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Z serii: Eltville-Thriller #11
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Ute Dombrowski

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Inhaltsverzeichnis

Titel

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Impressum neobooks

1

Verlorene Fassung

Ute Dombrowski

1. Auflage 2022

Copyright © 2022 Ute Dombrowski

Umschlag: Ute Dombrowski mit www.canva.com

Lektorat/Korrektorat: Julia Dillenberger-Ochs

Satz: Ute Dombrowski

Verlag: Ute Dombrowski Niedertiefenbach

Druck: epubli

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors und Selbstverlegers unzulässig.

Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Es ist mehr Würde in großmütiger Vergebung als in Rache.“

William Shakespeare, Der Sturm,5. Akt, 1. Szene / Prospero

Susanne hob den flachen Kieselstein auf und ließ ihn über die sanften Wellen des Rheins flippen, dann setzte sie sich auf die Bank. Die Maisonne streichelte ihre Haut und sie fühlte die Kraft des Frühlings. Sie streckte die Beine aus und schloss die Augen.

Seit Susanne vor fast einem halben Jahr hierher versetzt worden war, hatte sie sich immer besser gefühlt. Sie war angekommen, auch wenn das Schicksal direkt zu Beginn ihres Lebens in Eltville nochmal grausam zugeschlagen hatte: Karin, ihre erste Bekannte an diesem Ort, die dann ihre Vermieterin und Freundin geworden war, war tot. Ermordet. Es war eine schwere Zeit, doch sie hatten den Täter überführt. Lia, Karins Freundin und das eigentliche Opfer des Arztes, war im März zu ihrer Schwester nach Italien gezogen und Susanne fühlte sich seitdem recht einsam.

Sie ging jetzt regelmäßig zum Training und Marcel, der Meister der Kampfkünste, hatte sie auf ihrem Weg aus der Wut begleitet. Sie hatte ihn noch immer nicht von den Beinen geholt, wenn sie miteinander kämpften, aber das machte Susanne nicht mehr verrückt.

So, wie er es prophezeit hatte, war sie ruhiger geworden und konnte ihre Wut auf sich endlich begreifen. Marcel hatte sie zu sich selbst geführt, besser, als jeder Psychologe es gekonnt hätte. Auch Ferdinand hatte sie schon gelobt, wenn sie statt mit überschießender Energie mit Ruhe und Gelassenheit an einen Fall herangegangen war. Robin hatte genickt, wenn sie vom Training erzählte.

„Ich wusste es. Du bist ganz anders, wenn du nicht wütend bist. Und ich wusste, dass du dir verzeihen kannst.“

Ja, sie hatte sich verziehen. Die Strafversetzung konnte und wollte sie nicht rückgängig machen, doch sie litt nicht mehr darunter und sie konnte mit Abstand an die Sache in Potsdam denken.

Nur mit einem hatte sie nach wie vor keine Berührungspunkte: Eric war abweisend, kühl und arrogant. Manchmal erwischte sie sich zwar dabei, wie sie an den Kuss dachte, der so viel Sehnsucht ausgelöst hatte, aber dann wischte sie den Gedanken rasch weg, denn das Gespenst Bianca würde immer zwischen ihnen stehen.

Gestern hatte sich nach langer Funkstille ihr Exfreund Phillip gemeldet, der sich sofort nach ihrer Abreise mit anderen Frauen getröstet hatte. Er berichtete bei seinem Anruf von einer neuen Kunstausstellung, denn er war sehr kreativ und fleißig gewesen.

„Ich habe neue Energien in mir gespürt! Als du weg warst, hat es mich wieder in den Fingern gejuckt und nun habe ich eine Ausstellung in Wiesbaden, also ganz in deiner Nähe. Dann werde ich endlich eine Gelegenheit haben, dich wiederzusehen.“

„Ah ja“, hatte Susanne nur gesagt.

