fragte er ungeduldig: „Was ist denn jetzt mit dir, Anneke? Willst du heute Nacht hier bleiben? Es ist schon Viertel nach sechs! Wir kriegen keine Überstunden bezahlt, wie du weißt. Also komm jetzt! Ich schließ´ dich sonst ein und dann musst du hier übernachten. Ich glaub nicht, dass dich das froh machen würde!“ Er lachte, während er sein Schlüsselbund an einem langen, blauen Band immer schneller durch die Luft wirbelte, bis ein leises Zischen zu hören war. Anneke wurde sofort hektisch. Sie hatte so vertieft ihren trostlosen Gedanken nachgehangen, dass sie die Zeit darüber völlig vergessen hatte. Schnell schaltete sie ihren Computer aus und raffte ihre persönlichen Sachen zusammen. Henry wartete bereits an der Tür auf sie und erklärte entschuldigend: „Ich hab´s eilig! Wir renovieren gerade unsere Wohnung. Und ich will nicht, dass sich meine Lena dabei übernimmt. Du weißt ja wie sie ist. Und jetzt, in ihrem Zustand, könnte das gefährlich werden. Ich bremse sie zwar immer, aber im Grunde genommen rede ich da mit einer Wand. Sie ist halt ein Wirbelwind und wenn ich was sage, dann geht das bei ihr da rein und da raus.“ Nacheinander deutete er auf seine beiden Ohren. Anneke nickte. „Ich weiß! Sie kann nicht stillsitzen. Wann kommt euer Kind? Im Januar?“ Henry nickte stolz. „Am fünfzehnten. Ich bin schon ganz gespannt auf den Kleinen! Unser erstes Kind…….“ Er beugte demonstrativ seinen Arm, so als läge ein Säugling darin und lachte. Dann wurde er wieder ernst und fügte hinzu: „Und vermutlich auch unser letztes. Ich glaube nicht, dass ich mir bei dem Gehalt hier zwei Kinder leisten kann. Arbeitssklaven wie wir bekommen halt nicht mehr. Schwarzpeter und Ströbe machen sich ein schönes Leben und wir machen die Arbeit und kommen auf keinen grünen Zweig. Darüber darf ich gar nicht nachdenken. Davon bekomm´ ich nur Wutanfälle!“ Er räusperte sich und fuhr schnell fort: „Ich bräuchte wohl doppelt so viel, damit ich mir nicht ständig Sorgen ums Geld machen müsste.“ Anneke nickte und seufzte: „Wem sagst du das? Wir haben hier in dieser Firma wohl alle das gleiche Problem. Wir müssten in den Chefetagen der Wirtschaft sitzen oder in der Politik. Die dort stecken sich das dicke Geld ein und oft auch noch zu Lasten der Steuerzahler. Die bekommen das Zwanzigfache von einem normalen Gehalt oder noch viel mehr. Irgendwie wird diese Welt immer verrückter. Die oberen Zehntausend leben in Saus und Braus auf Kosten von uns kleinen Deppen, die sich alles gefallen lassen, die immer weiter wie die Lemminge die Arbeit machen und ihre Steuern bezahlen.“ Henry hob nach ihren Worten resignierend die Hände und entgegnete zerknirscht: „Für so einen Job in der Wirtschaft oder in der Politik bin ich leider nicht gemacht. Ich bin zu sensibel und da darf man nicht zimperlich sein. Ich würde immer gleich alles persönlich nehmen.“ Anneke sah ihn müde an. „Also ich könnte das auch nicht. Schließlich muss man sich am Ende des Tages ja auch noch im Spiegel anschauen können. Mir ist das jedenfalls wichtig. Manchmal denke ich, dass das vielen Leuten heutzutage egal ist.“ Sie schaute missbilligend vor sich hin und fuhr dann fort: „Nee, Henry. Dann bleib´ ich lieber arm und ehrlich. Leider ist der Ehrliche aber oft der Dumme. Ist mir schon klar! Aber Geld ist mir wirklich nicht das Wichtigste im Leben.“ Sie seufzte. „Nur mit dieser Einstellung gehört man heutzutage zu den Idioten.“ Henry nickte zustimmend. „Da ist was Wahres dran. Ich bin auch bloß so ein dummer, ehrlicher Bürger. Da bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als weiterhin hierher zu kommen, brav zu arbeiten, uns alles gefallen zu lassen und natürlich morgen wieder pünktlich hier auf dieser Matte zu stehen, um Ströbes Wohlstand zu mehren.“ Anneke war inzwischen an ihm vorbei ins Freie getreten. Draußen war es bereits dunkel. Ein kalter, klarer Mond hing in den Bäumen und die Lichter der Stadt um sie herum glänzten. Einige von ihnen spiegelten sich in dem nassen Asphalt zu ihren Füßen. Es schien ihr so, als sei es schon mitten in der Nacht. Mit einem metallischen Klicken verschloss Henry hastig die Tür hinter sich und aktivierte die Alarmanlage. Zufrieden nickte er ihr dann zu. „Bis morgen!“, sagte er und gab Anneke zum Abschied die Hand. „Du solltest dich wirklich mal erholen. Siehst schon seit Wochen schlecht aus! So völlig überarbeitet und gestresst. Ich erkenn´ dich gar nicht wieder!“ Anneke sah ihn ratlos an, während sie mit unsicherer Stimme erwiderte: „Du bist nicht der erste, der mir das sagt. Ich würde ja, aber ich weiß nicht, wie ich das machen soll. Ich hab das Gefühl, mein Akku ist kaputt und ich kann einfach keine neue Energie mehr aufnehmen. Dabei versuche ich es so sehr! Es fühlt sich einfach nur schrecklich an!“ Henry musterte sie nachdenklich. „Das klingt mir aber verdammt stark nach ´nem Burnout! Eine Kollegin meiner Frau hatte das auch. Es hat ewig gedauert, bis die wieder arbeiten konnte. Lena dachte schon, dass sie gar nicht mehr wiederkommt. Und zum Schluss hatte sie dann auch noch Probleme mit dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung, diesem MDK. Du weißt schon. Weil sie so oft und so lange krankgeschrieben war. Der hat sie überprüft, als ob sie arbeitsscheu wäre. Das war ganz schlimm für sie!“ Anneke sah ihn irritiert an. „Und jetzt? Was ist jetzt mit ihr?“ Henry machte eine ausweichende Handbewegung. „Weiß nicht so genau. Lena sagte nur, dass sie wieder da sei. Aber sie ist irgendwie nicht mehr die Alte. Sie ist seit damals sehr verändert. Vielleicht liegt das ja an den Psychopharmaka, die sie immer noch einnimmt.“ Nachdenklich ging Anneke an diesem Abend nach Hause. Mit dem MDK hatte sie bisher zum Glück noch nichts zu tun gehabt, aber Psychopharmaka nahm sie auch ein. Ihr war unwohl bei dem Gedanken an die Geschichte, die Henry ihr erzählt hatte. Die kalte, feuchte Luft verursachte ein Kratzen in ihrem Hals. Die Dunkelheit um sie herum roch schon ein bisschen nach Winter.

