Die Besprecherin

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Später am Nachmittag ging sie noch einmal allein zum Wasser. Sie wollte einen kleinen Spaziergang machen, nachdem sie sich entschieden hatte, mit Max auf sein Drängen hin bereits am Abend nach Berlin zurück zu fahren. Nachdem sie sich von ihren Eltern verabschiedet hatte, die ebenfalls schon im Aufbruch Richtung Bremen begriffen waren, nahm sie den kleinen Weg hinter dem Dorf am Waldrand entlang. Er führte sie direkt an den Bodden, dessen Wasser dunkelgrau schimmerte. Die Wellen an seiner Oberfläche glitzerten. Der Wind hatte noch etwas mehr aufgefrischt und blies ihr kalt ins Gesicht. Entschlossen zog sie sich die Kapuze ihrer gelben Wetterjacke über den Kopf. Es hatte ein wenig zu regnen begonnen, aber das störte sie nicht. Sie kannte das Wetter hier, das von derselben unberechenbaren Art war wie das Wetter unmittelbar an der Küste. Der Nieselregen ließ Wassertropfen über ihr Gesicht laufen. Die Häuser des Dorfes waren hinter ihr zurückgeblieben. Langsam senkte sich die Dunkelheit schweigend auf alles um sie herum. Das erste Mal seit Wochen empfand sie tief in sich so etwas wie Frieden. Sie stand ganz still im letzten Licht des hereinbrechenden Abends unter dem großen, wolkenverhangenen Himmel. Weder Mond noch Sterne waren zu sehen. Nur das Plätschern der Wellen war zu hören und das Rascheln des Schilfgrases in ihrer Nähe. Doch das ängstigte sie nicht. Sie war vertraut mit den Geräuschen der Natur an diesem Ort. Ein Vogel ließ ein schrilles Pfeifen hören. Anneke konnte ihn in der Dunkelheit jedoch nirgends entdecken. Marthas Worte kamen ihr wieder in den Sinn. Sie hatte gesagt, dass zweiundneunzig Jahre ein schönes Alter war, und dass Großmutter Hermine nicht gelitten hatte. Ihre Worte waren für sie tröstlicher als alles, was die Pfarrerin in ihrer Grabrede gesagt hatte. Anneke ließ ihren Blick über das dunkle Wasser gleiten und über den fernen Horizont, der jetzt verschwommen irgendwo dahinter lag. Es kam ihr in den Sinn, dass in einhundert Jahren niemand mehr an diesem Ort leben würde, den sie kannte. Nicht ein einziger Mensch würde noch in diesem Dorf wohnen, der ihr vertraut war. Es würde ein Dorf voller fremder Menschen sein. Zum Glück war sie dann auch nicht mehr da. Mit großer Dankbarkeit dachte sie an Martha und Willi. Die beiden waren ihrer Großmutter immer in Freundschaft verbunden gewesen und sie hatten sich auch jetzt um vieles gekümmert. Anneke war klar, dass es in dieser Zeit nicht mehr selbstverständlich war, solche verlässlichen Nachbarn zu haben. Ihre Gedanken gingen an dieser Stelle unweigerlich hin zu ihrem eigenen, trostlosen Leben in Berlin, zu dem Hamsterrad ihrer Arbeit und zu ihrem schrecklichen Zustand. Sie dachte an die vielen Dinge, die sie trotz allem erledigen musste und hatte das Gefühl gar nichts mehr zustande zu bringen und niemals mit ihren Aufgaben fertig zu werden. Auch ihre Kollegen schienen das schon bemerkt zu haben. Anneke dachte an das Gefühl der Hilflosigkeit, das sie schon so lange Zeit mit sich herum trug. Inzwischen konnte sie sich kaum noch an andere Zeiten erinnern. Gedanken an die immer wiederkehrenden, hämmernden Schmerzen in ihrem Kopf drängten sich ihr auf, an das beängstigende Herzstolpern und an die lähmende Energielosigkeit. Jetzt atmete sie die frische Seeluft ein und hatte seit langer Zeit endlich einmal wieder das schon fast vergessene Gefühl, noch am Leben zu sein. Am Leben zu sein und nicht nur zu funktionieren. Wie oft hatte sie sich in ihrer kleinen Stadtwohnung im Erdgeschoss des Mietshauses isoliert und eingesperrt gefühlt, vor allem seit Max ausgezogen war? Sie hatte dort die Wochen und Monate in beängstigender Schwäche und in tiefer Mutlosigkeit verbracht. Trotzdem hatte sie immer versucht, die quälende Herausforderung ihrer Arbeitstage anzunehmen. Nur an den Wochenenden oder wenn sie krankgeschrieben war, war es ihr ein wenig besser gegangen. Dann hatte sie die meiste Zeit über geschlafen. Darüber war ihr oft genug alles andere gleichgültig geworden. Ohne Zweifel befand sie sich mit ihrem Leben an einem absoluten Tiefpunkt. Sie wusste nicht mehr weiter. So sah nicht das Leben aus, das sie sich vorgestellt hatte. Wie schon so oft fragte sie sich im Stillen, was sie nur falsch gemacht hatte, dass sie nun in solchen Umständen feststeckte. Nach ihren sechzehn Arbeitsjahren am selben Arbeitsplatz verdiente sie noch nicht einmal gut. Trotzdem hatte sie Befürchtungen, dass sie finanziell wieder ganz von vorn anfangen musste, wenn sie sich beruflich verändern wollte. Ihr war auch klar, dass sie mit ihrem Diplom in Biotechnologie nach den vielen Jahren keinen Blumentopf mehr gewinnen konnte. Im Nachhinein schien es ihr der größte Fehler ihres Lebens gewesen zu sein, damals übereilt nach der Stelle im Autohaus gegriffen zu haben. Es wäre besser