„Ich vermisse dich immer noch wahnsinnig. Vielleicht gibt es einen Neuanfang für uns. Jetzt kann ich mir auch vorstellen zu pendeln. Deine Mutter würde das sehr freuen.“

Na prima, dachte Susanne, da kann ich doch gar nicht nein sagen, wenn ich meiner Mutter eine Freude machen kann mit einer aufgewärmten Beziehung. Früher hätte sie ihn angeschrien und getobt, heute fühlte sie sich überlegen und besonnen.

„Ich muss viel arbeiten und weiß nicht, ob ich Zeit habe. Wir können ja nochmal telefonieren. Mach‘s gut.“

Phillip war damals anscheinend so überrascht gewesen, als sie ihn nicht beschimpfte, dass er nicht einmal nachhakte und sich ebenfalls brav verabschiedete.

Sie lächelte, stand auf und ging dann in Richtung Altstadt. Heute war seit drei Wochen ihr erster freier Tag. Sie hatten einige Fälle gehabt, die viel Zeit in Anspruch genommen hatten, aber nun war es ruhig und die Verbrecher wollten ihr wohl nicht den Frühling vermiesen. Sie schlenderte durch die Altstadt, kaufte sich ein Eis und grüßte den einen oder anderen, denn sie hatte die Leute in ihrer Nachbarschaft bereits kennengelernt. Nicht, dass sie enge Kontakte ge­knüpft hatte, nein, das wollte sie nicht. Es war einfach ein freundliches Miteinander.

Susanne lenkte ihre Schritte zurück zum Rheinufer, um noch eine Weile in der Sonne zu sitzen. Ihr Telefon klingelte und sie schnaufte, als sie sah, dass es ihre Mutter war. Am liebsten wäre sie nicht dran gegangen, doch ihre Mutter würde es hartnäckig immer weiter versuchen.

„Hallo Mama“, sagte sie freundlich. „Was gibt es denn?“

„Ich hoffe, du gehst mit Phillip vernünftig um und fauchst ihn nicht wieder an, wenn ihr euch trefft.“

Susanne war nicht mehr erschüttert, dass ihre Mutter nicht einmal eine Begrüßung für sie erübrigen konnte, nein, sie kannte das bereits und ließ es an sich abprallen.

Ihre Mutter redete ununterbrochen weiter, wie stolz sie auf Phillip war. Susanne hörte geduldig zu, aber als sie nun auch noch stolz sein sollte, erklärte sie mit ruhiger Stimme, dass sie ja nicht wüsste, was Phillip geschaffen hatte, also müsste sie sich die Kunstwerke erst ansehen.

„Es ist traumhaft, Farben und Formen, die förmlich explodieren.“

Susanne wollte etwas erwidern, kam aber nicht zu Wort.

„Aber du hast dich ja nie für seine Kunst interessiert. Es war dir nicht gut genug. Du hast solch einen Mann gar nicht verdient, aber er möchte dich unbedingt zurückerobern.“

 

„Mama, ich bin auf der Arbeit angekommen und muss auflegen.“

Nachdem sie das Handy in die Hosentasche geschoben hatte, atmete sie mehrmals tief durch. Sie wollte sich den Tag nicht verderben lassen, doch wie immer tat es weh, dass sie ihrer Mutter nichts rechtmachen konnte. Sie hatte immer gehofft, diese Frau würde einmal für sie eintreten, aber diese Hoffnung musste sie schon vor langer Zeit aufgeben.

Ein Schiff fuhr langsam stromaufwärts. Susanne sah ihm hinterher und freute sich, als jemand winkte.

„Das ist aber nett“, flüsterte sie.

In ihrer Hosentasche vibrierte es. Wer konnte das sein? Mutter? Phillip? Die Neugier siegte und sie war froh, als sie Robins Nummer sah.

„Hallo Susanne, ich weiß, du hast frei, aber vielleicht interessiert es dich, dass wir eine Leiche haben.“

„Ach du je! Wo denn?“

„In den Weinbergen. Ich bin eben losgefahren. Magst du mitkommen?“

Einen freien Tag gegen eine Leiche eintauschen? Eigentlich wollte sie gar nichts tun, aber Robin zu einem Tatort zu begleiten war schon etwas Besonderes. Und morgen würde sie sich sowieso damit beschäftigen müssen. Sie seufzte.

