Die Besprecherin

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Kurz darauf war Susanne durch die große Glastür des Verkaufsraumes verschwunden. Anneke sah einen Moment später, wie ihr Auto den Firmenparkplatz verließ. Dann war sie verschwunden. Während die ungeliebte Renate sie jetzt, wie so oft, hoheitsvoll ignorierte, wandte sich Anneke wieder ihrer Arbeit zu. Obgleich sie sich nach Kräften bemühte, schaffte sie an diesem Nachmittag kaum noch etwas. Unter Aufbietung all ihrer schwindenden Kräfte und dem Rest an Konzentration, zu der sie in ihrem angeschlagenen Zustand noch fähig war, musste sie sich notgedrungen mit einem Bruchteil ihres früher gewohnten Pensums zufriedengeben. So sehr sie sich insgeheim auch darüber ärgerte, sich sogar dafür schämte, so wenig konnte sie doch daran ändern. Nach Dienstende nahm sie den Bus und schlich anschließend müde die fünfhundert Meter von der Haltestelle in ihre Wohnung. Viel schaffte Anneke an diesem Abend nicht mehr. Bereits gegen 19.30 Uhr ging sie vollkommen erledigt ins Bett. Es war seit Wochen und Monaten immer dasselbe. Ihr Zustand wollte sich einfach nicht bessern, auch wenn sie sich ununterbrochen einredete, dass das alles nur eine Phase sei, die vorübergehen würde. Leider war das aber bisher nicht der Fall gewessen. Eigentlich war genau das Gegenteil davon eingetreten. Die Spirale aus Kopfschmerzen, Erschöpfung und der Unfähigkeit, sich daraus zu befreien, hatten sie ausgelaugt. Der schon seit Monaten anhaltende Leistungsknick bei ihrer Arbeit, den sie trotz aller Anstrengungen nicht überwinden konnte und die immerwährende Müdigkeit hatten sie inzwischen beinahe in die Knie gezwungen. Und als ob das alles noch nicht genug wäre, hatte sich neuerdings auch noch ein beängstigendes Herzstolpern hinzugesellt und diese merkwürdige Schwäche in den Armen. Was ihr aber die meiste Angst einflößte war ihre zunehmende Vergesslichkeit. Sie konnte sich häufig die einfachsten Dinge nicht mehr merken. Zu allererst war ihr das natürlich bei der Arbeit aufgefallen, doch das Problem hatte längst auch ihr Privatleben erreicht. Was sie nicht weniger irritierte war diese nie zuvor gespürte Ablehnung, dieser Widerwille gegen ihre Tätigkeit im Autohaus und die immer stärker werdenden Antipathie gegen Ströbe, ihren Chef. Beinahe in gleichem Maße wuchs auch ihr Widerwille gegen Renate Reffler, die sie aber noch nie gemocht hatte. Zum Glück war sie damit nicht allein. Die meisten der Kollegen teilten ihre ablehnende Haltung gegenüber dieser Frau. Was sie allerdings verletzte war die Verständnislosigkeit und die wachsende Kritik, die ihr im Autohaus von einigen Kunden, aber auch von manchen Kollegen entgegenschlug. Anneke fand das besonders deshalb hart, weil sie sich immer darum bemüht hatte, ihre gesundheitlichen und psychischen Probleme dort nicht zum Thema zu machen. Leider hatte auch die Einnahme ihrer „Stimmungs-Aufheller“ nichts bewirkt, die sie von ihrem Psychologen Dr. Hausmann bereits seit zwei Jahren verschrieben bekam. In ihrer Verzweiflung hatte sie die immer brav eingenommen. Sogar jetzt nahm sie sie noch, obwohl sie inzwischen nicht mehr an ihre Wirkung glaubte. Dr. Hausmann hatte sie immer davor gewarnt, seine verordneten Tabletten eigenständig abzusetzen. Er hatte gesagt, dass das schwerwiegende Folgen für sie haben konnte. Anneke fand ohnehin, dass es nicht der richtige Zeitpunkt dafür war, um auszuprobieren, was ohne die Tabletten mit ihr geschehen würde. Sie hatte einfach Angst davor. Die subtile Einschüchterung des Arztes hatte sie verunsichert. So ging sie also nach wie vor alle zwei Wochen brav in seine Sprechstunde, obwohl sie das Gefühl hatte, dass ihr das überhaupt nichts nützte. Mit seiner sogenannten Gesprächstherapie, die darauf abzielte, dass sie ihm über ihren Alltag und über ihre Probleme erzählen sollte, kamen sie beide aus ihrer Sicht kein Stück weiter. Er schien das allerdings komplett anders zu sehen und hielt seinen Therapieansatz durchaus für erfolgreich. Für Anneke war das nicht nachzuvollziehen. Ihren Job konnte er ihr nicht abnehmen und ein Patentrezept gegen komplizierte Kunden und Kollegen hatte er auch nicht. Es war nun einmal Tatsache, dass sie an ihrem Arbeitsplatz hinter dem Tresen des Autohauses die erste Ansprechpartnerin für jeden war und damit leider auch oft der Blitzableiter für Unzufriedene und Gestresste oder einfach nur für Übellaunige. Zum Glück gab es auch nette Kunden und freundliche Kollegen. Und es gab auch Tage, die recht entspannt verliefen. Das waren vor allem die Tage, an denen Ströbe außer Haus war oder ihre bösartige Kollegin Urlaub hatte. Leider waren diese Tage selten.

