Czytaj książkę: «Theorien des Fremden», strona 11

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5. Bernhard WaldenfelsWaldenfels, Bernhard: FremdheitFremdheit in der ModerneModerne
5.1. Überblick und Einführung

Bernhard WaldenfelsWaldenfels, Bernhard (Jahrgang 1934) ist der wohl wichtigste lebende Vertreter der deutschsprachigen PhänomenologiePhänomenologie, einer der heute vielleicht am meisten unterschätzten und zugleich maßgeblichsten nicht-szientistischen Strömung der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Ihr Begründer, der ÖsterreichÖsterreicher Edmund HusserlHusserl, Edmund, hat sie – was Hans BlumenbergBlumenberg, Hans auch wiederholt betont hat – unter die programmatische Formel des Neuanfangs gebracht.1 Damit fördert die Phänomenologie ein Thema zu Tage, das in der abendländischen Philosophie stets unterbelichtet gewesen ist: die FremdheitFremdheit.2

Die von HusserlHusserl, Edmund geprägten Formeln wie „Zurück zu den Dingen“ oder der viel versprechende Begriff „Lebenswelt“ zeugen von der kulturellen Energie eines Unterfangens, dass noch einmal mit dem Philosophieren beginnen möchte. Dieser von Husserl initiierte Neuanfang schließt sowohl das Vergessen wie das Erinnern mit ein. Die PhänomenologiePhänomenologie versteht sich als eine philosophische Richtung, die das abendländische Denken erneuern möchte und das Feld des Philosophischen in ein neues Licht zu tauchen versucht. Ganz offenkundig war dieser Neuansatz der Philosophie, wie er von Husserl vorgeschlagen wurde, für HeideggerHeidegger, Martin nicht radikal genug. Seine radikalisierte Version der Phänomenologie möchte die abendländische Philosophie seit PlatonPlaton destruieren. Aber auch der StrukturalismusStrukturalismus der Nachkriegszeit und die mit ihm einhergehende Wende zu einem neuen Verständnis der SpracheSprache, das diese nicht länger als ein passives Medium begreift, betont das Moment des Bruchs mit der TraditionTradition.

Mit letzterem steht die PhänomenologiePhänomenologie in einem produktiven Spannungsverhältnis, denn sie bezieht sich, andersAndersheit als der linguistisch erfüllte StrukturalismusStrukturalismus, auf vorsprachliche „Dinge“, die unerreichbar erscheinen: auf die Innenlage des MenschenMensch oder den Binnenraum des Leiblichen. Dabei handelt es sich um jene Lebenswelt, die uns nur in symbolischen FormenForm zugänglich ist und die doch ErfahrungenErfahrung generiert, die mit dem liminalen PhänomenPhänomen zusammenhängen. Im Gegensatz dazu gehen konstruktivistische Strömungen davon aus, dass symbolische Limes, IdentitätenIdentität und Differenzen stets gesetzt sind. In diesem Zusammenhang kennen sie keine prinzipiellen oder unübersteigbaren Beschränkungen. Denn die GrenzenGrenze werden stets in KulturenKultur durch Symbolordnungen geschaffen.

Zur Besonderheit der von HusserlHusserl, Edmund begründeten Denkschule gehört auch, dass sie Schüler hervorgebracht hat, die das Werk des Begründers teilweise in den SchattenSchatten stellen: HeideggerHeidegger, Martin mit seiner Existenzanalyse und seiner HumanismusHumanismus-Kritik, Maurice Merleau-PontyMerleau-Ponty, Maurice, dessen Philosophie der Wahrnehmung, des Leiblichen noch immer Teil eines gegenwärtigen philosophischen DiskursesDiskurs ist, gleichsam in zweiter Reihe die Existenzanalyse Binswangers, SartresSartre, Jean-Paul Existentialismus oder der Posthumanismus von Karl JaspersJaspers, Karl und Jan PatočkaPatočka, Jan. Aber damit ist die historische Reichweite der PhänomenologiePhänomenologie nicht erschöpft. So hat sie die französische NachkriegsphilosophieFranzösische Nachkriegsphilosophie der GenerationGeneration der um 1900 und dann um 1930 geborenen Denker nachhaltig beeinflusst (→ Kapitel 2). Auch die philosophischen Werke von Hannah ArendtArendt, Hannah, Emmanuel LévinasLévinas, Emmanuel (Kapitel 4), Hans-Georg Gadamer und auch Hans BlumenbergBlumenberg, Hans sind ohne Kenntnis des phänomenologischen Diskurses nur schwer zu begreifen.