gewesen, auf ein Angebot zu warten, das ihrer Qualifikation entsprochen hätte. Aber da war eben Michael gewesen, der ihr keine Wahl gelassen hatte. Im Nachhinein konnte sie an ihrer Entscheidung von damals leider nichts mehr ändern. Von ihren Eltern kannte sie solche verwirrten Zustände nicht. Die beiden lebten schon seit vielen Jahren in Bremen und schienen dort zufrieden zu sein. Anneke hatte schon längst bemerkt, dass sie ihren erschöpften Zustand nicht verstehen konnten, ihn eher als eine Art Bagatelle ansahen, die vorübergehen würde. Die beiden hatten sie bereits spüren lassen, dass sie ihr Problem nicht sonderlich ernst nahmen. Anneke erinnerte sich noch genau daran, mit welchem Gesichtsausdruck sie vorhin von ihrem Vater das Schlüsselbund von Großmutters Häuschen in die Hand gedrückt bekommen hatte. Sie erinnerte sich auch noch genau an seine Worte: „Sieh mal nach, ob du von dem alten Zeug noch irgendetwas gebrauchen kannst. Wir werden das Haus verkaufen, denn es hat ja niemand von uns Zeit, sich darum zu kümmern. Und hier am Ende der Welt könnte man ja auch gar nicht leben!“ Er war in Eile gewesen, wollte schnell nach Bremen zurück. Anneke hatte ein wenig ratlos vor ihm gestanden und verunsichert geantwortet: „Ich hab keine Ahnung, ob man hier leben kann. Großmutter konnte es jedenfalls. Und sie ist sehr alt geworden dabei. Das beweist nicht gerade, dass es nicht geht.“ Nach diesem Satz hatte ihr Vater sie tadelnd angesehen und schnell eingelenkt: „Wie auch immer. Deine Mutter und ich wollen uns jedenfalls mit dem alten Kasten nicht belasten. Das Ding muss verkauft werden. Wir haben schließlich unser Haus in Bremen und das reicht uns vollkommen. Du hast ja bestimmt auch kein Interesse daran. Ich denke, wir sollten uns bald darum kümmern.“ Er nickte während er das sagte, so als wollte er dadurch seinen Worten noch mehr Ausdruck verleihen. Dann warf er dem Haus einen kritischen Blick zu und fuhr fort: „So wie es aussieht muss hier bald einiges gemacht werden. Häuser werden nicht besser davon, dass sie unbewohnt in der Gegend herumstehen. Auf jeden Fall muss es aber vorher ausgeräumt werden. Schau dir an, ob du noch etwas gebrauchen kannst. Mit allem Drum und Dran und dem ganzen Krempel drinnen nimmt es sowieso keiner!“ Anneke nickte wortlos. Ihr Vater umarmte sie. „Mach´s gut, meine Große! Deine Mutter hat es auch eilig. Wir wollen zurück nach Hause. Bis Bremen sind es vier Stunden. Die Einöde hier schlägt mir aufs Gemüt und ich glaube deiner Mutter auch!“ Er schüttelte den Kopf und fügte dann hinzu, als wäre ihm dieser Gedanke gerade erst gekommen: „Du kannst das Haus übrigens gern haben. Deine Mutter hätte nichts dagegen. Sprich nochmal mit ihr darüber. Aber ich finde nicht, dass das eine gute Idee wäre. In dieser Einöde….. Aber natürlich wäre es deine Entscheidung. Nur mach dich nicht unglücklich damit, Kind. Als Wochenendhaus werden dir die Unterhaltungskosten schnell über den Kopf wachsen. So viel verdienst du nicht, dass du dir das leisten könntest!“ Nachdem sich Anneke auch von ihrer Mutter verabschiedet hatte, die ihr ebenfalls frei stellte, sich für das Haus zu entscheiden, wollte sie hinüber zu Martha und Willi gehen. Max war bereits dort und wartete auf sie. Er wollte auch so schnell wie möglich wieder nach Berlin zurück. Anneke hatte seine Eile gespürt. Gleichzeitig fühlte sie das Schlüsselbund in ihrer Tasche, zog es langsam hervor und betrachtete es voller Wehmut. Drei große und drei kleine Schlüssel befanden sich an dem Schlüsselring, an dem auch ein kleiner Hühnergott befestigt war. Ein kleiner, grau-weißer Stein vom Strand, der in der Mitte ein natürliches Loch hatte. Ein dicker Hanf-Bindfaden war hindurch gezogen. Anneke war unendlich traurig, dass sie dieses Schlüsselbund jetzt in ihren Händen hielt. Sie hatte das Gefühl, dass das nicht in Ordnung war. Noch immer war sie weit davon entfernt, wirklich zu begreifen, dass ihre Großmutter nie mehr wiederkehren würde. Natürlich wusste ihr Verstand, dass es so war, aber mit ihrem innersten Gefühl sah es anders aus. Einen Moment lang verspürte sie den Impuls, einen kleinen Rundgang durch das einsame Haus zu machen, das ganz am Ende des Dorfes stand und jetzt in vollkommener Dunkelheit lag. Vielleicht würde es sie trösten, zwischen all den Dingen zu sein, die ihrer Großmutter etwas bedeutet hatten. Vielleicht war da auch noch eine wie auch immer geartete Lebens-Spur von ihr zu finden, mit der sie, vor allem in Kindertagen, so eng verbunden gewesen war. Selbst den Vornamen Anneke hatte sie ausgesucht, nachdem ihre Eltern noch bis kurz vor ihrer Geburt unsicher gewesen waren, welchen Namen sie ihrer Tochter geben sollten. Hermine hatte Anneke vorgeschlagen. Der Name stammte aus dem Niederdeutschen und gefiel ihr gut. Sie war immer stolz darauf gewesen, dass ihre Enkeltochter den Namen trug, den sie ausgesucht hatte.

