Eine kurze Geschichte des systemischen Denkens

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Eine kurze Geschichte des systemischen Denkens
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Systemische Horizonte – Theorie der Praxis

Herausgeber: Bernhard Pörksen

»Irritation ist kostbar.« Niklas Luhmann

Die wilden Jahre des Konstruktivismus und der Systemtheorie sind vorbei. Inzwischen ist das konstruktivistische und systemische Denken auf dem Weg zum etablierten Paradigma und zur normal science. Die Provokationen von einst sind die Gewissheiten von heute. Und lange schon hat die Phase der praktischen Nutzbarmachung begonnen, der strategischen Anwendung in der Organisationsberatung und im Management, in der Therapie und in der Politik, in der Pädagogik und der Didaktik. Kurzum: Es droht das epistemologische Biedermeier. Eine Außenseiterphilosophie wird zur Mode – mit allen kognitiven Folgekosten, die eine Popularisierung und praxistaugliche Umarbeitung unvermeidlich mit sich bringt.

In dieser Situation ambivalenter Erfolge kommt der Reihe Systemische Horizonte – Theorie der Praxis eine doppelte Aufgabe zu: Sie soll die Theoriearbeit vorantreiben – und die Welt der Praxis durch ein gleichermaßen strenges und wildes Denken herausfordern. Hier wird der Wechsel der Perspektiven und Beobachtungsweisen als ein Denkstil vorgeschlagen, der Kreativität begünstigt.

Es gilt, die eigene Intelligenz an den Schnittstellen und in den Zwischenwelten zu erproben: zwischen Wissenschaft und Anwendung, zwischen Geistes- und Naturwissenschaft, zwischen Philosophie und Neurobiologie. Ausgangspunkt der experimentellen Erkundungen und essayistischen Streifzüge, der kanonischen Texte und leichthändig formulierten Dialoge ist die Einsicht: Theorie braucht man dann, wenn sie überflüssig geworden zu sein scheint – als Anlass zum Neu- und Andersdenken, als Horizonterweiterung und inspirierende Irritation, die dabei hilft, eigene Gewissheiten und letzte Wahrheiten, große und kleine Ideologien so lange zu drehen und zu wenden, bis sie unscharfe Ränder bekommen – und man mehr sieht als zuvor.

Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen

Wolfram Lutterer

Eine kurze Geschichte des systemischen Denkens

2021


Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Themenreihe »Systemische Horizonte«

Hrsg. von Bernhard Pörksen

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlaggestaltung: Heinrich Eiermann

Redaktion: Uli Wetz

Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Erste Auflage, 2021

ISBN 978-3-8497-0409-4 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8342-6 (ePUB)

© 2021 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

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Inhalt

Zur Einführung

1Was ist das eigentlich: »systemisch«?

Zur Begriffsklärung: Aller Anfang ist leicht

Aller Anfang ist leicht … oder etwa nicht?

2Ausflug in die Antike

Vom Erkennen (Xenophanes)

Vom bedingten Entstehen (Siddhartha Gautama)

Von der Einheit (Laozi)

Vom Fließen (Heraklit)

Das menschliche Maß (Protagoras)

Auf der Suche nach der Weisheit (Sokrates und Platon)

Die Summe der Teile (Aristoteles)

Und die Frauen?

3Intermezzo im Mittelalter

Die Welt und der Mensch (Hildegard von Bingen)

4Ambivalenzen der Neuzeit

Dualismus (René Descartes)

Früher Konstruktivismus I (Giambattista Vico)

Früher Konstruktivismus II (Immanuel Kant)

Nicht alle Widersprüche lösen sich auf (Georg Wilhelm Friedrich Hegel)

Missklänge (Friedrich Nietzsche)

5Die Welt wird reif für systemisches Denken

Die Physiker oder: Gott würfelt nicht – oder doch? (Albert Einstein, Werner Heisenberg und Niels Bohr)

Was ist das Ich? (Sigmund Freud vs. John Watson)

Die Grundlagenkrise in der Mathematik (Kurt Gödel)

Was wir von Kindern lernen können (Jean Piaget)

Die Welt der Sprache (Ludwig Wittgenstein)

Allgemeine Systemtheorie (Ludwig von Bertalanffy)

Dialektik der Aufklärung (Theodor W. Adorno und Max Horkheimer)

Zwischenbilanz

6Der große Durchbruch: die Kybernetik

Die frühen Kybernetiker

Visionär und Warner (Norbert Wiener)