Wenn man sich das umfangreiche Werk von Bernhard WaldenfelsWaldenfels, Bernhard genauer ansieht, insbesondere Werke wie In den Netzen der Lebenswelt (1985), PhänomenologiePhänomenologie in FrankreichFrankreich (1983/1987), OrdnungOrdnung im Zwielicht (1987), Studien zur Phänomenologie des Fremden (2 Bde., 1997/1998), Der Stachel des Fremden (1990), dann kreist es um hauptsächlich zwei Themen: nämlich um den TransferTransfer zwischen deutschendeutsch und französischen Denktraditionen (als deren Mediator man Waldenfels in verschiedenen, mittlerweile historisch gewordenen Kontroversen sehen kann) sowie, damit verbunden, um das Thema des Fremden. Das Fremde ist der narrative Plot, um den die Phänomenologie kreist, der rote Faden, der ihre DiskurseDiskurs eigentümlich charakterisiert. Es handelt sich um jenes Fremde, das für Waldenfels etwa in MörikesMörike, Eduard Peregrina-Gedicht oder in CamusCamus, Albert’ L’Etranger seinen prominenten Auftritt hat.

Das Fremde kommt bei WaldenfelsWaldenfels, Bernhard in mehreren Versionen, Nuancen zu Wort, wobei die Bedeutungen von AndersheitAndersheit und FremdheitFremdheit immer wieder verschwimmen:

1 Die FremdheitFremdheit im Eigenen in mir selbst: Meine Reden, meine Taten und mein Empfinden sind niemals „völlig mein“ und unter meiner völligen Kontrolle.

2 Das Eigene und das Fremde befinden sich in einem asymmetrischenAsymmetrie Verhältnis zueinander. Das SelbstSelbst entsteht durch Abgrenzung und befindet sich damit auf der einen, das Fremde, das Andere, indes auf der anderen Seite.

3 Das Fremde ist nicht zuletzt das Intransparente und Unverfügbare, das nicht hierarchisch ist. Die AlteritätenAlterität überlagern sich, wie WaldenfelsWaldenfels, Bernhard am Beispiel eines „arabischen Epileptikers“ erläutert, der einem europäischen Psychiater unter Umständen trotz seiner DifferenzDifferenz weniger fremdfremd sein mag als ein „arabischer Normaler, obwohl er als Kranker eine spezifische FormForm der FremdheitFremdheit behält“.3

4 Das Fremde ist niemals total fremdfremd, sondern unter Umständen etwas, das bekannt war und vergessen bzw. verdrängt worden ist, wie WaldenfelsWaldenfels, Bernhard unter Bezugnahme auf Freuds Aufsatz über das UnheimlicheUnheimliche, das ausführt (→ Kapitel 3).4

WaldenfelsWaldenfels, Bernhard begreift FremdheitFremdheit aber auch – und hier kommt er sozialwissenschaftlichen Konzepten beträchtlich nahe (Kapitel 6) – als etwas, das durch bestimmte soziale und symbolische Ordnungen und die von ihnen generierten NormenNorm erzeugt wird. In diesen Bereich gehören auch Andersheiten wie KrankheitKrankheit, BehinderungBehinderung und ‚Fremdsprache‘ (das sind alle SprachenSprache, die nicht die Muttersprache sind).