Während Anneke immer noch ein wenig unschlüssig vor dem Haus ihrer Großmutter stand und darüber nachdachte, ob sie hineingehen sollte, öffnete Willi im Haus gegenüber ihr bereits die Tür. Willi war mit seinen 74 Jahren noch ausgesprochen rüstig, obwohl ihm seine Kniegelenke manchmal zu schaffen machten. Dennoch weigerte er sich standhaft, irgendetwas daran operieren zu lassen. Er war der Überzeugung, dass das sein Problem noch mehr verschlimmern würde. Er hatte einen alten Schulfreund, auf den das zutraf und der ihm aus diesem Grunde strikt von jeder Operation abgeraten hatte. Jetzt stand er mit seinem etwas schütteren Haar in einem blau-grün-weiß-karierten Flanellhemd mit aufgekrempelten Ärmeln und einer Arbeitshose in der Tür und rief ihr zu: „Komm rein, Anneke! Was stehst du da draußen herum? Das Wetter ist wirklich nicht danach. Und dein Max ist auch schon hier! Martha macht uns was zum Abendessen.“ Er machte eine einladende Handbewegung. Anneke verwarf die Idee mit dem Rundgang durch das Haus sofort. Und wenn sie es recht betrachtete, so war ihr auch ein wenig bange bei dem Gedanken daran, sich dort jetzt so allein aufzuhalten. Vermutlich hätte sie sich gefühlt wie ein Eindringling. Beim Abendessen versuchte Martha das Gespräch von dem traurigen Tagesereignis, der Beerdigung, weg zu lenken. Es gelang ihr nur teilweise. Max musste von der Uni erzählen und von seinem neuen Leben in der Studenten-WG. Martha und Willi hörten ihm aufmerksam zu und amüsierten sich dabei. Es war offensichtlich, dass sie die modernen Zeiten für ein wenig verrückt hielten. Später, als die Zeit des Abschiedes gekommen war, bat Martha sie eindringlich: „Es wäre schön, wenn ihr das Haus an jemand Vernünftigen verkaufen würdet. Am besten an jemanden, der hier auch wohnen will und nicht nur während ein paar schöner Tage im Sommer hier auftaucht. Von diesen Leuten gibt es schon mehr als genug bei uns. Die Städter kommen während der paar Sommermonate hierher, um bei uns in kurzer Entfernung zu dem Trubel der Ostseebäder Urlaub zu machen. Manchmal denke ich, sie fallen hier ein wie eine Heuschreckenplage und kaum sind die Sonnentage vorüber, dann sind sie auch schon wieder für Monate verschwunden. Es wäre viel schöner, wenn jemand dauerhaft hier wohnen würde, so dass wir wieder Nachbarn hätten. Neue Leute kann ein kleines Dorf wie unseres immer gebrauchen.“ Anneke nickte. Sie kannte das Problem. Die jungen Leute zogen weg in die Städte, weil dort alles bequemer war und sie dort einfacher gut bezahlte Arbeit fanden. Die Häuser der Eltern und Großeltern wurden irgendwann verkauft oder zu Ferienhäusern umgebaut. Die meiste Zeit des Jahres wohnte niemand mehr darin. Die Dorfgemeinschaft wurde immer kleiner und immer älter. Supermärkte und Ärzte gab es nur in der etwa zwanzig Autominuten entfernten Kleinstadt und wer kein Auto hatte war schlecht dran. Es war dasselbe Problem, das sich Michaelsdorf mit tausenden kleinen Dörfern überall in Deutschland teilte. Von der schönen Natur allein konnte kein Dorf leben. Es brauchte Menschen, die sich das Leben dort auch leisten konnten, weil sie ihr Geld in der Nähe verdienten. Nur zu gern hätte Anneke Martha und Willi auf der Stelle versprochen, eine nette Familie zu finden, die sowohl freundliche Nachbarn, als auch neue Mitglieder der Dorfgemeinschaft werden wollten. Leider hatte sie nicht die Spur einer Idee, wie sie das bewerkstelligen sollte. Sie dachte an die Worte ihres Vaters, der das Haus ihrer Großmutter als „alten Kasten“ bezeichnet hatte. Aus ihrer Sicht sah ein „alter Kasten“ aber völlig anders aus. Diese etwas überhebliche Einschätzung kam wohl daher, weil ihre Eltern immer gut verdient hatten und es im Laufe der Jahre dadurch zu recht beachtlichem Wohlstand gebracht hatten. Dazu gehörte auch ein schmuckes, neues Häuschen in einer der besten Wohngegenden von Bremen. Gegen das Haus ihrer Eltern war vermutlich fast jedes Haus hier im Dorf ein „alter Kasten“. Aber das stimmte so nicht. Häuser waren in Annekes Augen nicht schön durch ihren Komfort oder ihre schicke Fassade, sondern in erster Linie durch ihre