Die Strategie des Spiels (John von Neumann)

Was ist Information? (Claude Shannon)

Lernen durch Einsicht (Gregory Bateson)

Die Psychologie entdeckt das Feld (Kurt Lewin)

 

Technokratische Kybernetik (Ross Ashby)

7Anfänge der modernen Systemik

Eine neue Logik (Gotthard Günther)

Hypnotherapie (Milton Erickson)

Gestalttherapie (Fritz Perls)

Figuration oder System? (Norbert Elias)

Ein neuer Humanismus (Carl Rogers)

Frühe Familientherapie: Entwicklung und Erleben (Virginia Satir)

Pragmatik der Kommunikation (Paul Watzlawick)

Grundzüge moderner Systemik: Die Welt ist Beziehung (Gregory Bateson)

Zwischenbemerkung

8Exkurs: Auf der Suche nach neuer Einfachheit

Die Wiedergeburt des Reduktionismus (I): Die Soziobiologie (Edward Wilson und Richard Dawkins)

Vom Behaviorismus zur Verhaltenspsychologie (Burrhus Skinner)

Die Wiedergeburt des Reduktionismus (II): Der Neoliberalismus (Milton Friedman)

Auf der Suche nach Wahrheit: Die Mär von der Letztbegründung (Vittorio Hösle)

Der Wert der Kooperation (Robert Axelrod)

Zwischenbemerkung

9Reifung und weitere Differenzierungen

Selbstorganisation, Synergetik und Emergenz (Ilya Prigogine, Isabelle Stengers, Hermann Haken)

Radikaler und sozialer Konstruktivismus (Ernst von Glasersfeld, Peter Berger, Thomas Luckmann)

Therapeutische Kontexte im Zeichen der Kybernetik

Reflexive Kybernetik (Heinz von Foerster)

Die Funktion der Liebe (Humberto Maturana)

Eine halbe Rolle rückwärts (Niklas Luhmann)

Systemische Perspektiven für die Familientherapie (Helm Stierlin)

Affektlogik (Luc Ciompi)

Ego-States (John und Helen Watkins)

Weitere Entwicklungen

Hypnosystemische Therapie (Gunther Schmidt)

Anstelle einer Zusammenfassung

Zum Abschluss: Wege systemischen Denkens

Anmerkungen

Literatur

Über den Autor

Zur Einführung

Dieses Buch beginnt mit einer Reihe von Anfängen.

Der erste dieser Anfänge besteht in dem Hinweis, dass dieses Buch eine Lücke schließen möchte. Eine umfassendere Geschichte zur Entwicklung des systemischen Denkens gibt es bisher noch nicht. Allerdings, diese Lücke ist tatsächlich so groß, dass dieses Buch sie nicht ganz zu schließen vermag. Das soll es aber auch gar nicht. Vielmehr möchte ich im Folgenden eine Reihe von Wegmarken in unserer Geistesgeschichte vorstellen, dir mir für den systemisch-konstruktivistischen Denkansatz als besonders wertvoll erscheinen.

Dieses Buch begibt sich somit auf eine Art Spurensuche: Wann, wo und in welcher Weise haben sich systemische Sichtweisen entwickelt? Wo überall finden sich Einsichten in die systemische Natur unserer Welt? Aber auch: Welche anderen Ideen konkurrieren mit und kontrastieren zu systemischen Denkweisen?

Ein zweiter Anfang schaut auf den Systembegriff selbst. Heute sprechen wir geradezu überall von Systemen: egal, ob in der Wirtschaft, in der Politik, in der Therapie, in der Familie, in der Biologie oder in der Technik. Mehr noch, wir sprechen sogar dann von Systemen, wenn wir das Wörtchen »System« gar nicht verwenden: Immer dann nämlich, wenn wir von Netzwerken, von Kreisläufen oder von Mustern sprechen, wenn wir von Beziehungen und Interaktionen, von Organisationen, von Regelungen, von Selbstregulation oder vom Fließgleichgewicht sprechen – immer dann haben wir es genau mit dem zu tun, was man auch als ein »System« bezeichnen könnte. Systeme überall, wenn man so will.

Es wird daher kaum erstaunen, dass insbesondere in den letzten Jahrzehnten eine Vielzahl von verschiedenen systemischen Theorieansätzen entwickelt wurden. In dieses Dickicht unterschiedlichster Denkweisen rund um das Systemische werde ich im Rahmen dieses Buch jedoch nur einen sehr vorsichtigen Blick hineinwerfen, fernab von jeglichem Versuch der Vollständigkeit.