Nach einer traumlosen, finsteren Nacht quälte sich Anneke am nächsten Morgen erneut wie gerädert aus dem Bett. Es war 5.30 Uhr und um 7.00 Uhr begann ihre Arbeitszeit. Sie hatte daher keine Minute zu verlieren, musste sich beeilen. Die Zeiten schienen ewig her zu sein, in denen sie morgens frisch und ausgeruht aus dem Bett gesprungen war. Auch ein Frühstückskaffee brachte ihr keine Erleichterung. Krampfhaft hielt sie sich an dem einzigen positiven Gedanken fest, der sich an diesem Morgen in ihren Kopf verirrt hatte. Es war Freitag und am Wochenende hatte sie diesmal keinen Dienst. Sie hatte auch nichts geplant und brannte darauf, sich einfach nur auszuruhen. Mutig nahm sie nicht wie sonst den Bus, sondern griff sich ihren Regenschirm mit dem roten Schottenkaro-Muster von der Garderobe. Eiligen Schrittes lief sie die Straße entlang und nahm die Abkürzung durch die nahe Einkaufspassage, in der zu dieser frühen Stunde nur der Backwarenstand geöffnet war. Ihr Weg dauerte nur wenig länger, als der Bus für diese Strecke benötigte. Sie hatte an diesem Morgen das dringende Bedürfnis nach Bewegung und nach Sauerstoff. Seit Tagen, Wochen und Monaten hatte sie ihre Tage fast ausnahmslos in geschlossenen Räumen verbracht. Gesund war das sicherlich nicht. Aber ihr hatte die Energie gefehlt, um nach Dienstschluss oder am Wochenende noch irgendwohin zu gehen. Sie war immer froh gewesen, wenn sie es geschafft hatte, ihre nötigsten Einkäufe zu erledigen und ein wenig in ihrer Wohnung zu putzen. Selbst Max, ihr Sohn, hatte es inzwischen aufgegeben, sie zu irgendwelchen Aktivitäten überreden zu wollen. Er hatte längst bemerkt, dass seine Mutter außerstande war, neben ihrer täglichen Arbeit noch irgendetwas anderes zu unternehmen. Max hielt das allerdings für eine Frage ihres Alters. Irgendwann hatte er sie mit der Aussage schockiert, er selbst wolle mit 44 Jahren auf keinen Fall so enden wie sie.

Anneke fand es gut und schlecht gleichzeitig, dass er ausgezogen war. Einerseits hatte sie dadurch eine ganze Menge mehr Ruhe und Gelassenheit zurückgewonnen, andererseits fehlte ihr aber auch die gewohnte Notwendigkeit, sich aufraffen zu müssen. Das Zimmer von Max hatte sie bisher unberührt gelassen, obwohl ihre Wohnung im Erdgeschoss des 6-Parteien-Mietshauses nur 55 Quadratmeter groß war und sie sein ehemaliges Kinderzimmer eigentlich gut gebrauchen konnte. Aber sie wollte nicht voreilig sein. Was wäre, wenn sich ihr Sohn in seiner neuen Studenten-WG nicht wohlfühlte? Sie wollte ihm nicht das Gefühl geben, nicht nach Hause zurückkehren zu dürfen. Natürlich wollte sie das eigentlich nicht. Aber nachdem sich sein Vater Michael, von dem Anneke glücklicherweise seit mehr als acht Jahren geschieden war, nie sonderlich für seinen Sohn interessiert hatte, war sie immer noch von dem Gefühl beseelt, irgendetwas an ihm gutmachen zu müssen. Eigentlich erinnerte sie sich kaum noch daran, wie der bewusste Morgen genau abgelaufen war. In ihrer Erinnerung war nahezu alles ausgelöscht, was sich vor dem Anruf ihrer Mutter ereignet hatte. Als das Telefon klingelte, hatte sie mechanisch zum Hörer gegriffen und freundlichst ihre dienstliche Begrüßungsformel aufgesagt. Sie war erschrocken, als sie am anderen Ende der Leitung nur ein Schluchzen gehört hatte. Danach hatte die weinende Stimme ihrer Mutter Giesela stockend hervorgebracht: „Omi … ist … tot. Das Herz. Oh mein Gott!“ Sie schniefte und putzte sich dann geräuschvoll die Nase. Und sachlich und gefasst erklang die Stimme ihres Vaters plötzlich im Hörer: „Mädchen, bleib ganz ruhig! Wie du weißt war Oma bereits zweiundneunzig. Da wollen wir mal die Kirche mal im Dorf lassen. Da ist irgendwann das Ende unvermeidlich. Das ist einfach so.“ Anneke hörte, wie ihre Mutter im Hintergrund immer noch schluchzte. Im ersten Schreckmoment wusste sie gar nicht, was sie sagen sollte. Sie war nur froh, dass ihr nicht gerade Kunden am Tresen gegenüberstanden. Mehr als ein erschrockenes: „Ohhh!