Behaglichkeit und die Geborgenheit, die sie ausstrahlten. Und von beidem hatte das Haus ihrer Großmutter reichlich. Es war ein roter Backsteinbau aus den Zwanzigerjahren. Ein altes Bauernhaus, das Hermine von ihren Eltern geerbt hatte. Es war nicht sehr groß und stand als allerletztes recht nah am Bodden. Die Fenster und Türen strahlten in tadellosem weiß und waren erst vor wenigen Jahren erneuert worden, genauso wie die Holzverschalung an den beiden Giebeln. Das Dach war landschaftstypisch mit Reet gedeckt und obwohl seit seiner letzten Erneuerung schon etwa fünfzehn Jahre ins Land gegangen waren, sah es immer noch sehr gut erhalten aus. Es gab zwei große Kachelöfen im Erdgeschoss, mit denen Hermine im Winter gewöhnlich das gesamte Haus geheizt hatte. Hinzu kam, dass es inzwischen noch eine Gasheizung gab, für deren Installation ihre Eltern gesorgt hatten und deren Nutzung weitaus bequemer für die alte Dame gewesen wäre. Allerdings hielt Hermine nicht viel von Gasheizungen. Das mit den „neumodernen“ Dingen war in ihren Augen schon immer so eine Sache gewesen. Sie hatte die Befürchtung nie ablegen können, dass ihr Häuschen eines Tages dadurch in die Luft fliegen könnte. Es war nicht möglich gewesen, sie umzustimmen. So blieb die neue Gasheizung im Wesentlichen ungenutzt, was Annekes Eltern immer geärgert hatte. Hermine allerdings hatte das wenig gekümmert. Sie hatte sich damit rechtfertigt, dass sie die neue Heizungsanlage schließlich gar nicht haben wollte. Wenn Anneke nur eine Idee gehabt hätte, wer das Haus hier am Ende der Welt hätte kaufen können, sie hätte Martha und Willi damit sicher eine große Freude gemacht. Vermutlich hätte das eine Last von ihren Schultern genommen. Aber so wusste sie auch erst einmal keinen Rat. Käufer für alte Reetdach-Häuser in etwas abgelegenen Gegenden von Nordvorpommern gab es nun einmal nicht wie Sand am Meer.

 

Als Max und sie sich an diesem Abend von Martha und Willi verabschiedeten, war Anneke schwer ums Herz. Es kam ihr so vor, als ob mit dem Tod ihrer Großmutter auch ein Teil von ihr gestorben war und hier zurückbleiben würde. Es war der Teil, der entscheidend dazu beigetragen hatte, dass sie eine glückliche und behütete Kindheit erlebt hatte. Anneke hatte sich besonders in der letzten Zeit, in der es ihr schlecht gegangen war oft gefragt, was wohl ohne den bodenständigen Einfluss ihrer Großmutter aus ihr und ihrem Leben geworden wäre. Vielleicht wäre sie dann heute genauso versessen auf Karriere und Geld wie die meisten anderen Menschen um sie herum und mit einem dicken Bankkonto irgendwo in den „besseren Kreisen“ unterwegs. Sie dachte an ihre Eltern, die in erster Linie wegen ihres beruflichen Weiterkommens und ihrer besseren Verdienstmöglichkeiten aus der Berliner Vorstadt nach Bremen umgezogen waren. Finanziell hatte sich das für sie zweifellos gelohnt. Nur, dass sie auf diese Art mit ihrem Leben glücklich geworden waren, das wagte Anneke zu bezweifeln. Viel Geld beruhigte ganz bestimmt. Aber machte es auch glücklich? Waren ihre Eltern nicht ständig mit irgendetwas unzufrieden? Noch niemals hatte sie von ihnen gehört, wie gern sie in Bremen lebten und sie hatte sie auch nur selten von den Menschen sprechen hören, die sie schätzten oder die zu ihrem Freundeskreis zählten. Aber sie fuhren einen riesigen Audi und machten jedes Jahr mindestens zwei große Reisen, seit sie im Ruhestand waren. Trotzdem wirkten sie nicht zufrieden mit sich und ihrem Leben. Es mochte sein, dass Anneke dafür besonders sensible Antennen hatte, denn sie war ja selbst nicht glücklich. Um wieviel zufriedener war Großmutter Hermine dagegen gewesen, die immer mit ihrer kleinen Rente und der winzigen Witwenrente von Opa Benno haushalten musste! Anneke konnte sich nicht daran erinnern, dass sie jemals mit ihrer Situation gehadert hatte. Besonders nachdem Opa Benno gestorben war, war sie regelrecht aufgeblüht. Mit dem Wenigen, was sie besaß, war sie immer zufrieden gewesen. Vielleicht war es die Abgeschiedenheit an diesem Ort, den sie nur selten verlassen hatte, der freie Blick bis zum Horizont, die raue Schönheit der Natur, der