Ein dritter Anfang: Wenn ich es richtig sehe, dann beschäftigt sich unser Denken seit jeher mit ebendem, was wir heute als »systemisch« bezeichnen. Immer wieder finden sich bei den unterschiedlichsten Denkerinnen und Denkern Spuren der Einsicht in die Verwobenheit unserer Welt und unserer Weltwahrnehmung. Zuweilen geschieht dies sogar inmitten von ansonsten ganz anders gearteten Ideengebäuden.

Schon immer, so erscheint es zumindest, stehen wir zugleich jedoch inmitten von zwei grundverschiedenen, wenn auch idealerweise sich ergänzenden Weisen der Welterfahrung. Auf der einen Seite sind da all die Erkenntnisse, die wir aus dem direkt sichtbaren Erfolg (oder Misserfolg) unseres Handelns schöpfen. Auf der anderen Seite hingegen existiert ein zuweilen nur dunkles Ahnen davon, dass diese Handlungen in weitaus größeren Zusammenhängen stehen, deren Struktur wir selbst nur schwer zu erkennen vermögen. Diese zweite Weise der Welterfahrung ist immer wieder zum Gegenstand magischer und religiöser Weltdeutungen geworden. Ironie der Geschichte: Oftmals wurden dabei Sinnstiftungen produziert, deren Effekt letztendlich darin bestand, ebendieses dunkle Ahnen wieder zu verdrängen – zugunsten jener einfacheren Weltdeutungen.

Dieses Buch beginnt – ein vierter Anfang – mit einem Ausflug in die Antike. Dort begegnet uns unter anderem Sokrates als Urbild des (systemischen?) Philosophen. Es folgt nach einem Intermezzo im Mittelalter eine kurze Reise durch eine Reihe von zentralen Ideen, die im Laufe der Neuzeit entwickelt wurden. Schließlich beschäftige ich mich umfassender mit den vielfältigen Entwicklungen im Laufe des 20. Jahrhunderts: jenem Jahrhundert, in dessen erster Hälfte endlich eine breite wissenschaftliche Fundamentierung des modernen systemischen Denkens erfolgt, welches selbst sich dann insbesondere in der zweiten Hälfte weiter herausbildete. Mit dem Ende des 20. Jahrhunderts wird diese kurze Geschichte im Wesentlichen ausklingen. Geschichten sind retrospektiv – sich allzu nah an die Gegenwart heranzuwagen verbietet sich eigentlich von selbst.

Fernab davon, einen systematischen – und das meint an dieser Stelle: einen auf Vollständigkeit bemühten – Anspruch erfüllen zu wollen, werde ich im Rahmen eines breit angelegten Streifzugs durch unsere Geistesgeschichte zeigen, wie allgegenwärtig systemische Sichtweisen immer schon gewesen sind; aber auch, auf welche Widersprüche sie gestoßen sind und wie sie mit der Zeit an wissenschaftlicher Schärfe gewonnen haben. Bis hin zu unserer heutigen Zeit, wo – so zumindest meine Überzeugung – eigentlich kein Weg mehr an ihnen vorbeiführen kann.

Ein fünfter Anfang: Ich werde neben dem systemischen Denken insbesondere die Entwicklung konstruktivistischer Ideen berücksichtigen. Es wird sich zeigen, wie sehr sich beide Denkweisen immer stärker miteinander verknüpfen. Da Systeme zudem so einiges mit der Setzung von Grenzen zu tun haben, präsentiere ich zur Abgrenzung zudem eine Reihe zentraler Gegenentwürfe. Denn wenn alles beliebig oder sogar allumfassend wäre, würde nichts mehr einen Unterschied ausmachen. Zudem ist es mir insgesamt ein besonderes Anliegen, die jeweiligen Autorinnen und Autoren selbst zu Wort kommen zu lassen. Wer einen umfassenderen wissenschaftlichen Apparat erwartet, den muss ich daher leider enttäuschen.

Sechstens: Für wen ist dieses Buch gedacht? Eigentlich für alle, die sich mit systemischen, kybernetischen, ökologischen oder konstruktivistischen Denkweisen befassen wollen; egal, ob sie sie nun als sinnvoll, als gut oder als wichtig erachten oder eben nicht. Nachdem zumindest im deutschsprachigen Raum systemische Sichtweisen vor allem in der Beratung und in der Therapie größere Bedeutung erlangt haben, werden diese Bereiche besonders berücksichtigt.