5.2. Der Stachel des Fremden. FrageFrage und AntwortAntwort

Im Folgenden werden drei Abschnitte des Buches Der Stachel des Fremden, die unter der Kapitelüberschrift „Eigenes und Fremdes“ stehen, einer eingehenden und intensiven Lektüre unterzogen. Sie behandeln das (neue) Verständnis von DialogDialog, die LogikLogik von FrageFrage und Fragen, das Modell der Verflechtung von Fremdem und Eigenem, und eine Logik jenseits des klassischen SubjektSubjekt-Prinzips: Bei all diesen Prozessen gehe es mit MusilMusil, Robert gesprochen darum, die „FestungFestung Ich“ zu „schleifen“.1 In den folgenden Abschnitten werden diese einzelnen Elemente WaldenfelsWaldenfels, Bernhard’ Philosophie vorgestellt.

Der DialogDialog spielt eine zentrale Rolle bei Überlegungen zum Eigenen und Fremden. Üblicherweise wird in der philosophischen TraditionTradition der Dialog zumeist als ein „MonologMonolog mit verteilten Rollen“ verstanden.2 In der klassischen Denkfigur der dialektischenDialektik SyntheseSynthese von EinheitEinheit und Vielheit verschwindet, so lautet die Diagnose des Philosophen, zumeist die DifferenzDifferenz und die unifizierende IdentitätIdentität obsiegt. Die Synthese ist dabei lediglich eine gedankliche Operation, die die bleibende Differenz neutralisiert. „Die Versöhnung nimmt Züge des Gewaltsamen“ an.3 Dabei wird der Dialog zumeist als ein KampfKampf oder als ein Streitgespräch mit einem anderen verstanden. Zwischen Sieg und Niederlage gibt es nichts Drittes: „Das Widerspiel von Rettung und Abdankung läßt die Möglichkeiten einer Wandlung außer acht.“4

WaldenfelsWaldenfels, Bernhard möchte hingegen FormenForm des Dialogischen neu denken, und zwar von einer Theorie des Anderen her. Zunächst gibt es zwei ‚klassische‘ Variationen in eine KonversationKonversation einzutreten: wechselseitige diplomatische monologische Verlautbarung und agonaler diskursiver Wettbewerb. Darüber hinaus konstatiert Waldenfels die Dimension, dass das Gespräch mich verändert. Der DialogDialog wird dabei nicht so sehr als ein Mittel des Mit- und Gegeneinander-Sprechens verstanden, sondern er ist selbst ein Zweck, in dem ein ethischesEthik Moment enthalten ist. Die Unterhaltung bedeutet über eine diplomatische Höflichkeit hinaus, die mit dem RitualRitual der GastfreundschaftGastfreundschaft korrespondiert, wechselseitige AnerkennungAnerkennung und verändert meine Gesprächssituation insofern, als meine Position relational auf den anderen bezogen wird. Meine Meinung ist nicht länger der einzig mögliche Standpunkt in meiner Lebenswelt. Was uns, über alle Differenzen hinweg, gemeinsam ist, das ist die dialogische Situation selbst, in der wir uns befinden. Die Unterredung ist also ein Zwischen, das durch den Anderen seine Rahmung erhält. Nicht nur der Dialog zwischen zwei Personen impliziert die Möglichkeit von Veränderung, sondern auch zum Beispiel der inter- oder transkulturelletranskulturell Dialog. Das Gespräch bedeutet also, sich auf das Abenteuer und die ErfahrungErfahrung eines solchen WandelsWandel einzulassen. Durch dieses Verständnis des Dialogischen wird die „FestungFestung Ich“ geschliffen.

Auch die FrageFrage möchte WaldenfelsWaldenfels, Bernhard neu thematisiert wissen, nicht im Sinne einer rhetorischen Frage oder der traditionellen Vorstellung, wonach alle Fragen automatisch zu beantworten seien. Frage soll nicht in diesem ‚zwanghaften‘ Sinne verstanden werden, nämlich dass sie AntwortAntwort einfordert, erzwingt oder gar erpresst, wie das Roland BarthesBarthes, Roland nahegelegt hat: „Es gibt stets […] einen Terrorismus der Frage; jede Frage impliziert eine MachtMacht. Die Frage bestreitet das Recht auf Nichtwissen, das Recht auf ein unschlüssiges BegehrenBegierde […].“5 Etwas mit einem Fragezeichen zu versehen, heißt auch, etwas im Status des Offenen zu belassen. Vielmehr enthält die Frage einen kommunikativen Überschuss. Dieser besteht darin, dass sie einen diskursiven und symbolischen RaumRaum (symbolisch) öffnet, „daß sie die Selbstverständlichkeit dessen, was auf der Hand liegt, durchbricht und Bezugsstellen schafft, wo Antworten anknüpfen können. Nicht der Zustand des Nichtwissens ist entscheidend, sondern der gezielte Umgang mit dem Wissen und Nichtwissen, bei sich und beim Andern“.6