“, brachte sie trotzdem nicht hervor. Sie war wie vor den Kopf geschlagen. Natürlich war ihr klar gewesen, dass ihre Großmutter nicht ewig leben würde, aber nun kam ihr Tod doch unerwartet. Eine realistische Stimme in ihr begann sofort damit, ihr zu sagen, dass 92 Jahre wahrlich ein schönes Alter war. Ein Alter, in dem es dann auch irgendwann einmal gut sein durfte. Allerdings sprach dagegen, dass ihre Großmutter Hermine sich bisher immer wacker geschlagen hatte und ihr eigenes Häuschen in Michaelsdorf am vorpommerschen Bodden zu keinem Zeitpunkt gegen eine Wohnung im „Betreuten Wohnen“ oder gegen einen Platz im Pflegeheim getauscht hatte. Sie hatte sich auch immer dagegen gewehrt, die Unterstützung irgendwelcher Pflegedienste in Anspruch zu nehmen. In ihren Augen war das der Anfang vom Ende. Anneke konnte sich erinnern, dass ihre Eltern Gisela und Klaus ihr das oft genug vorgeschlagen hatten. Großmutter Hermine hatte trotzdem immer so weitergemacht, wie sie es ihr ganzes Leben lang getan hatte. Sie hatte den Tod ihres Mannes Benno auch auf diese Art und Weise verkraftet. Sie war einfach in ihrem Leben weitergegangen, war nicht stehengeblieben und hatte nie ihre Selbstdisziplin und ihren Optimismus verloren. An Opa Benno hatte Anneke kaum noch Erinnerungen. Es war wirklich lange her, dass er gestorben war. Das war geschehen, noch bevor sie zur Schule gekommen war. Opa Benno war starker Raucher gewesen. Ein kleinzelliges Lungenkarzinom hatte ihn innerhalb von sechs Wochen einfach so ausgelöscht. In den Jahren darauf wurde merkwürdigerweise nicht mehr allzu viel über ihn gesprochen. Erst Jahre später erfuhr sie in einem Gespräch mit Martha, der Nachbarin ihrer Großmutter, dass Opa Benno ein unbelehrbarer Frauenheld gewesen war, der jedem „Weiberrock“ hinterhergelaufen sei. Allerdings hatte sich Martha dann sofort beeilt, zu betonen, dass das wohl in seinen Genen gelegen haben musste, und dass er vermutlich nichts dafür konnte. Sein Vater, ein dorfbekannter Schwerenöter, hatte sich zu seinen Lebzeiten genauso verhalten. Alle in der Gegend wussten das. In so einem kleinen, ein wenig abgelegenen Dorf hoch im Norden funktionierte die alte Dorfgemeinschaft noch. Da kannte noch jeder jeden und wusste, wer mit wem verwandt war und was sonst noch wichtig oder zumindest interessant war. Jeder Dorfbewohner war vertraut mit den Eigenheiten der anderen. Alle nahmen sich Zeit, die Menschen in ihrer Umgebung zu studieren. In so einem kleinen Dorf waren Geheimnisse kaum zu wahren. Anneke war sich dennoch sicher, dass es mehr Vorteile als Nachteile mit sich brachte, wenn die sozialen Strukturen nicht so zerfallen waren wie in der Großstadt um sie herum. Im Nachhinein konnte sie sich nicht mehr daran erinnern, wie sie es geschafft hatte, den Rest ihres Arbeitstages zu bewältigen. Sie hatte sich nur noch darauf konzentriert, Haltung zu bewahren. Sie hatte funktioniert wie ein Roboter. Erst nach der Rückkehr in ihre Wohnung war sie weinend zusammengebrochen. Sie hatte es noch nicht einmal mehr geschafft, ihre Jacke auszuziehen. Irgendwann hatte sie realisiert, dass sie bereits seit zwei Stunden in der Flur-Ecke neben dem Garderobenschrank kauerte. Die Tränen stürzten immer noch aus ihren Augen und es gab nichts, was sie trösten konnte. Es war ein Mix aus Trauer und Schreck, der sich zu einer schwer erträglichen Mischung in ihr verdichtete. Auch eine gehörige Portion Selbstmitleid war dabei. Wenn sie es recht betrachte, dann weinte sie auch deshalb, weil sie nun keine Großmutter mehr hatte. Mit Hermine war das letzte Mitglied ihrer Großeltern-Generation gestorben. Natürlich wusste Anneke, dass niemand im Alter von 44 Jahren ein Anrecht auf seine Großmutter hatte, und dass es ein seltenes Glück für sie gewesen war, in diesem Alter überhaupt noch eine Großmutter gehabt zu haben. Gleichzeitig war da aber auch ein Teil in ihr, der sich immer noch weigerte, die neue Realität zu akzeptieren.