Wind, die Nähe des Wassers und der Geruch des Meeres in der Luft. Zweiundneunzig Jahre Leben waren sicher genug, um für sich selbst herauszufinden, was Glück bedeutete. Zumindest also ihre Großmutter schien diese Aufgabe erfolgreich gemeistert zu haben. Anneke jedenfalls hatte sie nur glücklich in Erinnerung. Manchmal hatte sie an lauen Sommerabenden mit ihr und den Nachbarskindern hinter dem Haus auf der Bank unter dem großen, alten Apfelbaum gesessen. Mit dem Blick auf den blühenden Bauerngarten hatte sie den Kindern Geschichten aus ihrer Jugend erzählt. Sie hatte das so getan, dass ihr alle atemlos zugehört hatten, obwohl die Geschichten bei genauer Betrachtung eigentlich gar nicht so aufregend gewesen waren. Anneke hatte bereits damals für sich erkannt, dass es nur darauf ankam, was man aus allem machte. Hermine hatte es zweifellos verstanden, aus ihren kleinen Anekdoten einzigartige, geheimnisvolle Erzählungen zu machen. Manchmal hatte sie auch aus einem großen, roten Märchenbuch vorgelesen, das in uralter Schrift gedruckt war. Weder Anneke noch eines der anderen Kinder war in der Lage gewesen, diese alte Schrift zu entziffern. Die Geschichten aus dem Buch erschienen ihnen dadurch umso geheimnisvoller. Dieses uralte, rote Märchenbuch hätte sie wirklich gern zum Andenken an ihre Kindheit hier im Dorf gehabt. Sie nahm sich vor, bald wiederzukommen und danach zu suchen.

Inzwischen war es spät geworden. Max drängte wiederholt zum Aufbruch. Anneke umarmte Martha und Willi zum Abschied und versprach ihnen, bald wiederzukommen. Trotz der Traurigkeit des Tages erleichterte es sie jetzt, dass sie mit dem Schlüsselbund ihrer Großmutter auch irgendwie den Zugang zu ihrer alten, heilen Welt bei sich trug. Das gab ihr das Gefühl, dass noch nicht alles verloren war. Großmutter Hermine war zwar nicht mehr auf dieser Welt, aber ihr Haus war noch da und all die Dinge, die sie besessen hatte, waren noch da. Etwas von ihr war geblieben, an das sie ihr trauriges Herz hängen konnte. Während Max die Fahrt zurück nach Berlin am Steuer ganz allein meistern musste, war Anneke auf dem Beifahrersitz vor Erschöpfung bereits eingeschlafen, noch bevor sie die Autobahn in Richtung Süden erreicht hatten.

Kapitel 2

Völlig ausgelaugt von diesem anstrengenden Tag verbrachte Anneke den darauffolgenden Sonntag größtenteils im Bett. Sie sah sich außerstande aufzustehen, obwohl sie sich noch nicht einmal die Zähne geputzt und sich nicht gekämmt hatte. Eigentlich war sie mit Max zum gemeinsamen Mittagessen verabredet gewesen. Jetzt aber fehlte ihr jede Energie dafür, um das auch einzuhalten. Max war enttäuscht, als sie ihn anrief, um abzusagen. Sie konnte es deutlich an seiner Stimme hören. Natürlich empfand sie ein Schuldgefühl dabei, dass sie es noch nicht einmal mehr schaffte, für ihren Sohn da zu sein. Wie schon so oft fragte sie sich, wohin das alles noch führen würde. Ihre Schwäche, die sich in den letzten zwei Jahren schleichend immer mehr verstärkt hatte, begann ihr Leben inzwischen auf eine Art und Weise zu verändern, die mit einem normalen Alltag kaum noch zu vereinbaren war. Anneke fürchtete sich vor der Woche, die auf sie zukam. Sie fürchtete sich vor den Aufgaben, die ihr Leben und ihr Arbeitsplatz dann wieder an sie stellen würden. Es fühlte sich für sie an wie eine Lawine, die unaufhaltsam auf sich zurollte. In den folgenden Tagen quälte sie sich durch ihre tägliche Routine. Die Länge ihrer Arbeitstage schien ihr ständig zu wachsen. Sie hatte hämmernde Kopfschmerzen, aber kaum noch die Kraft dafür, sich innerlich dagegen aufzulehnen. Sie nahm in ihrer Verzweiflung sogar wieder die verhassten Triptane ein. Tabletten mit besonders starken Wirkstoffen, die ihr der Arzt verordnet hatte und die laut des Beipackzettels vor schwerwiegenden Nebenwirkungen nur so strotzten. Genau diese Tabletten waren es, zu denen sie doch eigentlich auf keinen Fall wieder greifen wollte. Sie verursachten ein noch größeres Schwächegefühl in ihr und zudem eine noch stärkere Übelkeit. Zu allem Überfluss blieb die erhoffte Schmerzlinderung in ihrem Kopf dann auch noch aus.