„Ich bin am Rheinufer, kannst du mich abholen?“

„Ja, komm zum Anleger, dann sammle ich dich ein.“

Eine Viertelstunde später saß Susanne neben Robin im Auto. Er entschuldigte sich nochmals, dass er sie angerufen hatte.

„Ach, das macht nichts. Ich wollte mich zwar ausruhen, aber eine Leiche toppt alles. Weißt du Näheres?“

„Nein, nur, dass es ein männlicher Toter sein soll. Er liegt bei einer Schutzhütte. Die Spusi ist bereits dort.“

Robin grinste.

„Ferdinand meinte, ich soll dich anrufen und fragen, ob du mitkommen möchtest.“

„Aha, ihr denkt also, ich bin so eine, die nur die Arbeit im Kopf hat. Dabei gibt es andere interessante Dinge in meinem Leben.“

„Zum Beispiel?“

Susanne lachte.

„Erwischt. Gut, ich gebe zu, es gibt nichts Spannenderes als eine Leiche.“

„Du musst dich mal verlieben, damit du auch wieder an etwas anderes denken kannst.“

„Verlieben? Nein danke.“

Susanne erzählte Robin, was Phillip und ihre Mutter gesagt hatten und schüttelte nochmal den Kopf.

„Nein, ein Mann ist das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann. Mir ist heute schon schlecht, wenn ich an Phillips bevorstehenden Besuch denke. Der will mich zurückerobern.“

„Und das wäre so schlecht?“

„Ja, das wäre übel. Ein Egoist, Angeber, arroganter Fatzke und Mutters Liebling, der sich in den letzten Wochen und Monaten mit diversen jungen Mädchen vergnügt hat. Die eine hat er zu meiner Mutter mitgenommen und sie fand sie süß und hübsch. Nein danke, auf solch einen Mann kann ich verzichten.“

„Naja, vielleicht findet sich hier ein netter Junggeselle, mit dem du anbandeln kannst.“

Susanne winkte ab, als sie am Fundort der Leiche angekommen waren.

2

Der Tote lag halb auf dem Rücken und der Fotograf machte Fotos aus allen Perspektiven. Einen Moment später nickte er und packte zusammen. Eben hielt Herrmann Pfriehl, der Gerichtsmediziner, neben ihnen und stieg aus. Sie sahen, wie Dr. Merten Hacke aus dem Hintergrund trat und theatralisch mit der Arbeit begann.

„Der gönnt sich mal wieder einen ganz großen Auftritt“, flüsterte Susanne.

„Tja, ein Blender und menschlich noch nicht ausgereift, aber ich glaube, in seinem Job ist er gut“, erwiderte Herrmann lachend.

„Warum kommst du denn jetzt erst? Bist du nicht immer der Erste am Tatort?“

„Eigentlich schon, Robin, doch ich stand tatsächlich im Stau. Das Müllauto hat alles blockiert und ich musste erst aussteigen und diskutieren. Aber ich muss ja niemanden mehr retten, meine Kunden können auch ein bisschen Verspätung verkraften.“

Sie gingen hinüber zur Leiche des Mannes und Dr. Hacke nickte ihnen erhaben zu.

„Zertrampeln Sie mir nicht die Spuren, Mädchen!“, bellte er Susanne an, die das Tuch anhob, das über die Leiche gebreitet worden war.

„Keine Angst, Jungchen“, konterte die Kommissarin, „ich schwebe förmlich herbei wie eine Elfe.“

„Ich verbitte mir diesen Ton!“

„Und ich erst. Komm Herrmann, erzähl uns was.“

Dr. Hacke trat zur Seite und kramte in einem Koffer, während Herrmann sich zu Susanne hockte. Robin schaute sich die Schutzhütte an.