Die FrageFrage ist jene sprachliche GesteGeste, die sich, wenigstens in der Diktion WaldenfelsWaldenfels, Bernhard’, dem Anderen zuwendet und ihn in eben diesem Status bestätigt. Frage und AntwortAntwort sind indes strukturell verschieden. Während erstere stets etwas offen hält, bedeutet letztere zumeist einen mehr oder weniger endgültigen Schluss. Über Waldenfels hinaus gesprochen ist die Antwort potentiell mit der MachtMacht verschwistert. Wer Antworten geben kann, der befindet sich in einem Modus sprachlicher und auch praktischer Selbstermächtigung, darauf beruht die Attraktivität des Antwortens. Im Gegensatz dazu kann ich mich auch in der Situation befinden, antworten zu müssen. Dann befinde ich mich in einer unterlegenen Situation. Alle traditionellen FormenForm der PolitikPolitik basieren im Grunde genommen auf dem Primat und der Notwendigkeit, Antwort zu geben.

Die ‚echte‘, das heißt die nicht besserwisserische rhetorische FrageFrage, ist demgegenüber ausweichend und von eigentümlicher „Widerspenstigkeit“. Anders als die AntwortAntwort erhebt sie überdies keinen Wahrheitsanspruch. Die Suggestivfrage ist demnach, ähnlich wie und andersAndersheit als die Inquisition, ein Sonderfall: Sie stellt eine Antwort dar, die sich als Frage maskiert, weil sie die Antwort bereits kennt. Wie wäre es, ein Buch mit lauter Fragesätzen zu schreiben? Das Fragen ist gegenüber dem Selbstverständlichen und der NormalitätNormalität subversiv. Mit unüberhörbarem kritischen Seitenblick auf die Kommunikationstheorie von Jürgen HabermasHabermas, Jürgen, die Wahrheit als intersubjektive Übereinstimmung bestimmt, heißt es bei WaldenfelsWaldenfels, Bernhard: „Das Fragen durchlöchert die großen, auf Fragen der Wahrheit, Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit zugeschnittenen Geltungssphären.“7

5.3. Die Figur der Verflechtung

Das neue Verständnis von DialogDialog und die positive Akzentuierung des FrageFrage-Modus leiten fast unvermeidlich zur Bestimmung des Verhältnisses von Eigenem und Fremdem über. Denn beide kommunikativen Elemente implizieren eine andere RelationRelation zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Sie überschreiten die binäre Dyade, jene FormForm der AbhängigkeitAbhängigkeit, die auf dem Prinzip der zweiteiligen OppositionOpposition beruht.

‚Verflechtung‘ ist jene von Norbert Elias forcierte Denkfigur,1 die die polare Gegenüberstellung, die ja auch ein Abhängigkeitsverhältnis beinhaltet, modifiziert und überschreibt. Sie ist, wie WaldenfelsWaldenfels, Bernhard unter Berufung auf Merleau-PontyMerleau-Ponty, Maurice hervorhebt, weder eine „Verschmelzung“ noch eine „TrennungTrennung“, sondern vielmehr eine „Abhebung im gemeinsamen Feld“.2 Mit der DekonstruktionDekonstruktion DerridasDerrida, Jacques hat sie gemein, dass sie die Binarität von Oppositionen überhaupt hinterfragt, in diesem Fall die zumeist für selbstverständlich genommene Trennung von Eigenem und Fremdem. Das Fremde, das Waldenfels an dieser Stelle mit dem Anderen in eins setzt, und nicht automatisch mit einer spezifischen kulturellen DifferenzDifferenz gleichsetzt, ist immer schon im Eigenen gegeben und vorausgesetzt.