 

Irgendwann, nach Stunden, fand Anneke endlich die Kraft, sich aufzuraffen. Sie quälte sich in die Senkrechte. Fast steif durch ihre unbequeme Sitzposition hatte sie gar nicht bemerkt, wie sehr ihr Rücken schmerzte. Auch wenn sie keinesfalls bereit war, das Geschehene zu akzeptieren, so musste sie doch einsehen, dass sie leider nicht in der Lage war, etwas an der Tatsache ändern zu können. Ihre Eltern hatten am Telefon gesagt, dass sie umgehend nach Michaelsdorf fahren würden, um sich um die Bestattung zu kümmern und um die Angelegenheiten mit dem Nachlass ihrer Großmutter zu regeln. Ihre Mutter hatte geschluchzt, wie froh sie darüber sei, dass wenigstens Martha und Willi vor Ort wären. Die beiden wohnten im Haus gegenüber dem ihrer Großmutter und sie hatten sie nicht nur tot aufgefunden, sondern auch gleich das Nötigste veranlasst. Anneke war auch sofort der Gedanke gekommen, sich in Richtung Norden in Bewegung setzen zu müssen, um ihre Eltern zu unterstützen. Unter normalen Umständen hätte sie sicher auch nicht einen Moment lang gezögert, das zu tun. Jetzt allerdings fühlte sie sich viel zu erschöpft, um diese Anstrengung auf sich nehmen zu können. Die knapp drei Stunden Fahrzeit in das Dorf ihrer Großmutter schienen ihr jetzt wie eine nahezu unüberwindliche Distanz. Sie sah sich vollkommen außerstande, in ihrer Verfassung so lange Auto zu fahren. Besorgt fragte sie sich, was erst werden sollte, wenn der Tag der Beerdigung kommen würde. Jetzt ging sie erst einmal hinüber ins Badezimmer und wusch sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser. Mit geschlossenen Augen tastete sie nach dem Handtuch am Haken und trocknete sich langsam ab. Sie fragte sich, was das für ein schreckliches Jahr war, in dem sie gerade festzustecken schien. Ihre Lebensenergie hatte sich in Luft aufgelöst, ihre Arbeitsstelle schien ihr mit jedem Tag unerträglicher zu werden, ihr Sohn war ausgezogen und brauchte sie nicht mehr und nun war auch noch ihre Großmutter gestorben. Bei dem Gedanken daran, dass dieses schlimme Jahr noch immer nicht zu Ende war, beschlich sie ein mulmiges Gefühl. Unweigerlich drängte sich ihr die Frage auf, ob es noch mehr Furchtbares für sie breithielt. Zu allem Unglück war es leider erst Mitte Oktober. Dieses garstige Jahr hatte also noch zehn Wochen lang Zeit, um sie zu quälen. Bei dem Gedanken daran überkam sie ein ungutes Gefühl.

Zwei Wochen später war Anneke dann trotz ihres angeschlagenen Zustandes nach Michaelsdorf gefahren. Sie war sich sicher, dass sie keine andere Wahl hatte. Sie war der Ansicht, dass sie es ihrer Großmutter schuldig war, sie auf ihrem letzten Weg zu begleiten, zumal sie es in den letzten beiden Jahren nur selten geschafft hatte, sie zu besuchen. Diese Gewissensbisse, die sie deshalb jetzt hatte, nahm ihr niemand ab. Sie konnte der Beerdigung deshalb nicht fern bleiben. So hatte sie letztlich Max für die Fahrt an die Küste um Unterstützung gebeten. Max hatte sich auch bereiterklärt, einen Großteil der Strecke zu fahren. Obwohl er Fahranfänger war und erst seit fünf Monaten einen Führerschein besaß, hatte Anneke ihn tatsächlich für einen Großteil der Strecke hinters Steuer gelassen. Ganz wohl war ihr nicht dabei gewesen, doch im Laufe der Fahrt hatte sich ihre Besorgnis nach und nach gelegt. Sie war überrascht, wie routiniert Max bereits fuhr. Hinzu kam, dass die Autobahn in Richtung Norden an diesem Samstag recht leer war. Anneke war ihrem Sohn dankbar für seine Unterstützung. Je weiter sie nach Norden kamen, desto stürmischer wurde das Wetter. Die Fahrbahn lag schnurgerade vor ihnen. Streckenweise war nicht ein