Nach ein paar Metern sah sie sich nervös um. Es war ihr beklommen zumute bei dem Gedanken daran, dass sie in der Dunkelheit so ganz allein unterwegs war. Früher hatte sie nie ein Problem damit gehabt, abends allein nach Hause zu gehen. Seitdem die Regierung das Land jedoch mit diesem unkontrollierten, unübersichtlichen Konglomerat aus Migranten, Kriminellen und Flüchtlingen aus vorwiegend islamischen Ländern geflutet hatte, war das ganze Land und auch Berlin vor allem für Frauen nicht mehr sicher. Entgegen den Beteuerungen der Politiker war Anneke wie den meisten anderen Bewohnern dieser Stadt längst klar, dass die Zahl der Überfälle, Diebstähle, Einbrüche, Vergewaltigungen, Morde und die Drogenkriminalität seitdem exorbitant angestiegen waren Nicht nur in Berlin war das geschehen, aber eben auch in Berlin. Ein kalter Schauer lief ihr bei dem Gedanken daran über den Rücken. Gerade vor Kurzem erst hatte sie in einer Statistik gelesen, dass Deutschland im Ranking der sicheren Länder weltweit seit der Aufnahme dieser Menschenmassen innerhalb von nur zwei Jahren von Platz 20 auf Platz 51 zurückgefallen war. Diese Tatsache machte ihr Angst. Erneut sah sie sich um und beschleunigte ihren Schritt. In ihrem Hals kratzte es immer noch. Sie fühlte sich angeschlagen. Es war ein Gefühl, als ob ihr eine Erkältung in den Gliedern steckte. Leider war das nichts Neues. In der letzten Zeit war sie immer empfänglicher für derlei Infekte geworden. Zu Hause angekommen ging sie, wie so oft in den letzten Monaten, nach einem heißen Bad früh zu Bett. Sie hatte keine Lust zum Fernsehen und auch zu nichts anderem. Das alles interessierte sie nicht mehr. Sogar das Geschirr vom Abendessen ließ sie, entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit, einfach in der Spüle stehen. Sie war nur noch müde. Halbherzig nahm sie sich vor, am nächsten Morgen zeitiger aufzustehen und bevor sie zur Arbeit ging noch ein wenig aufzuräumen. Doch dazu kam es nicht. Am nächsten Morgen erwachte sie mit einem dicken, schmerzhaften Kloß im Hals, mit Schluckbeschwerden, Ohrenschmerzen und Fieber. Sie rief in der Firma an, um sich krank zu melden. Renate Reffler, die unglücklicherweise auch noch am Telefon war, sagte nur spitz zu ihr: „Ich werd´ es dem Chef ausrichten. Aber vielleicht solltest du in Zukunft ein wenig mehr auf deine Gesundheit achten und nicht alle deine Energien in deine Freizeit investieren. Dann läuft´s hier auf der Arbeit auch wieder besser für dich. Dann müsstest du dich auch nicht ständig krankschreiben lassen.“ Nachdem Anneke auf ihre Worte hin vor Schreck und Entrüstung gar nichts sagen konnte und sie deshalb stumm blieb, fügte Renate noch süffisant hinzu: „Ich muss mich schließlich auch in meiner Freizeit erholen und kann mich nicht aller Nasen lang krank melden. Einer muss schließlich die Arbeit hier machen. Wo kommen wir denn sonst hin? Naja, zum Glück gibt es ja noch ein paar andere Leute, die hier arbeiten!“ Anneke fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen von so viel Boshaftigkeit. Sie beendete das Gespräch, indem sie den Hörer einfach auflegte, ohne sich zu verabschieden. Diese Frau war einfach nur widerwärtig.