„Es sieht so aus, als wäre er dort auf die Mauer gestürzt. Entweder war es ein Unfall oder jemand hat ihn gestoßen. Näheres kann ich euch nach der Obduktion sagen.“

„Er ist groß und kräftig, also braucht man schon Kraft, den umzuschubsen.“

„Da stimme ich dir zu, doch mit der nötigen Wut geht das, auch wenn man nicht so stark ist.“

Susanne schluckte, denn sie wusste das aus eigener Erfahrung. Der Mann, den sie im Potsdamer Hinterhof verprügelt hatte, war auch viel größer und bulliger als sie gewesen, noch dazu bewaffnet. Aber Wut und Angst hatten ihr übermenschliche Kräfte verliehen.

Herrmann zog das Tuch ganz herunter und zischte einmal kurz zwischen seinen Zähnen. Auch Susanne stockte. Die Hose des Mannes stand offen und man konnte ahnen, was er vorgehabt hatte.

„Ein Stelldichein?“

„Herrmann, sowas sagt man heutzutage nicht mehr.“

„Was denn dann?“

„Ein Date.“

„Aha. Wann hattest du dein letztes Date?“

Susanne winkte lachend ab. Ein richtiges Date hatte sie zuletzt mit Phillip gehabt, aber daran mochte sie nicht denken.

„Vielleicht wollte sie nicht so, wie er wollte und dann hat sie ihn von sich gestoßen. Es soll ja Frauen geben, die eher auf eine Beziehung aus sind.“

„Dr. Hacke, haben Sie schon eine Brieftasche oder so etwas gefunden?“

„Nein, ich habe ihn noch nicht angefasst.“

Herrmann durchsuchte sein Jackett und holte eine dicke braune Brieftasche heraus. Er roch daran.

„Das ist echtes Leder, ein teures Stück.“

Er öffnete sie und sah einen dicken Stapel Geldscheine, dazu mehrere Kreditkarten. Also war es kein Raub.

„Na prima“, sagte Robin, der zu ihnen getreten war, „das hätte es einfacher gemacht. Wer ist er?“

Herrmann holte den Ausweis hervor und las: „Fabian Tschötz. Wohnt in Eltville. Schau selbst!“

Robin sah den Ausweis an und erklärte, dass sie jetzt zu der Adresse fahren würden, während Susanne aufstand und ihm zum Auto folgte. Sie sahen sich über das Dach hinweg an.

„Was ist, wenn er Frau und Kinder hat?“

„Das sehen wir dann. Ich hoffe, er ist ledig. Hast du die offene Hose gesehen?“

„Ja, denkst du, er trifft sich mit seiner Ehefrau zum Vögeln in den Weinbergen?“

„Eher nicht“, sagte Robin, „darum hoffe ich auch, dass er nur pinkeln wollte und dabei gestolpert ist.“

„Du bist ein hoffnungsloser Romantiker.“

„Na einer muss es ja sein.“

Susanne verdrehte die Augen und stieg ein. Als Robin sich neben sie auf den Beifahrersitz fallen ließ, sah er seine Kollegin düster an.

„Mal im Ernst: Ich hasse es, Todesnachrichten zu überbringen, aber wenn Kinder davon betroffen sind, ist es doppelt so schlimm.“

„Da wird mir auch immer ganz mulmig.“

Sie parkten vor einem großzügigen Einfamilienhaus und sahen einen gepflegten Garten mit unzählbar vielen Tulpen, die in allen Farben strahlten. Hier hatte jemand ein Händchen für die Natur. Vor der Haustür stand ein pinkfarbenes Mädchenfahrrad und Susanne hatte sofort einen Kloß im Hals. Die Sonne schien wie zum Hohn, als sie klingelten.

Eine Frau Anfang dreißig öffnete die Tür und lächelte. Sie war trotz altmodischer Kittelschürze über dem eleganten Kleid umwerfend schön.