Anfänge möchte dieses Buch schließlich dahin gehend setzen, dass es unser Denken über das Systemische stärker fokussieren möchte. Ich werde dabei durchaus Stellung beziehen. Aber alles andere wäre letztendlich absurd, insbesondere wenn man bedenkt, dass systemische Ideen stets im Kontext der jeweiligen Autorinnen und Autoren zu sehen sind. Nicht alle der dabei angerissenen Fragen werden beantwortet werden können.

Meinen außerordentlichen Dank möchte ich an dieser Stelle allen aussprechen, die das Entstehen dieses Buches in verschiedenster Weise begleitet haben, sei es weil sie es ganz oder in Teilen gelesen haben, sei es, dass sie es in anderer Weise unterstützten. Besonderen Dank sei ausgesprochen an Alex Fauler für etliche Gespräche rund um Physik und Wissenschaftstheorie, Ralf Holtzmann für die angenehme und kompetente verlagsseitige Begleitung des Projekts, Uli Wetz für das sorgfältigte Lektorat, Tom Levold für wertvolle kritische Impulse zu Inhalt und Struktur, Bernhard Pörksen für inspierende parallele Ideen bereits in den ersten Monaten dieses Unternehmens, Larissa Seiffert für kritisches Lesen etlicher Kapitel und genderspezifischer Impulse, Markus Vosteen für engagiertes Lesen weiter Teile dieses Buches und vor allem an meine Frau Nicole, die den gesamten Schreibprozesses, der dann doch drei Jahre länger dauerte als gedacht, begleitete und wundervoll unterstützte.

1Was ist das eigentlich: »systemisch«?

Was ist denn nun genauer als systemisch zu bezeichnen? Dieses Buch unternimmt hierzu als Ganzes eine Annäherung. Wer sich dabei eine einfache und am Ende sogar allgemein verbindliche Antwort erhofft, den muss ich schon jetzt enttäuschen. Denn, wie bereits in der Einführung angeklungen: Die Vielzahl an systemisch orientierten Denkweisen macht eine derartige Antwort zu einem tendenziellen Ding der Unmöglichkeit. Aber mehr noch, es wird sich zeigen, dass das Denken über das Systemische selbst mit ein paar besonderen Tücken daherkommt. Was ich in diesem Zusammenhang dennoch gerne anbiete, ist meine ganz persönliche Antwort.

Der Einfachheit halber beginne ich mit dem, was noch so einigermaßen einfach ist, nämlich woher Begriff des Systemischen stammt und was er sprachlich bedeutet.

Zur Begriffsklärung: Aller Anfang ist leicht …

Was also ist »systemisch«? Der Begriff des Systems stammt aus dem Altgriechischen. Es wird daher kaum verwundern, wenn bei den Griechen bereits erste Formen systemischen Denkens fassbar werden. Doch eins nach dem anderen …

 

Ein System ist zunächst einmal, so eine übliche und allgemeine Definition, ein aus mehreren Dingen zusammengesetztes Ganzes. Das griechische Wort hierfür lautet sýstema (τὸ σύστημα)1. In diesem Sinne könnten wir bereits einen Stuhl als ein »System« ansehen. Schließlich besteht er für gewöhnlich aus mehreren Teilen. So einfach können also Systeme sein. Damit kommen wir nun zwar noch nicht sehr viel weiter, wenn es um systemisches Denken geht, doch ein erster Anfang ist gemacht. Irgendetwas darf als »zusammengesetzt« angenommen werden.

Der berühmte Kybernetiker Heinz von Foerster betont in diesem Zusammenhang die Wortwurzel »syn« im Systembegriff. »syn« steht nach seinen Worten für »Zusammenstellen«. Ebendieses »syn« steckt zudem in der »Symphonie« (»Sinfonie«) und in der »Synthese«. Von Foerster grenzt diese »syn«-Idee« insbesondere von der »Science«, dem Begriff für Wissenschaft der englischen, der französischen und der italienischen (scienza) Sprache ab. »sci« steht entgegen dem »syn« für Trennung, Unterscheidung und Separation. Unschwer zu erkennen darin ist das typisch wissenschaftliche Vorangehen. Die Silbe »sci« ist darüber hinaus enthalten in Begriffen wie »Schisma« und »Schizophrenie« sowie – wie von Foerster mit einem Augenzwinkern hinzufügt – in »Scheiße«2. Überall dort sprechen die Begriffe von einer Abtrennung von etwas. Von Foerster prägt in diesem Zusammenhang übrigens den Begriff der Systemik für das Systemische.