Ein paar Stunden später um die Mittagszeit zog sie sich dann an und schleppte sich zu ihrem Hausarzt Dr. Stein, der ihr ohne zu zögern einen Krankenschein ausstellte. Aufmerksam musterte er sie, während er fragte: „Und was macht ihre Gesprächstherapie bei Dr. Hausmann? Geht es ihnen besser damit? Wenn ich sie so ansehe, dann bin ich mir da nicht so sicher.“ Er schaute eine Weile auf den Bildschirm seines PC´s und fragte dann: „Was ist eigentlich mit Ihrem Medikament, dem Citalopram? Nehmen sie das immer noch ein?“ Anneke nickte nur matt. Der Arzt schaute erneut auf seinen Bildschirm und murmelte beinahe vorwurfsvoll: „Das sind dann schon über zwei Jahre, Frau Siebenbaum. Ganz schön lange Zeit. Und vor allem ohne Besserung ihres Zustandes. So hatte ich mir das eigentlich nicht vorgestellt, als ich sie zu Dr. Hausmann überwiesen habe. Das gefällt mir nicht.“ Anneke sah ihn ratlos an und fragte zögernd: „Und nun? Was soll ich ihrer Ansicht nach jetzt tun? Das Medikament absetzen?“ Dr. Stein schüttelte schnell den Kopf, während er erwiderte: „Dazu kann ich nichts sagen. Das liegt nicht in meinem Entscheidungsbereich. Das muss Dr. Hausmann sagen. Er hat es ihnen schließlich auch verordnet. Aber es ist in meinen Augen nicht die richtige Therapie für sie. Ihr Befinden bessert sich ja nicht. Sie sind mir schon viel zu lange so energielos und es scheint mir eher schlimmer zu werden, anstatt besser. Das sieht mir verdächtig nach einem Burnout aus.“ Nachdenklich fuhr er sich mit der Hand über sein eisgraues, kurzes Haar, während er sagte: „Und auch ihr erneuter Infekt jetzt….. Das ist nun schon der fünfte in diesem Jahr. Ich muss mich wohl mal mit Dr. Hausmann kurzschließen. So kann es ja schließlich nicht weitergehen mit ihnen. Nehmen sie ihre Schlaftabletten auch immer noch?“ Anneke nickte. Daraufhin sah er sie durchdringend an und fuhr fort: „Machen sie sich jetzt deshalb keine Sorgen. Werden sie erst einmal gesund. Dann sehen wir weiter.“ Nachdenklich sah der Arzt ihr nach während sie sein Sprechzimmer verließ. Zu Hause angekommen fiel sie sofort wieder ins Bett und schlief bis zum späten Nachmittag durch. Die Medikamente, die sie sich unterwegs aus der Apotheke holen sollte, hatte sie vergessen. Das Rezept von Dr. Stein steckte noch immer in ihrer Jackentasche. Doch eigentlich war ihr das auch egal. Sie hatte nicht das Gefühl, dass Medikamente ihr helfen konnten. Die Psychopille und die Schlaftablette, die sie einnahm, schienen ihr schon mehr als genug zu sein. Sie war sich noch nicht einmal sicher, ob sie ihr überhaupt halfen. Ihr war nur noch elend zumute. Sie fühlte sich wie zementiert in ihrer Situation. Erleichtert war sie trotzdem, sich dank ihrer neuerlichen Krankschreibung wieder ein paar Tage ausruhen zu können. Ihr Infekt würde sicher auch ohne Medikamente vergehen. Darüber machte sie sich keine Sorgen. Es war vielmehr ihr Gesamtzustand, der sie immer mehr ängstigte.

 

In der darauffolgenden Woche hatte sie dann erneut einen Termin bei Dr. Hausmann, ihrem Psychologen. Ihre Grippe war inzwischen fast auskuriert. Mit Kräutertee, der alten Rotlichtlampe aus den Babyzeiten von Max, selbstgemachtem Zwiebelsaft mit Honig und Wollsocken war sie ganz offensichtlich erfolgreich gewesen. Da es ihr aber seelisch nicht besser ging, verlängerte der Arzt ihre Krankschreibung kurzentschlossen um weitere vier Wochen. Anneke war das inzwischen auch schon gleichgültig. Nur ganz flüchtig kam ihr der Gedanke daran, dass ihr Chef Ströbe damit sicher nicht einverstanden sein würde. Ein unangenehmes Frösteln ergriff sie bei diesem besorgten Gedanken. Schnell verdrängte sie das Problem aus ihrem Kopf, in dem ohnehin die meiste Zeit des Tages über so etwas wie ein dicker Nebel waberte. Ihre Beine hatten nach dem Fußmarsch zum Arzt und zurück vor Erschöpfung gezittert. Die eine Woche, die sie ausschließlich im Bett verbracht hatte, hatte sie noch mehr geschwächt. Ihre Haut war fahl und fast ein wenig durchscheinend. Dunkle Ränder lagen unter ihren großen, graugrünen Augen, die jetzt trübe und glanzlos waren. Die Lider waren ein wenig geschwollen und in der Mitte ihrer Oberlippe war ein Riss zu sehen, der mittlerweile verschorft war. Einige Strähnen ihres langen, leicht gelockten, rotblonden Haares hingen an ihrem bleichen Gesicht herab. Dabei hatte sie die am Morgen, bevor sie ihre Wohnung verlassen hatte, noch besonders sorgsam aufgesteckt. Sie wollte ganz sicher sein, mit ihrer farblosen Erscheinung auf den Arzt keinen verwahrlosten Eindruck zu machen. Sich überhaupt ein wenig zurecht zu machen war ihr sehr schwergefallen. In ihrem Zustand schien jede kleine Anstrengung eine große Herausforderung zu sein. Eigentlich