„Ja bitte?“

„Frau Tschötz?“

„Ja. Wer sind Sie und wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ich bin Robin Hinschler, das ist meine Kollegin Susanne Wescham, wir sind von der Kriminalpolizei. Dürfen wir reinkommen?“

Die Frau hatte die Augen aufgerissen und zeigte mit einer fahrigen Bewegung ins Innere des Hauses. Susanne entdeckte die große Wohnküche und ging voran.

Mandy Tschötz zog die Schürze aus und bot den beiden einen Platz an. Sie setzten sich und Susanne beobachtete, wie ihr Gegenüber die Hände knetete, bis die Knöchel weiß hervortraten.

„Ist meinem Mann etwas zugestoßen? Hatte er einen Unfall?“

Robin fragte: „Heißt Ihr Mann Fabian?“

Die Frau nickte.

„Ich bin Mandy.“

„Haben Sie ein Foto von ihm?“

Sie nickte abermals und nahm mit zitternden Händen ihr Handy vom Tisch. Dann zeigte sie den Kommissaren ein Bild des Mannes, der tot in den Weinbergen gelegen hatte.

„Frau Tschötz, wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass wir Ihren Mann heute Morgen tot aufgefunden haben. Es tut uns sehr leid.“

Ein Schauer lief Susanne über den Rücken, als Mandy Tschötz den Kopf auf ihre Hände legte und still weinte. Ihre Schultern bebten heftig.

Susanne berührte sie sanft, da richtete sich Mandy wieder auf und wischte die Tränen ab.

„War es ein Unfall?“

„Das wissen wir noch nicht.“

„Wie ist er gestorben?“

„Durch einen Sturz.“

„Also kann es ein Unfall gewesen sein?“

„Wann haben Sie Ihren Mann zuletzt gesehen?“

„Gestern Abend um sieben. Er wollte nochmal in die Praxis und heute früh war er wohl schon weg.“

Susanne und Robin sahen sich an.

„Was ist das für eine Praxis?“

„Fabian ist … war Schönheitschirurg.“

Aha, dachte Susanne, daher der Luxus um sie herum. Sie hatte sich umgesehen und das Innere dieser Küche bewundert, die mit allem ausgestattet war, was sich eine Hausfrau nur wünschen konnte, aber sie würde diesen Raum niemals gegen ihre kleine Küche eintauschen, die Wärme und Geborgenheit vereinte.

„Was machen Sie beruflich?“

„Ich kümmere mich um den Haushalt und die Kinder. Nebenbei gebe ich Yoga-Kurse.“

Susanne schluckte.

„Kinder?“

„Wir haben drei zauberhafte Mädchen. Es ist Samstag, die beiden Großen sind bei Freundinnen, die Kleine ist in ihrem Zimmer. Julia ist sechzehn, Jeannine fünfzehn und Jana zwölf. Oh mein Gott, wie soll ich ihnen erklären, dass ihr Vater tot ist?“

„Haben Sie eine Freundin oder Familie, die Sie unterstützen können? Sie brauchen sowieso jemanden, denn Sie müssen Ihren Mann identifizieren.“

Mandy begann wieder zu zittern, aber sie nickte trotz allem sehr gefasst.

„Ich rufe eine Freundin an, die kann kommen.“

Mandy telefonierte und als die Freundin eingetroffen war, informierte sie Susanne kurz und folgte ihnen zum Auto.

3

Jewgeni Sabritschek öffnete die Augen und blinzelte in das Licht. Er war durstig und fühlte sich merkwürdig. Neben ihm piepte etwas eindringlich. Aus dem Nebel erschien ein Gesicht vor ihm, das freundlich auf ihn herabsah.

„Ich bin Dr. Benger, Herr Sabritschek, Sie hatten einen kleinen Herzinfarkt.“

Jewgeni riss die Augen auf.