Es gibt in dieser Verflechtung immer eine VorgängigkeitVorgängigkeit des Anderen (→ Kapitel 4). Bei Sich-SeinSein ist immer schon ein Bei-sich-Sein im Anderen. Diese AsymmetrieAsymmetrie ist indes reziprok: Sie hebt sich insofern auf, als sich jeder MenschMensch in der gleichen asymmetrischen Situation befindet. Die „FestungFestung Ich“ ist insofern als ein höchst prekärer SelbstschutzSelbstschutz gegenüber jener Zumutung zu sehen, die durch die AnwesenheitAnwesenheit des Anderen gegeben ist. Um bei MusilsMusil, Robert Metapher zu bleiben, ließe sich sagen: Während also die Festung Ich sich gegen den Anderen als einen FeindFeind eben dieses Ichs wappnet, ist dieser längst in den Innenraum eingedrungen, der durch die Festung verteidigt werden sollte.

Die Formel von der AndersheitAndersheit des Ichs hat mindestens zwei Bedeutungen. Die eine bezieht sich auf die fragile Beschaffenheit jenes Ichs, das eben anders ist als das klassische SubjektSubjekt der idealistischen Philosophie; die zweite bringt die Figur des Anderen ins SpielSpiel, durch die sich die Position des Ichs verschiebt und verändert. In Der Stachel des Fremden wird das mehrmals pointiert: „Es gibt keinen Sprecher und Täter, der sich als reiner Autor seiner Reden und Taten aufspielen könnte, es gibt kein Reden oder Tun, das nicht auch ein AntwortenAntwort wäre.“3

Der zweite Halbsatz des Zitats liefert eine Erklärung für die Behauptung des ersten. Wir sind nicht die Urheber und Erfinder unserer Sätze, unsere FreiheitFreiheit ist stets relational zu sehen. Wir befinden uns, ob wir wollen oder nicht, immer in jener Beziehung, die WaldenfelsWaldenfels, Bernhard als „AntwortenAntwort“ bezeichnet. Programmatisch heißt es an anderer Stelle: „Was hier in Zweifel rückt, ist die Vorstellung eines Cogito, das aus sich heraustritt, um nach den bestandenen Abenteuern der AndersheitAndersheit zu sich selbst zurückzukehren.“4

Das ist in der Tat ein klassisches NarrativNarrativ der okzidentalen Philosophie und LiteraturLiteratur. Die OdysseeOdyssee des HomerHomer führt das klassisch vor: Das Ausfahrt-Abenteuer mit all seinen spannenden, amüsanten und gefährlichen Irrungen und Wirrungen dient letztendlich nur einem Telos, einem tieferen Sinn und Zweck: in der HeimatHeimat anzukommen. Dieses narrative MusterMuster entspricht jenen Typen früher Prosa, die BachtinBachtin, Michail als Chronotopoi bezeichnet hat: dem Abenteuerroman und der AutobiographieAutobiographie.5 Der klassischen Narration liegt eine MatrixMatrix zugrunde, deren Kern darin besteht, ein kompaktes Ich zu konstituieren.

Auch HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich PhänomenologiePhänomenologie des GeistesGeist folgt einem narrativen MusterMuster, das, wie wir gesehen haben, dem der OdysseeOdyssee durchaus verwandt ist. Auf seinem Weg von der sinnlichen Gewissheit hin zur absoluten VernunftVernunft durchläuft der Geist die verschiedensten Stadien, bis er bei seiner ‚wahren‘ Bestimmung in der Vernunft endet (→ Kapitel 2).