fühlte sie sich nur dann einigermaßen wohl, wenn sie im Bett liegen und schlafen konnte. Manchmal lag sie auch mit weit geöffneten Augen einfach nur so da und starrte vor sich hin, an die Decke oder zum Fenster hinaus. Tage später war sie bei ihrem Termin mit ihrem Psychologen Dr. Hausmann wenig überrascht darüber, als er erwähnte, dass sich ihr Hausarzt Dr. Stein mit ihm in Verbindung gesetzt hatte. Was genau die beiden aber besprochen hatten sagte er nicht. Im Grunde genommen wollte sie das auch gar nicht wissen. Tatsache war, dass ihre Krankschreibung um weitere vier Wochen verlängert worden war. Sie würde also noch einen ganzen Monat lang zu Hause bleiben können. Der Gedanke beruhigte sie außerordentlich, denn ihr normaler Arbeitsalltag machte ihr inzwischen nur noch Angst. Sie hatte in keiner Weise mehr das Gefühl, den Anforderungen ihres Lebens gerecht werden zu können. All das, woran sie früher keinen einzigen Gedanken verschwendet hatte, weil es das Normalste auf der Welt für sie gewesen war, wurde nun immer mehr zur beängstigenden Herausforderung. Das einzige, was sie sich in dieser Situation wünschte war, für eine möglichst lange Zeit nicht mehr mit der Welt in Berührung kommen zu müssen. Mit dieser Welt um sie herum, die so fordernd war und so anstrengend. Natürlich war ihr auch klar, dass, wenn sie die Zeit ihrer Krankschreibung wieder schlafend verbringen würde, vermutlich genau so wenig Positives für sie dabei herauskommen würde wie bisher. Dann würde diese Zeit ebenso vorüber sein wie all die anderen ihr ärztlich verordneten Auszeiten in ihrer jüngeren Vergangenheit. Trotz aller Erleichterung über den neuerlichen Aufschub fühlte sich Anneke zutiefst unglücklich. Sie konnte regelrecht spüren, wie sich dieses Gefühl immer tiefer in sie hineinfraß. Verzweifelt suchte sie nach einem positiven Gedanken. Sie suchte nach irgendetwas, das ihr Mut machte, oder das sie wenigsten ein bisschen optimistischer werden ließ. Nach einigem Nachdenken kam ihr in den Sinn, dass sie während der letzten Woche trotz ihres Infektes wenigstens keine Kopfschmerzen gehabt hatte. Das war ein positiver Gedanke, wenn auch nur ein winzig kleiner. Er war zwar nicht nützlich, aber tröstlich. Anneke versuchte, sich darüber zu freuen. Es wollte ihr nicht gelingen. Stattdessen ertappte sie sich bei der Vorstellung, dass es trotz ihres schlechten Zustandes immer noch Möglichkeiten zu weiterer Verschlechterung für sie gab. Diese Idee blähte sich in ihrem Kopf zu unförmiger Größe auf. Sie nahm nach und nach vollständig Besitz von ihr. Es schien ihr, als täte sich ein riesiges schwarzes Loch vor ihr auf in das sie hineinzustürzen drohte. Eine weitere einsame Woche lang dauerte es, bis sie eines Morgens mit dem Gefühl erwachte, dass ihr Leben so nicht weitergehen konnte. Sie hatte die ganze Zeit über ihre Wohnung praktisch nicht verlassen, wenn man einmal von ihrem kurzen Ausflug in den nahen Supermarkt absah. Sie hatte mit niemandem gesprochen und hatte auch niemanden sehen wollen. Sie hatte Max, ihren Eltern und sogar ihrer Freundin Jule gesagt, dass sie Ruhe brauchte und nicht gestört werden wollte. In der Tat hatten sich alle daran gehalten. Niemand hatte sie angerufen.

Inzwischen war es Dezember geworden. Als sie an diesem Morgen aus dem Fenster ihres Schlafzimmers sah, lag noch die Dunkelheit der Nacht über der Stadt. Es war erst vier Uhr am Morgen und sie war aufgestanden, weil sie nach den Tagen im Bett nicht mehr liegen konnte. Ihr Rücken schmerzte. Sie griff nach ihrem blassblauen Morgenmantel, der über dem Stuhl neben ihrem Bett hing und schlüpfte schnell hinein. Es war kühl im Zimmer. Während sie gedankenverloren den Gürtel in der Taille band beobachtete sie, wie unter den Straßenlaternen vor dem Haus winzige Schneeflocken vom Himmel herab fielen. Sie öffnete das Fenster. Ein Schwall kalter Winterluft strömte herein und ließ sie erschauern. Draußen roch es nach Schnee. Von der nahen Schnellstraße her drang das eintönige Brausen der Autos herüber. Selbst jetzt, in aller Frühe, war dort Hochbetrieb. Eine Stadt wie Berlin kannte keinen Schlaf. Sie sah die roten und weißen Lichter der Fahrzeuge in langen Ketten vorbeiziehen. Im Grunde genommen hasste sie diese Stadt. Sie fragte sich, warum ihr das nicht schon früher aufgefallen war. Ihre Wohnung kam ihr plötzlich vor wie ein Gefängnis. War es der Sinn eines Menschenlebens, sein Dasein in so einem Gefängnis zu fristen? Arbeiten zu gehen und Steuern zu zahlen, um sich dann von dem kleinen Rest des knappen Geldes irgendetwas kaufen zu können, von dem man hoffte, dass es einen glücklich machte? War das Mitlaufen in diesem endlosen Kreislauf nicht eines