Annekes Arbeitsplatz im Autohaus verlangte ihr schließlich auch noch den Rest ihrer ohnehin schon geringen Energien ab. Sie hätte nicht sagen können, ob das in erster Linie daran lag, dass sie sich so schlecht fühlte, oder daran, dass sie inzwischen überhaupt nicht mehr belastbar war. Es schien ihr zudem, als würde sich ihr Tagespensum ständig vergrößern. Die Arbeitsaufgaben, die sie zu erledigen hatte, wuchsen ihr immer mehr über den Kopf. Ihr Chef Ströbe dachte wie immer nur ans Sparen und schien blind dafür zu sein, dass die Firma seit Monaten unterbesetzt war. Als besonders frustrierend empfand Anneke zudem, dass es anerkennende Worte von ihm praktisch niemals gab. Ihre berufliche Anerkennung war mit dem Tage aus ihrem Leben verschwunden, an dem sich Schwarzpeter nach Namibia zurückgezogen hatte. Nachdem eines grauen Freitags Ende November auch noch aus der Geldtasche, mit der Ströbe üblicherweise die Bareinnahmen zur Bank brachte, zweitausend Euro verschwunden waren, war Anneke endgültig am Boden zerstört. Ströbe hatte sie von der Bank aus angerufen und durchs Telefon angebrüllt. Anschließend war sie zitternd und mit einem Weinkrampf zusammengebrochen. Es war nicht so sehr das Verschwinden des Geldes, das dazu geführt hatte, sondern vielmehr das Gefühl in ihr, nun endgültig den Herausforderungen ihrer Arbeit nicht mehr gewachsen zu sein. Anneke hatte keine Ahnung, wie das Geld aus der Tasche verschwinden konnte. In den letzten sechzehn Jahren war so etwas noch nie vorgekommen. Kleine Kassendifferenzen hatte es immer wieder einmal gegeben, aber diese Summen waren winzig gewesen. Sie hatten oft nicht mehr als einen Euro betragen. In Annekes Augen konnte es sich aus diesem Grunde nicht um ein Versehen handeln. Zweitausend Euro lösten sich schließlich nicht einfach so in Luft auf. Zum Glück war sie nicht die Einzige, die infolgedessen des Diebstahls bezichtigt wurde. Bevor Ströbe mit der Geldtasche zur Bank gefahren war, hatten auch noch andere Mitarbeiter mit dem Bargeld zu tun gehabt. In ihrem Ausnahmezustand erinnerte sich Anneke wieder einmal daran, dass ihre Arbeit ihr früher einmal Freude bereitet hatte. Was ihr jetzt zu schaffen machte war ganz besonders das fehlende Miteinander der Kollegen, das es leider so wie damals nie mehr gegeben hatte. Ströbe und seine intrigante Sekundantin Renate hatten einen Keil in den vormals engen Verbund der Angestellten getrieben. Auch das Gefühl der gegenseitigen Wertschätzung schien immer weiter abzunehmen, nachdem alte Mitarbeiter aus fadenscheinigen Gründen gekündigt worden waren und Ströbe sie durch neue ersetzt hatte. Jeder seiner neuen Mitarbeiter war genauestens von ihm ausgesucht worden und schien nur noch daran interessiert zu sein, stillschweigend seine Arbeitsaufgaben zu verrichten und sich ansonsten aus allem heraushalten zu wollen. Inzwischen hatte jeder in der Firma Angst davor, beim Chef in Ungnade zu fallen. Doch damit nicht genug. Renate Reffler hatte es geschafft, sich auf Kosten der anderen Mitarbeiter bei ihm anzubiedern. Jetzt spürte Anneke schon seit dem frühen Morgen wieder die missgünstigen Blicke dieser unerträglichen Person mit ihrem pechschwarz gefärbten Haar und der dunkelrandigen Brille in ihrem Rücken. Sie fühlte diesen stechenden Blick auf sich ruhen, was auch immer sie tat und wohin sie sich auch immer bewegte. Alle in der Firma wussten, was für einen miesen Charakter diese Frau hatte, aber keiner traute sich, gegen sie aufzubegehren. Allen war klar, dass sie als Zuträgerin unter Ströbes Schutz stand. Wie gut hatte es da Susanne, die ihren Arbeitsplatz im Lager direkt neben der Werkstatt auf der gegenüberliegenden Seite des Gebäudes hatte! Der manchmal etwas raue Umgangston der Mechaniker schien Anneke inzwischen ein Paradies im Vergleich zu ihrer eigenen Arbeitssituation zu sein. Aus vollem Herzen beneidete sie Susanne darum, denn der „Drache“, wie Renate Reffler in der Firma hinter vorgehaltener Hand von vielen genannt wurde, verirrte sich in ihren eleganten Kostümen und mit ihren Stöckelschuhen nur selten ins Lager oder in die Werkstatt. Viel lieber griff sie zum Telefon und zitierte Suanne kurzerhand zu sich nach vorn in ihr gläsernes Büro an der Westseite des