einziges Auto zu sehen. Anneke war vom Beifahrersitz aus in die Betrachtung der zahllosen Wolken vertieft, die der Wind in schneller Folge über den Himmel trieb. Sie fühlte sich ähnlich rastlos wie diese Wolken. Im Gegensatz zu Berlin waren hier im Norden die Bäume bereits kahl. Der unermüdliche Nordost-Wind hatte ganze Arbeit geleistet. Stumm und wie entseelt standen sie in dunklen Gruppen längs der Autobahn und boten einen trostlosen Anblick vor dem trüben Grau des Himmels. Die meiste Zeit über hatte Max am Steuer geschwiegen. Irgendwann aber ergriff er unvermittelt das Wort, so dass Anneke beinahe erschrak. „Weißt du, Mom, ich find´s echt nicht so schlimm, dass Uroma jetzt gestorben ist.“ Er sah sie kurz an und danach wieder auf die Fahrbahn. Der verständnislose Blick, mit dem sie ihn von der Seite her ansah, war wohl der Grund dafür, dass er sich beeilte, seine Worte zu erklären. „Ich meine natürlich nicht, dass sie überhaupt gestorben ist. Ich meine, dass sie es mit der Art, wie sie gestorben ist, verhindert hat, noch Wochen oder Monate an Geräte gefesselt in irgendeinem Krankenhausbett vor sich hin zu vegetieren. Dieses unwürdige Sterben auf Raten meine ich. Das, was den Alten heutzutage gewöhnlich immer so angetan wird. Künstliche Beatmung, künstliche Ernährung und all das.“ Anneke nickte langsam, während ihr Sohn weitersprach: „Wenn man so will, dann ist die moderne Medizin von heute doch eigentlich nichts anderes als eine Art Sterbe-Behinderungs-Unternehmen für alte Leute. Das wollen die meisten von den Alten sicher gar nicht. Und ich finde das auch schrecklich! So etwas ist unmenschlich. Man muss doch nicht alle Möglichkeiten der modernen Medizin bis zum Schluss ausreizen, bloß weil es technisch machbar ist! Uroma war bis zum Schluss vollkommen fit und konnte sich selbst versorgen. Und dann ist sie einfach umgefallen und war tot. Und das war dann das Ende!“ Er sah seine Mutter mit seinen rehbraunen Augen kurz von der Seite an. „In meiner Erinnerung wird sie immer der Wirbelwind bleiben, der sie gewesen ist. Auch in hohem Alter noch. Ich hätte es unerträglich gefunden, wenn sie in irgendeinem Krankenhaus oder Pflegeheim verrottet wäre. Das wäre auch für sie das Schlimmste gewesen. Glaubst du nicht auch, Mom?“ Anneke nickte nur stumm. Ihr war beklommen zumute bei seinen klaren Worten. Wenn es in dieser Situation überhaupt einen Trost für sie gab, dann war es der, den Max gerade ausgesprochen hatte. Natürlich hatte er Recht. Es war wohl der Unbeschwertheit seiner Jugend zu verdanken, dass er die Tatsachen so klar benennen konnte. Für ihn schien der Tod Lichtjahre entfernt zu sein. Das gab ihm wohl die nötige Distanz zu dem Thema. Noch schien ihm sein Leben endlos lang. Für ihn begann ja tatsächlich erst alles. Dass dieser Vorrat an Lebenszeit schneller aufgezehrt sein würde, als er sich das vorstellen konnte, würde er erst später begreifen. Unter diesen Umständen war es erklärlich, dass der Tod eines alten Menschen für ihn ein Ereignis aus einer Dimension war, mit der er nichts zu tun hatte. Erst später, viel später, würde er sicher zu der Erkenntnis kommen, dass der Tod real und allgegenwärtig war. Das Einsehen in die Tatsache, dass die Zeit rannte, und dass es keine Möglichkeit gab, sie aufzuhalten, löste bei Anneke in diesem Augenblick ein Gefühl von großer Hilflosigkeit aus. Unwillkürlich musste sie an ein Gedicht denken, das ihr im Gedächtnis geblieben war:

Lebensjahre treiben dahin wie welke Blätter auf reißendem Strom.

Nachsichtig lächeln die Stunden zwischen den Zeigern.

Wer weiß denn schon, dass auch die Zeit Angst vorm Altwerden hat?