intelligenten Menschen unwürdig? Nachdenklich ließ Anneke ihren Blick über den Parkplatz vor dem Haus gleiten, auf dem die wie weiß bezuckert aussehenden Autos der Hausbewohner zu dieser frühen Morgenstunde noch dicht an dicht standen. Nur ein einziger Platz an der Seite unter der großen, jetzt kahlen Platane war leer. Von dort aus führten dunkle Reifenspuren im frischen Schnee zur nahegelegenen Straße hin. Es war nicht viel Schnee gefallen. Dennoch wirkte durch ihn alles viel freundlicher. Anneke fragte sich, ob es nicht irgendeinen Weg für sie gab, durch den sie sich aus diesem Dasein befreien konnte. Gedankenleer starrte sie in die kalte Dunkelheit hinaus. Wenn sie es recht betrachtete, so gab es natürlich schwerere Lebensschicksale als das ihre. Vielleicht war sie undankbar. Aber war es wirklich der einzige Weg in ihrem Leben, weiter unablässig in diesem Hamsterrad zu laufen, schneller und schneller, nur um den eigenen Abstieg zu verhindern? War es nicht eines vernunftbegabten Wesens unwürdig, sich mit diesem Konglomerat aus Arbeit und Stress, aus Selbstdisziplin und Zweckoptimismus zufrieden zu geben und so kraft- und freudlos dem ersehnten Ruhestand entgegenzutreiben? War es nicht beschämend, sich dabei auch noch an die vage Hoffnung zu klammern, sich vielleicht vorher noch den einen oder anderen Wunsch erfüllen zu können, um dann nach ein paar Jahren, in denen man seinem Berufsleben nachtrauerte oder seine Gebrechen pflegte, zu sterben? Der Schnee glitzerte freundlich im Licht der Laternen, die den Gehweg und den Parkplatz vor dem Haus beleuchteten. Es war ein friedlicher, fast schon romantischer Anblick. Kein Mensch war zu sehen. Anneke fror. Sie schloss das Fenster, um ins Badezimmer gehen. Im Flur blieb ihr Blick an dem Schlüsselbund ihrer Großmutter hängen, das ihr ihr Vater nach der Beerdigung in Michaelsdorf in die Hand gedrückt hatte. Über vier Wochen war das nun schon her. Damals, als sie zurückgekommen war, hatte sie es zu den anderen Schlüsseln an das kleine Brett neben ihrer Tür gehängt, an dem auch all ihre anderen Schlüssel hingen. Der helle, fast weiße Hühnergott mit den kleinen, grauen Stellen und dem Loch in der Mitte, durch das ein dicker Bindfaden gezogen war, fing jetzt ihren Blick ein wie ein Magnet. Anneke nahm das Schlüsselbund vom Haken und betrachtete es. Das Metall und der Stein lagen kalt in ihrer Hand. Sie hatte vollkommen vergessen, dass sie sich doch eigentlich noch einmal im Haus ihrer Großmutter umsehen wollte, dass sie die Spuren der Vergangenheit dort noch einmal auf sich wirken lassen wollte. Sie hatte überhaupt nicht mehr daran gedacht. Es kam ihr so vor, als läge die Beerdigung ihrer Großmutter schon Monate zurück, dabei waren es gerade einmal vier Wochen.

Seitdem sie aus Michaelsdorf zurückgekehrt war hatte sie sich nur noch um sich selbst gedreht. Zuerst war sie durch ihre Schwäche gehandicapt gewesen, dann noch zusätzlich durch ihre Grippe. Anneke war sich inzwischen auch ziemlich sicher, dass sie unter einem Burnout litt, auch wenn Dr. Hausmann ihr das nie so konkret gesagt hatte. Sie fragte sich, ob sie nicht auch schon zu schwach für ein ganz normales Leben war. In den langen Tagen und Nächten der Vergangenheit hatte sie sogar vergessen, das Andenken an ihre Großmutter in ihren Erinnerungen wach zu halten. Sie hatte tatsächlich nicht mehr an sie gedacht. Der Lebenskreis ihrer Großmutter hatte sich ganz leise geschlossen. Es war unabänderlich geschehen. Anneke fand das furchtbar und fühlte sich gleichzeitig schuldig und wie eine Egoistin, die imstande gewesen war, einfach so darüber hinweg zu gehen, als wäre nichts gewesen. Nur, um sich dann gleich wieder ihren eigenen Problemen zuzuwenden. Wenn überhaupt, so gab es nur eine einzige Entschuldigung dafür und zwar die, dass ihr gerade alle positiven Gedanken und ihre gesamte innere Harmonie verloren gegangen waren. Nachdem sie an diesem Morgen geduscht und gefrühstückt hatte, stellte sie fest, dass sie sich ein wenig besser fühlte, als an den Tagen zuvor. Deshalb fasste sie den Entschluss, die Gelegenheit sofort zu nutzen. Sie entschied daher, dass dieser Tag genau der Richtige war, um nach Michaelsdorf in das Haus ihrer Großmutter aufzubrechen. Vielleicht würde sie sogar einige Tage dort bleiben. Der Zeitpunkt war günstig, denn bis Weihnachten waren es noch drei Wochen. Dann hatte sie gemeinsam mit Max einen Besuch bei ihren Eltern in Bremen geplant. Selbstverständlich würde sie bis dahin längst zurück sein. Vielleicht würde sie sogar noch am selben Abend wieder nach Hause zurückkehren. Sie machte das davon abhängig, wie sie sich in dem verlassenen Haus fühlen würde und wie weit ihre Kräfte reichten.