„Bin ich im Krankenhaus?“

„Im Gefängniskrankenhaus.“

„Aber … aber … was ist denn passiert?“

„Sie waren auf dem Hof und sind umgekippt. Wir haben Sie drei Tage auf der Intensivstation betreut, aber es gibt eine gute Nachricht: Sie werden bald wieder gesund. Sie bleiben noch eine Weile hier, schonen sich und machen eine Reha. Die Schwester bringt Ihnen gleich etwas zu trinken und ein wenig Schonkost.“

Der Arzt verabschiedete sich und ließ Jewgeni mit seinen Gedanken allein. Er starrte an die Decke. Dass ihm jede Erinnerung an den Herzinfarkt fehlte, störte ihn nicht. Schon ein paar Mal hatte es in seiner Brust gezwickt, aber er hatte sich geschüttelt und gut war es. Schließlich war er ein Mann wie ein Baum und niemals krank gewesen.

Jetzt fiel ihm ein, dass auch sein Vater an einem Herzinfarkt gestorben war, als er noch ein Teenager war. Jewgenis Leben danach hatte sich stark verändert. Er hatte sich nichts mehr sagen lassen, weder von seiner Mutter noch von Lehrern oder sonst irgendjemandem. Seine Freunde hatten Respekt und benahmen sich ihm gegenüber eher wie Untergebene. So war er dann auf die schiefe Bahn geraten.

Im Bett neben ihm raschelte es, sodass er erschrak und hinübersah. Den Bettnachbarn hatte er noch gar nicht wahrgenommen. Ein Kopf mit einer Frisur wie ein Vogelnest nach einem Orkan erhob sich aus dem Kissen, dann hustete der Mann und fuhr das Kopfende seines Bettes hoch. Er grinste, wobei Jewgeni sah, dass dem Mann ein Schneidezahn fehlte.

 

„Du lebst ja wirklich noch!“, rief er erstaunt. „Ich dachte, du bist tot. Habe gehört, du hattest einen Herzinfarkt. Hast wohl zu viel geraucht?“

„Halt die Fresse“, brummte Jewgeni und drehte sich zum Fenster um.

Er wollte nicht reden, schon gar nicht mit solch einem asozialen Penner. Aber der Mann mit den wirren Haaren sprach einfach weiter.

„Die haben gesagt, du brauchst Ruhe und ich soll auf dich aufpassen. Mann, ich dachte echt, du kratzt hier ab. Aber keine Angst, Leo passt auf dich auf.“

Jewgeni reagierte nicht und schloss die Augen.

„Ich bin schon das achte Mal im Krankenhaus.“

Leo erwartete wohl, dass Jewgeni antwortete, aber der reagierte nicht.

„Bist wohl so ein Schweiger? Na egal, also ich habe immer Ärger im Knast mit den anderen. Die sagen, ich bin ihr Opfer Nummer eins. Eigentlich lustig, aber ich kriege ständig eins aufs Maul. Dieses Mal haben sie mir den Arm angebrochen und eine Rippe ist auch angeknackst.“

Jewgeni hatte große Lust, dem Bettnachbarn noch viel Schlimmeres anzutun, als ihm einfiel, dass er diesen Leo vielleicht noch brauchen könnte.

Jetzt betrat eine Krankenschwester mittleren Alters das Zimmer.

„Mittagessen, die Herren“, bellte sie unfreundlich.

„Kann ich ein Einzelzimmer bekommen?“, fragte Jewgeni.

„Ja, klar, wir sind ein Luxushotel und erfüllen gerne die Wünsche unserer Gäste. Was denken Sie sich denn? Wir sind voll belegt und Sie haben Glück, dass es nur Leo ist.“

„Ja, Schwester Regina, ich bin Stammkunde und ein guter Mann.“

Leo schob sich das Tablett mit dem Essen zurecht und nahm die Gabel in die Faust. In Windeseile verschwanden Bratwurst, Sauerkraut und Kartoffelbrei in seinem Mund. Jewgeni sah angewidert weg.

„Was ist das?“, fragte er, als Regina den Deckel von seinem Tablett hob und ein großes Glas Wasser eingoss.