Ja, Anneke musste sich eingestehen, dass sie auch Angst vor dem Altwerden hatte. Sie hatte Angst davor, zu sterben, bevor sie es sich selbst erlaubt hatte zu leben, mit sich und ihrem Leben glücklich zu werden. Inständig hoffte sie, dass wenigstens ihre Großmutter Hermine das im Laufe der Zeit geschafft hatte. Sie selbst kämpfte immer noch darum. Einige Jahre blieben ihr dafür vermutlich noch. Hoffentlich! Sie war sich unsicher, ob es normal war, sich im Alter von 44 Jahren derartige Gedanken zu machen. Bisher hatte sie das Thema Tod aus ihrem Kopf immer sofort wieder verdrängt. Es war das erste Mal, dass sie den Gedanken daran zuließ. Sie fühlte sich zu schwach, um sich gegen ihn zur Wehr zu setzen. Nachdenklich schaute sie aus dem Seitenfenster heraus auf die umgebrochenen Äcker längs der Autobahn, die ihr mit ihrer dunkelbraunen Erde nackt und trostlos kahl erschienen. Der Ausblick wechselte. Große, immer noch recht grüne Flächen zogen vorbei, die mit riesigen Windrädern übersät waren. Es sah so aus, als hätte ein Riese eine Unzahl Zahnstocher in die Erde gesteckt. Anneke fragte sich unwillkürlich, wie es sein würde, wenn ihr Leben morgen schon zu Ende wäre. Bei dieser Vorstellung fühlte sie ihren Körper wie hineingepresst in einen riesigen Schraubstock. Das Gefühl großer Enge und Bedrängnis war alles, was sie dabei wahrnahm. Sie rang nach Luft. Die Vorstellung ihres Todes ängstigte sie auch diesmal über alle Maßen. Ein wenig tröstete sie der Gedanke daran, dass das vielleicht normal war. Nur diejenigen, die sich weigerten, ihre Aufmerksamkeit auf das Thema des Sterbens zu richten, hatten vermutlich keine Probleme damit. Das Thema Tod hatte Anneke schon immer sehr emotional gemacht. Ihre Freundin Jule hatte bei solchen Gelegenheiten oft lachend gesagt, dass der Grund dafür wohl darin läge, dass die „Einschläge“ im Alter von 44 Jahren langsam immer näher kämen. Jule hatte gut reden. Sie war zehn Jahre jünger und hatte Anneke erst neulich als Mittel gegen ihre Angst empfohlen, sich ein paar neue Sachen zu kaufen, schwarze Sachen. Jule war der Meinung, dass zum Glück erst einmal all die anderen, die älter waren, mit dem Sterben dran wären. Und, dass es gut wäre, sich darauf vorzubereiten. Das würde den Stress gering halten. Dabei hatte sie hintergründig gelächelt und von „subjektivem Beerdigungsgewinn“ gesprochen, mit dem sie das Gefühl nach einer Beerdigung beschrieb. Das Gefühl, einfach noch einmal davongekommen zu sein und vom Friedhof zurückkehren zu können in das eigene, wohlvertraute Dasein. In das Leben, in dem sicher auch nicht alles perfekt war, aber das es immerhin noch gab. Trotzdem, hatte sie gesagt, würde dieses Gefühl bei ihr leider nicht mehr so lange anhalten wie früher. Doch die nächste Beerdigung kam bestimmt und damit ein neuer, „subjektiver Beerdigungsgewinn“. Anneke teilte ihre Ansichten in dieser Hinsicht zwar nicht, aber sie fand es sehr erstaunlich, wie angstfrei die Freundin dadurch mit dem Thema umgehen konnte.

Der Friedhof in Michaelsdorf war klein. Er lag unweit des Boddens, jenem relativ flachen Küstengewässer mit einem im Unterschied zur Ostsee nur sehr niedrigen Salzgehalt. Dem Bodden, dessen Wasser durch Inseln und Landzungen weitgehend von dem der Ostsee abgetrennt war und auf dem es auch keinen echten Seegang gab. Anneke hatte eine innige Beziehung zu diesem ganz speziellen Gewässer, mit dem sie die glücklichsten Zeiten ihrer Kindheit verband. „Das Wort Bodden“, so hatte ihr ihre Großmutter einmal erklärt, als sie ein kleines Mädchen war, „leitet sich vom niederdeutschen Wort Boden ab. Es kommt daher, weil das Wasser im Bodden recht flach ist und man dadurch manchmal den Boden, also den Grund sehen kann.“ Anneke wusste, dass das stimmte. Beim Baden als Kind hatte sie damals schon oft den Boden vom Bodden gesehen. Deshalb mochte dieses Wort von Anfang an. Für sie klang es auch heute noch nach Sommer und nach Sicherheit. Es hatte ihr die Angst vor dem tiefen Wasser genommen. Inzwischen hatte sie festgestellt, dass viele Fremde gar nicht wussten, was ein Bodden war. Auch die Mehrzahl ihrer Kollegen hatte das Wort noch nie gehört. Aber so waren sie eben, die Stadtmenschen in Berlin. In diesem Augenblick konnte Anneke plötzlich das freundliche, zerfurchte Gesicht ihrer Großmutter genau vor sich sehen und im Geiste ihre Stimme hören, so als hätten sie eben erst miteinander gesprochen.

 

Als die Teilnehmer der Beerdigung nach und nach eintrafen überließ sie es ihren Eltern, sie zu begrüßen. Sie selbst stand abseits ganz still und ließ die vertrauten Geräusche auf sich wirken. Das Schilf in unmittelbarer Nähe raschelte geheimnisvoll, wenn der Wind hindurchfuhr. Was sich bereits bei ihrer Fahrt in Richtung Norden als windiges Wetter gezeigt hatte, hatte sich inzwischen zu stürmischen Böen ausgewachsen. Wind in dieser Stärke gab es in Berlin eigentlich nie. Die Häuser standen dafür viel zu dicht beieinander.