Verkaufsraumes. Dabei hatte sie ihr eigentlich überhaupt nichts anzuweisen. Susanne, die sich längst dafür entschieden hatte, sich nicht mehr über diese Frau aufzuregen, nahm solche Situationen mit stoischer Gelassenheit hin. Sie hatte es offenbar als einzige von allen Kollegen wirklich geschafft, sich die richtige Einstellung zuzulegen. Anneke wünschte sich, sie hätte das auch gekonnt. Ein Bruchteil von Susannes dickem Fell hätte sie schon glücklich gemacht. Vermutlich hätte dieses Wenige ihren Zustand bereits deutlich verbessert. So aber fühlte sie sich mehr und mehr ausgelaugt und sah keinen Hoffnungsschimmer mehr am Horizont. Verstohlen wischte sie sich zwei Tränen aus dem Gesicht. Es lag entweder nicht in ihren Möglichkeiten, sich auf Susannes Art und Weise zur Wehr zu setzen oder sie war bereits nervlich so am Ende, dass sie es nicht mehr schaffte, emotional dagegenzuhalten. Jeder weitere Tag, der diesen Umständen unterlag, erschöpfte sie nur noch mehr. Was auch immer sie tat, wieviel sie sich auch immer ausruhte oder schlief, sie schaffte es nicht mehr, sich zu erholen. Da half ihr auch die Dauer- Gesprächstherapie bei Dr. Hausmann nichts. Obwohl sie das für sich bereits seit Monaten festgestellt hatte, schien er immer noch daran zu glauben, dass sie von den Gesprächen mit ihm profitierte. Vielleicht war es aber auch nur das Geld, das ihm ihre Krankenkasse für diese Therapie zahlte. Und war sie nicht selbst in Wahrheit inzwischen vollständig abhängig von den Psychopharmaka, die er ihr verschrieb? Anneke spürte genau, dass es auch seine Tabletten waren, die sie unfähig machten, endlich einen Schlussstrich unter diese nutzlose Therapie zu ziehen. Sie wollte seine Medikamente schon längst nicht mehr. Ungeachtet dieser Tatsache griff sie dennoch immer wieder danach. Sie spürte eine überwältigende Angst in sich, wenn sie es nicht tat. Allein der Gedanke daran, auszuprobieren, wie sie sich ohne seine Pillen fühlte, war ihr unerträglich. Sie hatte regelrecht Panik davor. Ihr war längst klar, dass sie seine Medikamente schon viel zu lange eingenommen hatte. Doch die Angst davor, ohne die Chemie in ihrem Gehirn in ein noch tieferes Loch zu fallen, war größer als jedes innere Aufbegehren.

 

Hinter sich hörte sie in diesem Moment, wie Renate Reffler gerade laut und wichtig verkündete, dass das Geld des Chefs ja schließlich nur innerhalb der Firma abhanden gekommen sein konnte, und dass dafür folglich nur ein kleiner Kreis von Personen in Frage kam. Mit hörbarer Genugtuung zählte sie daraufhin alle die Personen namentlich auf, die irgendetwas mit der hausinternen Kasse zu tun gehabt hatten. Annekes Name war selbstverständlich auch mit dabei. In diesem Moment fühlte sie sich völlig unschuldig an den Pranger gestellt. Sie fragte sich, wo sie nur hin waren, die Zeiten, in denen sie noch motiviert und guter Dinge an jedem neuen Morgen in die Firma geeilt war. Es war ihr unbegreiflich, wie sich innerhalb weniger Jahre die Zeiten so drastisch verändern konnten. Dennoch konnte sie sich kaum vorstellen, dass ihre Arbeit wirklich der alleinige Grund dafür war, dass sie sich so furchtbar fühlte. Die Angst, dass sie sich vielleicht nie wieder richtig erholen konnte, hatte sie inzwischen fest im Griff. Dabei hätte sie eigentlich mit ihrem Leben zufrieden sein können. Im Grunde genommen ging es ihr doch gut. Aber was hieß das schon? Es hieß, dass sie derzeit gerade keine großen Sorgen hatte. Ihr einziger Sohn hatte irgendwie das Abitur geschafft und hatte angefangen zu studieren. Er war damit auf dem besten Wege in sein eigenes Leben. Von seinem Vater, ihrem Fehlgriff Michael, war sie seit acht Jahren glücklich geschieden und hatte das keinen einzigen Tag lang bereut. Ihre Eltern Giesela und Klaus waren mit ihren knapp siebzig Jahren noch immer wohlauf und führten ein wohlsituiertes Leben in Bremen. Sie reisten um die Welt, wann immer sie sich die Zeit dafür nahmen. Anneke war klar, dass es eigentlich keinen Grund dafür gab, mit sich selbst so unzufrieden zu sein. Ihr Einkommen war nicht hoch, aber akzeptabel und bisher hatte es mit etwas Disziplin immer für alles ausgereicht. Von Verschwendung oder Luxus war sie dabei allerdings immer weit entfernt gewesen. Unter