„Vollkornreis mit Hähnchen und viel Gemüse. Das ist die Schonkost.“

Jewgeni schob mit der Gabel das winzige Stück Fleisch über den Teller und rührte den Reis in das Gemüse.

„So ein Fraß! Wer soll denn davon satt werden?“

„Sie sollen nicht satt werden, sondern gesund. Wir müssen noch ein paar Kilo runterkriegen, darum gibt es nichts Fettes. Guten Appetit.“

Schwester Regina drückte ihm das Glas Wasser in die Hand und verließ das Zimmer. Im Nachbarbett kratzte Leo die Reste des Essens mit einem Teelöffel vom Teller und machte sich genauso schnell über den Schokopudding her. Dann sah er zu Jewgeni hinüber und seufzte.

„Soll ich dir aus der Cafeteria etwas Richtiges besorgen?“

Jewgeni sah Leos verschlagenen Blick und kniff die Augen zusammen. Er massierte sich die Brust und überlegte, ob er sich darauf einlassen konnte. Er fühlte sich nicht krank, nur schlapp und müde. Dann schaute er auf seinen Teller und nickte.

„Hol mir ein Salamibrötchen!“

Mühsam schnaufend richtete sich Leo auf und lachte.

„Ey, du kannst hier nicht einfach rumlaufen, ich darf aber später mit einem Pfleger rausgehen. Dann besorge ich dir was zu essen. Versprochen. Das ist nicht nur ein Krankenhaus, sondern auch ein Knast.“

Jewgeni nickte und schaufelte widerwillig sein Essen in sich hinein. Danach drehte er sich wieder zum Fenster um und Leo begriff, dass sein Bettnachbar Ruhe wollte.

Eine Stunde später holte der Pfleger Leo zu einem Spaziergang ab. Sie liefen auf dem Flur hin und her, und Leo quengelte so lange, bis der Pfleger mit ihm in die Cafeteria ging. Dort saßen manchmal Patienten mit ihrem Besuch. Es gab Kaffee, belegte Brötchen und Süßigkeiten. Leo bot dem Pfleger eine Tasse Kaffee an, der lehnte ab. Er sah, wie Leo Kaffee, zwei Brötchen und Schokolade kaufte. Danach riss er mehrere Servietten aus dem Körbchen neben der Kasse.

„Ja was?“, fuhr er die Kassiererin an. „Ich will das nachher essen. Der trockene Kuchen hängt mir zum Halse raus.“

Er packte die Brötchen ein und trug sie zum Tisch, während der Pfleger die Tasse mit dem Kaffee balancierte. Sie setzten sich und schwiegen. Leo schlürfte laut, dann sah der Pfleger auf die Uhr.

„Austrinken, die Zeit ist rum.“

Leo grinste, bedankte sich für den Ausflug und wurde wieder in sein Zimmer geführt. Alle Türen, die auf dem Weg lagen, waren abgeschlossen, der Pfleger hatte einen Schlüsselbund an einer Kette, den er fest in seiner Faust hielt.

„Ist hier schon mal einer abgehauen?“

„Nein.“

„Und wenn einer abhauen würde?“

„Die Leute sind krank und nicht blöd. Jetzt rein!“

Er schob Leo durch die Tür und schloss ab. Leo strahlte, als er Jewgeni die Brötchen überreichte. Der aß mit großem Appetit, obwohl die Brötchen schon ein wenig trocken waren und das Salatblatt schlaff auf seiner Zunge lag.

„Regina darf davon nichts wissen, sonst kriegen wir Ärger.“

Jewgeni nickte. Dieser Idiot würde ihm noch viele Dienste leisten. Er wollte sich also mit ihm gutstellen.

„Ich bin Jewgeni“, sagte er.

„Ich bin Leo.“

Sie schüttelten sich die Hände, danach ließ Leo die Servietten verschwinden und legte sich wieder in sein Bett. Er grinste in sich hinein, denn auch er sah in der Verbindung mit Jewgeni nur Vorteile. Einen solchen Freund zu haben war nützlich. Mit einem wie Jewgeni war er unantastbar.