Sie kannte den Bodden bei jedem Wetter. Die Sommer hatte sie jedes Jahr bei ihren Großeltern in Michaelsdorf verbracht und sich hier von der Enge und vom Stadtleben in Berlin erholt. Sie hatte mit den Kindern des Dorfes gespielt und sie hatte im Bodden gebadet. Auch in den Winterferien durfte sie manchmal hier sein, obwohl sie ihre Sommer an der Küste als noch schöner in Erinnerung hatte. Im Sommer war hier im Dorf so viel mehr Platz gewesen und so mehr Ruhe, als an den Stränden der nahen Ostseeküste mit ihren Seebädern, in die jeden Sommer die Badegäste einer Plage gleich einfielen und sich gemeinsam mit den Einheimischen dicht an dicht am Strand drängten. Anneke war das schon damals viel zu eng gewesen. Sie liebte das weite Land und den Blick über das Wasser bis zum Horizont. Gerade jetzt fragte sie sich wieder, wie sie es nur so lange ausgehalten hatte, ohne hierher zu kommen. Es war schon fast ein halbes Jahr her, dass sie ihre Großmutter zum letzten Mal besucht hatte. Dass das ihr letzter Besuch bei ihr gewesen sein würde wusste sie damals noch nicht. Jetzt gab es Hermine nicht mehr. Es gab nur noch ihre Asche, die in einer schwarzen, glänzenden Urne mit Goldrand in einem Kranz aus weißen Lilien feierlich in der kleinen Friedhofskapelle auf einem Tischchen aufgestellt war. Das ganze Dorf schien zu ihrer Beerdigung gekommen zu sein. Etwa dreißig Personen in dunkler Kleidung drängten sich vor der kleinen Kapelle. Max gab sich an ihrer Seite still und in sich gekehrt. Er wusste wohl nicht so genau, wie er sich verhalten sollte. Es war die erste Beerdigung in seinem Leben, an der er teilnahm. Zu der Beerdigung von Opa Benno, Hermines verstorbenem Mann, der schon so viele Jahre tot war, hatte Anneke ihren Sohn nicht mitgenommen. Er war damals erst drei Jahre alt und in ihren Augen war der damit noch viel zu klein für so ein Ereignis gewesen. Obwohl Anneke ihre „Psychopillen“ eigentlich hasste, die ihr Dr. Hausmann wegen ihrer angeblichen Depressionen immer wieder verschrieb, war sie nun doch froh, sie eingenommen zu haben. Auch wenn sie sonst nichts davon hielt, konnte sie sich doch jetzt wenigstens einbilden, dass sie sie ein wenig ruhiger machten. Während ihre Mutter Giesela, gestützt durch ihren Vater, am Grab ihrer Mutter beinahe zusammenzubrechen drohte, nahm sie selbst all diese Emotionen von Trauer und Verzweiflung wie durch eine Nebelwand wahr. Sie konnte sie erfassen und merkwürdigerweise auch teilen, ohne selbst ein Teil von ihnen zu sein. Vielleicht bewirkten die Tabletten tatsächlich etwas. Trotzdem hätte Anneke sie lieber heute als morgen abgesetzt, doch ihr Psychologe hatte sie immer wieder davor gewarnt. Er hatte das mit dem „Gewöhnungseffekt“ begründet, der in Annekes Augen nichts anderes zu sein schien als Art eine Medikamentenabhängigkeit. So saßen sie dann alle dicht gedrängt in der kleinen Kapelle. Auch die Nachbarn von Großmutter Hermine waren gekommen. Martha und Willi waren bereits selbst in ihren Siebzigern und bewohnten das Haus gegenüber schon solange Anneke denken konnte. Sie alle lauschten den Worten der Pfarrerin aus der nahen Kleinstadt, zu der auch die Michaelsdorfer Gemeinde gehörte. Es waren freundliche Worte, die sie fand, auch wenn Anneke einiges für zu pathetisch hielt. Hermine war immer eine einfache, arbeitsame und resolute Frau gewesen, die zupacken konnte und im Dorf beliebt gewesen war. Sie hatte ihr gesamtes Berufsleben lang hart als Melkerin in einer großen Milchviehanlage ganz in der Nähe gearbeitet. Diese Tätigkeit hatte ihr alles abverlangt und sie war damals heilfroh gewesen, als sie endlich nicht mehr arbeiten gehen musste. Anneke konnte sich noch gut daran erinnern. Schwülstige Reden jedoch hatten nie ihren Beifall gefunden. Wenn Anneke es recht betrachtete, so hätte sie sich sicher mehr über ein Lied auf dem Schifferklavier gefreut, als über „Isoldes Liebestod“ von Richard Wagner und die Air Suite Nr. 3 von Johann Sebastian Bach, die ihre Mutter für sie ausgesucht hatte. Im Nachhinein ärgerte sie sich ein wenig darüber, dass ihr Erschöpfungszustand sie davon abgehalten hatte, bei dem Gespräch mit dem Bestatter dabei zu sein. Jetzt war es zu spät und in Wahrheit kümmerte es ihre Großmutter wohl auch nicht mehr, welche Musik gespielt und was gesprochen wurde. Nur sie selbst haderte damit. Im Geiste sah Anneke ihre Großmutter jetzt vor sich. Sie sah, wie sie unbekümmert lachte und abwinkte. Sie konnte ihre Stimme hören, die flüsterte: „Annchen, lass doch! Das ist doch nicht so wichtig!