 

Anneke packte eine Tasche mit warmen Sachen zusammen, stopfte ihr Bettzeug in einen Plastiksack und füllte einen Weidenkorb mit Lebensmitteln, denn sie hatte keine große Lust auf eine unnötige Einkaufstour in die benachbarte Kleinstadt. Sie wollte einfach nur ihre Ruhe haben. Falls sie irgendetwas Wichtiges vergessen hatte, dann blieb ihr das ja immer noch. Sicher waren auch noch allerlei Vorräte ihrer Großmutter im Haus. Ein wenig schauderte sie schon bei dem Gedanken daran. Sie fand es merkwürdig und traurig gleichermaßen, dass sie dort bestimmt auch Lebensmittel vorfinden würde, die ihre Großmutter für sich gekauft hatte oder Dinge, die sie für sich eingeweckt oder eingefroren hatte. Das alles hatte ihr Dasein überdauert, während sie selbst schon nicht mehr da war. Anneke stiegen bei diesem Gedanken sofort die Tränen in die Augen, doch sie versuchte, sich zu beherrschen. Sie war sich im Klaren darüber, dass es kein gutes Zeichen war, wenn sie schon weinen musste, bevor sie überhaupt gestartet war. Unwillkürlich kam ihr in den Sinn, das Vorhaben wieder abzubrechen, doch sie verwarf den Gedanken wieder. Sie war sich sicher, dass es dumm sein würde, die Zeit nicht zu nutzen, in der sie krankgeschrieben war und sich einigermaßen wohlfühlte. Wenn sie erst wieder arbeiten gehen musste, dann blieb ihr keine Zeit mehr für derartige Ausflüge.

Gegen acht Uhr, als der Morgen sich langsam anschickte die Dunkelheit über Berlin zu vertreiben, startete sie ihren in die Jahre gekommenen Kombi und fuhr Richtung Norden. Die Straßen in und um Berlin waren bereits geräumt und je weiter sie nach Norden kam, desto weniger Schnee war gefallen. Als sie die Autobahn nach etwa zwei Stunden Fahrzeit verließ, stellte sie fest, dass in Mecklenburg-Vorpommern keine einzige Schneeflocke lag. Ein trüber, graublauer Himmel hing schwer über dem Land. So weit das Auge reichte schien das Leben zum Erliegen gekommen zu sein. Trotzdem genoss sie den freien Blick bis zum Horizont. Der Wind hatte aufgefrischt und drückte gegen die Bäume rechts und links der Straße, die ihre kahlen Äste gen Himmel reckten. Nur recht wenige Autos waren auf den Straßen im Norden unterwegs. Anneke empfand das als wohltuend. Sie dachte darüber nach, wann sie in Berlin zum letzten Mal solchen Wind gespürt hatte. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Die Stadt hatte ihr die Luft zum Atmen genommen, hatte sie bedrängt und ihr immer mehr ihre unpersönliche Lebensphilosophie aufzwingen wollen. Einen Moment lang fühlte sie sich wie eine verlorene Seele, die auf der Suche nach irgendetwas war, an das sie sich selbst nicht mehr erinnern konnte. Es war schon merkwürdig, dass sich ihr der Blick auf das eigene Leben erst jetzt so richtig öffnete, nachdem sie die Stadt weit genug hinter sich gelassen hatte. Es war, als würde ihr die Distanz helfen, ihre Gedanken zu ordnen. Ihre Gedanken, die in den letzten Monaten keinen Ausweg aus ihrer Krise finden konnten, obwohl sie immer wieder danach gesucht hatte. Es war ihr, als würde nach und nach eine Art Lähmung aus ihrem Kopf verschwinden, als würde sich der Nebel langsam lichten. Es war ein merkwürdiges Gefühl, das befreiend und beängstigend zugleich war. Anneke fürchtete sich ein wenig davor, weil sie nicht wusste, wohin sie das führte, wollte sich ihm aber trotzdem nicht entgegenstellen. In ihrer Vergangenheit war sie eine Zeitlang so beseelt von dem Wunsch gewesen, alle negativen Gedanken aus ihrem Gehirn zu verbannen, dass sie in ihrem Eifer oft gar nicht bemerkt hatte, dass dadurch genau das Gegenteil für sie eingetreten war. Bei diesem Gedanken kam ihr ein Satz ihrer Mutter in den Sinn, den sie früher so oft gesagt hatte und der lautete: „Wenn man nicht hat was man liebt, muss man lieben was man hat.“ Jetzt fand Anneke diesen Satz merkwürdig. Früher hatte sie nie darüber nachgedacht war er bedeutete. Von Kindheit an war er ein Teil ihrer Realität gewesen und später hatte er ihr die Hoffnung gegeben, dass ihr ihr freudloses Leben in Berlin vielleicht doch noch gefallen würde, wenn sie die kalte Stadt nur genug lieben würde. Leider hatte das nicht funktioniert. Irgendwann war ihr klar geworden, dass aus einem Klavier kein Sofa zu machen war und dass dieser Satz sie nicht glücklicher werden ließ. Ihrer Ansicht nach lag das daran, dass sie nicht fähig war, etwas zu lieben das sie nicht liebte. Für sie war das reiner Selbstbetrug.