dieser Voraussetzung hatte sie auch festgestellt, dass sie sich ihre Wohnung im Erdgeschoss des Mehrfamilienhauses sogar nach dem Auszug von Max weiterhin leisten konnte. Das beruhigte sie. Ihre Wohnung war zwar ganz und gar nicht das, was man eine ideale Wohnsituation nennen konnte, denn eine der vielbefahrenen Einfallstraßen des Berliner Nordens lag in unmittelbarer Nähe, aber glücklicherweise hatte sie sich inzwischen irgendwie mit dem Lärm arrangiert. Sie hatte sich damit abgefunden, dass es so war. Es gab sicher Schlimmeres und irgendetwas war vermutlich an jeder Wohnung auszusetzen. Die Leute im Haus waren zudem freundlich und relativ ruhig, Außerdem wechselten die Mieter nicht ständig. Wenn sie dagegen die Geschichten hörte, die ihre Freundin Jule zum Besten gab, die in einem riesigen Plattenbau mit hohem Ausländeranteil in Hellersdorf lebte, dann war ihre Wohnung selbst in dieser Lage geradezu ein Sanatorium. Anneke seufzte. Der Tod ihrer Großmutter Hermine hatte nun einen neuen Schatten auf ihr Leben geworfen. Die Endgültigkeit, mit der sie diese Tatsache konfrontierte, war ihr nach wie vor unbegreiflich. Es hatte trotz aller Widrigkeiten lange Zeit kein Ereignis wie dieses in ihrem Leben gegeben. Kein Ereignis, das sie so betroffen gemacht hatte. Trauer allein war nicht das richtige Wort für das, was sie empfand. Es war so etwas wie eine Art Endzeitstimmung und die in ihr seitdem immer wieder aufkommende Frage nach dem Sinn eines Menschenlebens. Letzteres beschäftigte sie viel mehr, als der Tod an sich. In jedem Falle aber musste sie Großmutters Nachbarin Martha Recht geben, die sie daran erinnert hatte, dass zweiundneunzig Jahre tatsächlich ein schönes Alter war. Umso mehr, weil es ihrer Großmutter gelungen war, diese Welt schnell und vermutlich auch ohne Schmerzen zu verlassen. So ein Tod war immer der Wunsch der alten Dame gewesen. Anneke wusste das. Leider änderte diese Tatsache nichts daran, dass sie ihr nun für immer entrissen war. Der Tod ihrer Großmutter hatte ihr wieder einmal vor Augen geführt, wie endlich das Leben war. Er war ein Thema, das sie bisher immer aus ihren Gedanken verdrängt hatte. Es war ihr durchaus bewusst, dass der Tod in dieser Gesellschaft ein Tabu war. Selbst wenn es jemand schaffte, ein hohes Alter zu erreichen, so musste sein Leben doch trotzdem irgendwann enden. Es gab keine Möglichkeit, ewig zu leben. Diese Tatsache beschäftigte Anneke seit dem Tode ihrer Großmutter unablässig. In jüngeren Jahren hatte sie nie darüber nachgedacht. Es war ihr zudem nie aufgefallen, dass es eine unabänderliche Tatsache zu sein schien, dass es, wenn das Leben fortschritt, von Jahr zu Jahr schwieriger wurde, etwas Grundsätzliches darin zu verändern. Wem seine Stunde schlug und wer es bis zu diesem Zeitpunkt nicht geschafft hatte, seinem Leben eine glückliche Wendung zu geben, der musste diese Welt auch ohne dies verlassen. Es gab keine Ausnahmen. Anneke machte dieser Gedanke Angst. Doch Angst zu haben brachte sie nicht weiter. Ganz im Gegenteil. Sie fühlte, wie diese Angst sie blockierte. Anneke war klar, dass sie sich in vielerlei Hinsicht in einer Sackgasse befand. Doch weder das Wissen darum noch ihre Grübeleien lieferten ihr eine Antwort auf ihre wichtigste Frage. Es war die Frage, warum sie sich so elend fühlte. Schließlich hatte das nicht erst mit dem Tod ihrer Großmutter Hermine angefangen. Es war ihr einfach ein Rätsel, weshalb sie an gar nichts mehr Freude finden konnte und weshalb das Gefühl in ihr zunahm, dass sie ihr Leben nicht mehr bewältigen könne. Es wollte ihr einfach nicht in den Kopf, dass das alles bereits etwas mit ihrem Alter zu tun haben sollte. Schließlich war sie erst vierundvierzig Jahre alt und hatte damit vermutlich noch die Hälfte ihres Lebens vor sich. Ratlos starrte sie auf den mittelgrauen, glänzenden Tresen aus Kunststoff vor sich und nagte gedankenversunken an ihrer Unterlippe. Einmal mehr dachte sie darüber nach, ob ihr erbärmlicher Zustand tatsächlich das sein sollte, was sie jetzt und in Zukunft noch von ihrem Leben zu erwarten hatte. Sie hätte alles dafür getan, um diese unerträgliche Situation hinter sich zu lassen. Alles, wenn sie nicht auch dafür zu schwach gewesen wäre.