“ Das passte zu ihr. Sie war immer unkompliziert gewesen. Anneke seufzte leise. Wahrscheinlich war Akkordeon-Musik bei einer Beerdigung auch nicht üblich. Trotz allem war es eine feierliche Zeremonie. Anneke fühlte sich trotzdem elend. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie sich in den letzten Monaten so wenig um ihre Großmutter gekümmert hatte. Sie hatte sie im April zu letzten Mal besucht. Das war zu Ostern gewesen. Jetzt musste sie mit dieser Tatsache leben. Es war diese Endgültigkeit und das Gefühl, es nicht wieder gut machen zu können. Dabei war sie wirklich unfähig gewesen, die fast drei Stunden Autofahrt an die Küste zu bewältigen. Das schlechte Gewissen in ihr blieb trotzdem. Es gab keine Möglichkeit mehr, sich zu entschuldigen. Anneke schluchzte leise. Links neben ihr saß Martha, die Nachbarin. Sie war immer eine gute Freundin ihrer Großmutter gewesen. Mitleidig schaute sie sie an, ergriff dann ihre Hand und drückte sie, während sie flüsterte: „Lass doch, Mädchen! Nicht weinen! Zweiundneunzig Jahre! Das ist ein schönes Alter und sie hat doch nicht gelitten. Das ist ein schönes Ende, Annchen.“ Anneke nickte. Martha hatte so wie früher „Annchen“ zu ihr gesagt. Das klang vertraut und so warm in dieser kalten Stunde. Damals hatten alle hier sie so genannt. Damals, als sie als Kind gemeinsam mit den anderen Kindern aus dem Dorf hier umher getollt war. Hier, ganz in der Nähe des Friedhofes hatten sie auch oft gespielt. Damals hatte der Friedhof keinerlei Bedeutung für sie gehabt. Martha hatte Recht. Es war ein schönes Alter und Großmutter hatte nicht gelitten. Das war es doch, was am Ende zählte. Es war gut, dass sie Martha neben sich hatte. Martha war immer so klar und so sachlich. Auch als Kind hatte sie das schon bewundert. Zu Hause bei ihren Eltern war immer alles so kompliziert gewesen. Während ihre Mutter Giesela in Tränen aufgelöst war und sich auch durch ihren Vater Klaus nicht recht beruhigen ließ, hatte sich Annekes Blick buchstäblich im Nichts festgesaugt. Sie starrte vor sich hin und war nicht fähig, sich aus diesem Vakuum zu lösen. In nächster Nähe saß Max neben Ole, einem seiner Bekannten aus dem Dorf, der im gleichen Alter wie er war. Sie kannten sich auch schon ihr ganzes Leben lang, obwohl Max nur selten hier gewesen war. Die beiden schienen nur mäßig ergriffen von der Zeremonie zu sein. Alte Menschen starben eben. Daran konnte niemand etwas ändern. Es war wohl diese Einstellung, die sie das traurige Ereignis seltsam gefasst hinnehmen ließ. Anneke war froh, dass ihr Sohn auf seine Art so gut damit zurechtkam. Am Ende der Trauerfeier bewegte sich die kleine Prozession über die sorgsam geharkten Wege des kleinen Dorf-Friedhofes hin zum Grab ihres Großvaters Benno. Dort angekommen ließ ein Angestellter des Beerdigungsinstituts die Urne mit der Asche ihrer Großmutter langsam in die Erde hinab. Ganz sicher war sich Anneke nicht, ob sich ihre Großmutter gewünscht hatte, so dicht bei ihrem verstorbenen Mann begraben zu werden. Aber auch das hatte ihre Mutter so festgelegt, die wohl damit demonstrieren wollte, dass nun alles ein gutes Ende gefunden hatte und der langjährige Groll zwischen den Eheleuten nun endgültig beigelegt war. Anneke hatte da so ihre Zweifel. Sie fühlte aber auch, dass es ihr nicht zustand, die Entscheidung ihrer Mutter in Frage zu stellen. Schließlich war sie „nur“ die Enkeltochter. Sie hatte erst als Erwachsene erfahren, was alle im Dorf schon längst wussten. Das offene Geheimnis, dass ihr Großvater der größte Schürzenjäger der Gegend gewesen war. Für ihre Großmutter Hermine musste das schwer zu ertragen gewesen sein und es erklärte auch, warum sie sein Grab nur so selten besucht hatte. Eigentlich war Anneke sich ganz sicher, dass sie es nicht gewollt hätte, im Grab ihres verstorbenen Ehemannes beigesetzt zu werden, zu dem sie zu Lebzeiten doch immer eine recht große Distanz gehabt hatte. Es entsprang wohl tatsächlich nur dem Wunschdenken ihrer Mutter, damit unter alle Differenzen zwischen ihren Eltern jetzt formal einen Schlussstrich ziehen zu können. Das sah ihr ähnlich. Sie war schon immer gut darin gewesen, zu versuchen, Probleme unter den Teppich zu kehren.