Es war später Vormittag, als sie das kleine Dorf direkt am Bodden erreichte. Sie stoppte den Wagen vor dem Haus ihrer Großmutter und stieg aus. Das schmiedeeiserne Tor quietschte wie zur Begrüßung, als sie es öffnete. Langsam fuhr sie hindurch und stellte ihr Auto auf den Platz direkt neben dem Haus, auf dem es auch früher immer gestanden hatte. Langsam, beinahe zögernd, stieg sie erneut aus. Ein kalter Nordostwind fuhr unter ihre dicke Jacke. Er blies ihr ins Gesicht und verfing sich in ihren rotblonden Haaren, die er blitzschnell durcheinanderwirbelte. Hastig zog Anneke sich die Kapuze über den Kopf. Ihr Blick lag währenddessen auf dem dunkelblauen Wasser des Boddens hinter dem Haus, auf dem kleine Wellen mit Schaumkrönchen einen wilden Tanz vollführten. Der Schilfgürtel am Ufer raschelte jedes Mal, wenn eine weitere Böe durch ihn hindurch fuhr. Der alte Apfelbaum im Garten schwankte ein wenig und gab ein leises, knarrendes Geräusch von sich. Einer seiner großen Äste war vom Sturm abgebrochen und hing herab. Auch die Krone schien beschädigt zu sein. Sie drohte abzubrechen und schwankte hin und her. Aufmerksam betrachtete Anneke den Schaden. Dummerweise stand der Baum recht nahe am Haus, so dass es nicht egal war, wie gut seine Äste mit dem Sturm zurechtkamen. Anneke war klar, dass sie sich darum kümmern musste. Langsam ging sie weiter und lenkte ihre Schritte auf dem mit roten Backsteinen gepflasterten Weg hinter das Haus. Dort stand sie eine Weile und betrachtete nachdenklich den großen Garten, der sich jetzt in winterlicher Ruhe vor ihr ausbreitete. Sie ließ ihren Blick über die abgeernteten Gemüsebeete mit den übrig gebliebenen Grünkohlpflanzen gleiten, über die jetzt kahlen Rosenstöckchen und die Kirschlorbeerhecke, die ihre gewachsten Blätter auch im Winter behielt. Da waren auch der alte Walnussbaum und das Hochbeet, das ohne Kräuter jetzt so völlig kahl aussah. Weiter hinten, in einer windstillen Ecke des Gartens, stand das neue Gewächshaus aus Glas, das sich ihre Großmutter erst vor zwei Jahren angeschafft hatte. Unweit davon, hinter den Obstbäumen und dem Gartenzaun, waren es dann kaum mehr als fünfzig Meter bis zum Schilf, welches das Land vom Wasser trennte. Anneke stand ganz still und ließ die Schönheit und die Ruhe dieses Augenblicks auf sich wirken. Sie genoss den weiten Blick über das Wasser bis hin zum Horizont und atmete ganz tief ein. Die Luft war eiskalt. Sie roch salzig. Anneke schloss einen Augenblick lang ihre Augen. All das hatte sie in Berlin vermisst und sie hatte es irgendwann noch nicht einmal mehr bemerkt. Mit den Jahren war ihre Sehnsucht nach all dem hier in der Enge der Stadt beinahe verlorengegangen. Sie hatte das sogar für „vernünftig“ gehalten. Damals, nach ihrer Scheidung, war sie entschlossen gewesen, nicht länger irgendwelchen Träumen nachzuhängen. Sie hatte einen Schlussstrich unter ihre gesamte Vergangenheit gezogen, hatte in jeder Hinsicht das Gefühlt gehabt, sich sonst nur selbst zu blockieren. Entschlossen hatte sie sich zu der Sichtweise durchgerungen, dass das Leben nun einmal nicht in der Lage war, die Wünsche eines jedes Menschen erfüllen zu können. Dem folgend hatte sie versucht sich einzureden, dass ihr Leben nach der Scheidung umso leichter für sie sein würde, je realistischer sie dieser Tatsache ins Auge sah und je schneller sie sich damit abfand. Leider hatte das für sie nicht funktioniert. Anneke hatte auch versucht sich klarzumachen, dass das Leben in der Stadt ihr nur Vorteile bot. Der erste Vorteil bestand beispielsweise in einer warmen Wohnung, um die sie sich nicht zu kümmern brauchte, solange sie ihre Miete pünktlich bezahlte. Auch vieles andere war in der Stadt bequem geregelt. Dort war alles auf Konsum ausgerichtet. Anneke war überzeugt davon, dass das die vielen Menschen auf engstem Raum bei guter Stimmung halten sollte. Hier, wo sie jetzt stand, hoch im Norden, war vieles ganz anders. Jeder musste sich um sein Häuschen selbst kümmern. Mietwohnungen gab es nur wenige in dieser Gegend und vermutlich lieferte noch nicht einmal ein Pizzadienst hierher. Zum Einkaufen oder zum Arzt fuhr man die 14 Kilometer in die nächste kleine Stadt am besten im eigenen Auto, denn der Bus hielt hier nur wenige Male am Tage. Das alles war gut und schlecht zugleich. Es machte einerseits frei und unabhängig, aber es verlangte andererseits aber auch sehr viel Eigenständigkeit. Die Leute im Dorf schien das jedenfalls nicht zu stören. Sie kannten es nicht anders. Auf Menschen, die in der Großstadt lebten, mochten die Lebensumstände hier jedoch befremdlich wirken. Ihr Blick huschte über die beiden großen Holzstapel in unmittelbarer Nähe des Hauses. Das Holz für die beiden Kachelöfen vorrätig und gut verwahrt zu wissen war ihrer Großmutter immer ganz wichtig gewesen. „Der nächste Winter kommt bestimmt.