Im Unterschied zu dieser klassischen Meistererzählung bekommt hier ein gespaltenes Ich seinen Auftritt, das nie bei sich ankommt und das sich selbst immer tendenziell fremdfremd bleibt. Dadurch werden aber Termini wie „EnteignungEnteignung“ und „AneignungAneignung“ eigentümlich relativiert, aber keineswegs völlig annulliert. Folgende Theoriebezüge werden von WaldenfelsWaldenfels, Bernhard aufgerufen, um die Verflechtung von Eigenem und Fremden, von Ich und Anderem zu unterstreichen:

 Die Sozialtheorie von G.H. MeadMead, Gerorge Herbert, in der die GespaltenheitGespaltenheit von I and Me im RahmenRahmen einer Theorie des Selbstgesprächs in den Mittelpunkt rückt.

 Philosophische Überlegungen von Daniel LagacheLagache, Daniel (zum PhänomenPhänomen der verbalen Halluzination) und Merleau-PontyMerleau-Ponty, Maurice (Chiasma), die den Kern der Ent-Persönlichung im Ich selbst ins ZentrumZentrum ihrer Überlegungen stellen.

 Die von Freud (Jenseits des Lustprinzips) und Melanie KleinKlein, Melanie ausgehende Theorie des englischen Psychoanalytikers D.W. WinnicottWinnicott, Donald Woods vom „Übergangsobjekt“, das die abwesende MutterMutter ersetzt und repräsentiert. Parallel dazu hat René SpitzSpitz, René das symbiotische Verhältnis von Mutter und KleinkindKleinkind als eine FormForm des DialogsDialog interpretiert.6

 Die von LacanLacan, Jacques in seinem Aufsatz über das SpiegelstadiumSpiegelstadium (→ Kapitel 7) erstmals herausgearbeitete Spaltung des SubjektsSubjekt, „das sich nur auf dem Umweg über imaginäre Spiegelungen und symbolische Ordnungen aufbaut“. „Auch hier tritt die AndersheitAndersheit bereits in der intrasubjektiven Sphäre auf, so bei der frühkindlichen IdentifizierungIdentifizierung mit dem eigenenEigentum SpiegelbildSpiegelbild, in dem das KindKind sich zugleich wieder erkennt und verkennt.“7

 Mit Blick auf (LévinasLévinas, Emmanuel und) DerridaDerrida, Jacques heißt es: „Die Zeitlichkeit des eigenenEigentum Daseins bedeutet, daß das SelbstbewusstseinSelbstbewusstsein als die Urstätte des Sinnes immer schon sich selbst gegenüber im Verzug ist; die GegenwartGegenwart ist immer schon mit Nicht-Gegenwart, das Selbe mit Anderem durchsetzt.“8 Der/die/das Andere trägt ein Moment des Inkommensurablen in sich.

 BachtinsBachtin, Michail Theorie der Vielstimmigkeit der SpracheSprache. Das (eigeneEigentum) Wort befindet sich immer schon auf der GrenzeGrenze zwischen Eigenem und Fremdem. Die Redevielfalt im RomanRoman ist ein (Wechsel-)SpielSpiel zwischen beiden, miteinander verflochtenen Momenten. Im Zwischenreich eines solchen DialogsDialog sind als dramatische Personen ein idealer Autor und ein idealer LeserLeser angesiedelt.9

5.4. Das Fremde als Springpunkt von ErfahrungErfahrung

Wenn also das Eigene und das Fremde im Sinne dieser und anderer Theorien miteinander untrennbar verflochten sind, so bildet dieses „Feld“ die Bedingung der Möglichkeit der ErfahrungErfahrung des bzw. mit dem Fremden. WaldenfelsWaldenfels, Bernhard spricht in diesem Zusammenhang von „Erfahrungsbereichen“ und „Erfahrungsgehalten“. Eine zentrale TheseThese ist, dass das Fremde und das Fremdartige – diese Unterscheidung adaptiert Waldenfels von Alfred SchützSchütz, Alfred’ Unterscheidung zwischen Neuem und Neuartigem1 (→ Kapitel 6) – Erfahrung in einem existentiellen Sinn eröffnen. Gerade darin bestehen Reiz und Risiko des Fremden als eines Neuen, Ungewohnten und Unbekannten, dem sich schon die klassischen HeldenHeld von MythosMythos und Sage zu stellen haben. Ohne die Konfrontation mit Unvertrautem gibt es keine Erfahrung. Waldenfels’ Untersuchung liefert mehrere Definitionen des Fremden und des Fremdartigen, aber alle haben miteinander gemeinsam, dass sie das Moment der Erfahrung in sich tragen.