Der zweite zentrale Begriff im Rahmen dieses Buches ist der des Konstruktivismus. Er ist im Gegensatz zum Systembegriff aus dem Lateinischen abgeleitet: con steht für »zusammen mit«, struere für »bauen«. Also wird hier etwas zusammengebaut – so zum Beispiel ein Stuhl.

Mir selbst ist dieser Begriff erstmals im Bereich der Architektur begegnet, wo er im frühen 20. Jahrhundert eine Rolle spielte. Als Konstruktivismus wird unter anderem eine Stilrichtung in der Architektur der frühen Sowjetunion ab 1919 bezeichnet.3 Dieses ursprünglich architektonisch inspirierte Verständnis vom Konstruktivismus möchte ich auch im Rahmen dieses Buches nahebringen. Denn auf diese Weise lässt sich gleich mehreres veranschaulichen: So benötigt ein Haus ein geeignetes Fundament, damit man darauf bauen kann. Durch ein Fundament werden zugleich jedoch eine Reihe von Möglichkeiten ebenso wie einschränkender Bedingungen dafür geliefert, was für ein Haus überhaupt darauf gebaut werden kann. Das Fundament kann für das Haus zu groß oder zu klein sein. Darüber hinaus aber könnte das Haus auch so geplant sein, dass es gar nicht erst gebaut werden kann, vielleicht weil die passenden Baustoffe für irgendeine architektonische Idee fehlen. Zusammenfassend: Es gibt sowohl mögliche als auch nicht mögliche Konstruktionen. Das lässt sich in der Architektur noch deutlich leichter erkennen, als wenn es sich um unser Denken selbst handelt. Konstruktionen sind also nicht beliebig. Auf dem gleichen Fundament können jedoch die verschiedensten Bauten entstehen.

Damit zurück zu dem anfangs bereits benannten »systemischen« Stuhl: Er ist nicht schon immer dagewesen, sondern er wurde zusammengebaut, er wurde also in einer sehr handfesten Weise konstruiert. Was aber geschieht, wenn man ihn wieder auseinandernimmt oder, noch besser, ihn zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung macht? Dann versucht man zu ergründen, was ihn überhaupt zum Stuhl macht und woraus er besteht. Vielleicht versuche ich dabei sogar, seine Essenz zu ergründen. Dann verbrenne ich ihn vermutlich und erachte dann ein Häufchen Asche und etwas Kohle als ebendiese. Nun denn, warum nicht?

Eine zentrale und im Verlauf des Buches weiter auszuführende wissenschaftliche Praxis besteht im sogenannten Reduktionismus. Da zerlege ich den Stuhl dann tatsächlich in seine Einzelteile. Doch wie ich das nun genau mache, bleibt die große Frage. Hacke ich ihn einfach klein, um ihn in seine kleinsten Teile, am Ende gar in seine Atome zu zergliedern, damit ich sie alle dann fein säuberlich zählen kann? Oder nehme ich ihn mehr oder weniger behutsam auseinander und reduziere ihn so auf seine groben Bestandteile? Bei einem Stuhl wird es mir danach vermutlich noch gelingen, ihn wieder ordentlich zusammenzusetzen, zu »rekonstruieren«. Nur sind die Untersuchungsgegenstände in der Wirklichkeit nur selten so einfach wie Stühle. Mit anderen Worten: Die Reduktionisten wissen irgendwann recht gut, woraus etwas besteht, aber wozu das wirklich gut ist – davon haben sie damit noch lange keine Ahnung.

Somit: Wir können unsere Wirklichkeit auf durchaus verschiedene Arten und Weisen zu erfahren versuchen. Wir können uns ihr konstruktivistisch, reduktionistisch oder auch existenzialistisch nähern und dergleichen mehr. Wir können reduktionistisch irren, aber auch konstruktivistisch, denn obzwar wir vieles in je verschiedener Weise konstruieren können – Beliebigkeit anzunehmen kann dann doch zu unliebsamen Konsequenzen führen. Mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen hat sich nur selten bewährt. Wenn wir nun insgesamt aber versuchen, eine Haltung einzunehmen, die mehrere Perspektiven mit einschließt und auch die Folgen von Handlungen zu berücksichtigen versucht, dann sind wir in einem Bereich, der als systemisch zu bezeichnen ist.