“, und: „Nach dem Winter ist vor dem Winter.“, hatte sie oft gesagt. Anneke erinnerte sich noch genau an ihre Worte. Sie hatte das lächelnd an den warmen Sommertagen verkündet, wenn Anneke ihr beim Holzstapeln helfen sollte und das als kleines Mädchen in der sommerlichen Hitze nicht einsehen wollte. Nun war er also wieder da, der Winter. Nur Großmutter Hermine gab es nicht mehr. Anneke fühlte sich traurig beim Anblick der mustergütig aufgestapelten Holzscheite, die bis vor Kurzem noch der ganze Stolz ihrer Großmutter gewesen waren. Alles in Ordnung zu wissen war für Hermine ein Teil ihrer Freiheit gewesen. Ein wenig konnte sie jetzt verstehen, warum die alte Dame immer dankbar dafür gewesen war, sich bis zum Schluss noch um all ihre Angelegenheiten selbst kümmern zu können. Anneke hatte darin nie etwas Besonderes gesehen. Für sie hatte das immer wie selbstverständlich zum Leben ihrer Großmutter dazugehört. Erst jetzt, im Nachhinein, erkannte sie, dass es das nicht war. Das Haus und der Garten waren, besonders im Alter, bestimmt eine große Herausforderung für sie gewesen und hatten vermutlich ihre gesamte Aufmerksamkeit und all ihre Kräfte gefordert. Jetzt, wo Anneke das alles plötzlich so sehen konnte, war sie einmal mehr beeindruckt davon, in welcher Ordnung ihre Großmutter ihr Grundstück hinterlassen hatte. Der Garten und das Haus machten keinesfalls einen vernachlässigten Eindruck. Es sah vielmehr so aus, als wäre ihre Besitzerin lediglich für eine kleine Weile verreist. Ein weiterer großer Holzhaufen lag am Ende der Einfahrt. Das Holz schien noch recht frisch zu sein. Es war noch nicht aufgestapelt und harrte der Dinge, die da kommen würden. Während Anneke den Holzhaufen betrachtete konnte sie sich auch wieder genau daran erinnern, was es damals für sie bedeutet hatte, gemeinsam mit ihrer Großmutter den Schnee rund um das Haus bis zur Straße hin wegschaufeln zu müssen. Es waren kalte Winter gewesen, in denen das Wasser draußen in den Eimern gefror und der Nordostwind tagelang an den Fenstern und Türen des Hauses gerüttelt hatte. Als kleines Mädchen hatte sie sich dann morgens immer so lange in ihr Bett gekuschelt, bis das Feuer in den Kachelöfen begonnen hatte, Wärme im Haus zu verbreiten. Später, in den letzten Jahren, gab es dann zwar die Gasheizung, aber Großmutter hatte trotzdem weiter unbeeindruckt ihre Kachelöfen geheizt. Anneke musste unwillkürlich lächeln, wenn sie daran dachte. Das sah ihr ähnlich. Die Gasheizung musste geschont werden. Aber es gab noch einen anderen, wichtigeren Grund. Das war der, dass Großmutter Hermine das Gas nie geheuer gewesen war und sie immer befürchtet hatte, ihr Häuschen könnte davon „in die Luft fliegen“. Ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn, die viel Geld für die Heizungsanlage ausgegeben hatten, hatte sie erklärt, sie würde die Heizung später nutzen. Später, wenn sie vielleicht nicht mehr in der Lage sein würde, selbst zu heizen. Diesen Zeitpunkt hatte es zum Glück nie gegeben. Das „später“ war ihr erspart geblieben. Andächtig stand Anneke immer noch an derselben Stelle. Alles um sie herum war wie eingefroren. Vermutlich sahen die meisten Gärten um diese Jahreszeit so aus. Auf den ersten Blick deutete tatsächlich nichts darauf hin, dass das Grundstück schon seit einigen Wochen verwaist war. Anneke hielt das auch dem Engagement von Martha und Willi zugute. Die beiden hatten nach dem Tod ihrer Großmutter sofort angeboten, sich erst einmal darum zu kümmern und sie hatten es offensichtlich auch getan. Hier in Vorpommern galt ein Wort noch, zumindest unter den Einheimischen. Der norddeutsche Menschenschlag mochte stur und verschlossen sein, aber er war zuverlässig. Anneke wusste das, war sie doch selbst zur Hälfte von diesem Blut. Manchmal konnte sie es trotzdem kaum glauben, dass ihre Mutter tatsächlich aus diesem Dorf stammte. Sie war so ganz und gar Stadtfrau, dass es den Eindruck machte, als könnte das gar nicht möglich sein. Die Berliner Herkunft ihres Vaters hatte die Wandlung ihrer Mutter sicher intensiviert und beschleunigt. Anneke selbst dagegen war es inzwischen unbegreiflich, dass sie noch bis vor einigen Jahren fest daran geglaubt hatte, auch eine Großstadtpflanze zu sein. Sicher kam das daher, dass sie die meiste Zeit ihres Lebens in Berlin verbracht hatte. Doch inzwischen war viel passiert. Ihr Leben war weitergegangen und das emsige Treiben, die Hektik und Unsicherheit der riesigen Stadt mit ihrer Geräuschkulisse, der immerwährende Arbeitsdruck, der auf ihr lastete, der ständige Aufenthalt in geschlossenen Räumen und der völlige Verlust ihrer inneren Harmonie hatten inzwischen einen anderen Menschen aus ihr gemacht. Vierundvierzig Jahre Leben waren in ihren Augen genug, um eine erste Bilanz zu ziehen. Sie fiel ernüchternd aus.