In diesem Kontext ist die so genannte „Kette des Fremden“ von Wichtigkeit. Der Autor bedient sich zweier literarischer Beispiele für seine Definition dieser Formulierung: Eduard MörikesMörike, Eduard Gedicht Peregrina und Albert CamusCamus, Albert’ L’Etranger. In beiden steht die ErfahrungErfahrung der Entstehung von FremdheitFremdheit im ZentrumZentrum, wenn wie bei Mörike die Geliebte zur wilden unverständlichen Fremden wird oder der HeldHeld sich in einem symbolischen RaumRaum (symbolisch) verliert, der ihn von sich zu entfernen scheint: „Diese Kette [des Fremden, A.v.m.] ist dort festgemacht, wo Lebensbereiche und Lebenswelten im Persönlichen wie im Gesellschaftlichen ihre VertrautheitVertrautheit verlieren.“2 WaldenfelsWaldenfels, Bernhard unterstreicht die prekäre Rolle der Wissenschaft, die alles vertraut zu machen trachtet. Wie könnte, fragt der Autor, ein „Wissen und Handeln aussehen […], das sich Fremdem aussetzt, ohne es einzugemeinden“.3

Das Fremde wird also in dieser Konzeption nicht ethnischEthnie substanzialisiert und ‚verdinglicht‘, sondern wie bei Alfred SchützSchütz, Alfred lebensweltlich und sozial gedacht (→ Kapitel 6) als das, was eine scheinbar selbstverständliche OrdnungOrdnung durchbricht: „Das Fremdartige, das die GrenzenGrenze bestimmter Ordnungen überschreitet, setzt eine bestimmte FormForm der NormalitätNormalität voraus.“4

Der Fremde wird als „abartig“, als abweichend, eben als deviant wahrgenommen–diese Wahrnehmung ist immer soziokulturell gerahmt. Fremd, das können unter bestimmten Umständen das KindKind, der ‚Wilde‘, der ‚Irre‘, der ‚Narr‘, die FrauFrau, aber auch das anthropoide TierTier, der AutomatAutomat sein: „Diese exemplarischen Figuren bevölkern auch das Unbewußte und suchen den MenschenMensch auf vielfache Weise im privaten und öffentlichen LebenLeben heim.“5

Ein solches Verständnis von Fremdem schafft die Möglichkeit, die westliche ModerneModerne – und WaldenfelsWaldenfels, Bernhard tut dies unter Berufung auf Robert MusilsMusil, Robert epochalen RomanRoman Der MannMann ohne Eigenschaften – als jene FormForm der KulturKultur zu beschreiben, in der jedwede ‚normalenormal‘ OrdnungOrdnung ihre Selbstverständlichkeit eingebüßt hat. Gleichzeitig ist jeder Versuch, eine solche zu re-etablieren, zum Scheitern verurteilt. Der von Musils Romanfigur propagierte „Möglichkeitssinn“ wird dabei zum programmatischen Erfahrungsmodus, mit Fremdem umzugehen. Mit Möglichkeitssinn meint Waldenfels im Anschluss an Musil, dass die WirklichkeitWirklichkeit ganz andersAndersheit sein könnte, als es die normalisierte Wahrnehmung des Gegebenen, der Sinn fürs Wirkliche, annimmt. In gewisser Weise lässt sich sagen, dass Möglichkeitssinn und Wirklichkeitssinn ihre Plätze tauschen. Moderne wäre also eine dynamische, aber auch fragile prozessuale Anordnung von Kultur, eine Infragestellung des Bekannten und Vertrauten, in der das Fremde auf der Tagesordnung steht, und zwar nicht nur in Gestalt der Andersartigkeit der Anderen, sondern vor allem auch in der Andersartigkeit des Eigenen.6