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Kapitel 4 Giambattista VicoVico, Giambattista, Johann Gottfried HerderHerder, Johann G. und die Folgen: Von der Neuen Wissenschaft über die gemeinschaftliche NaturNatur der Völker zur aufklärungskritischenAufklärung, aufklärungs- Kulturphilosophie

Es gibt im KontextKontext der abendländischenAbendland, abendländisch Geistesgeschichte Denker, deren langfristige Bedeutung weithin unterschätzt wird; diese ist nur einer kleinen Schar von profunden Kennern gewärtig. Entscheidend verantwortlich für diesen Umstand ist, dass viele kulturwissenschaftlichen Konzepte die diachroneDiachronie, diachron Dimension auch im Hinblick auf die GeschichteGeschichte von Theoriebildung systematisch ausblenden. So hat Endre Hars etwa auf eine verblüffende Ähnlichkeit zwischen HerderHerder, Johann G. und Homi K. BhabhaBhabha, Homi K. hingewiesen.1 Dass ihr Einfluss notorisch unterbewertet wird, lässt sich für beide Philosophen, den Neapolitaner VicoVico, Giambattista ebenso wie für den Ostpreußen HerderHerder, Johann G., behaupten. Zusammengenommen haben sie entscheidend zu einem Typus von Kulturtheorie beigetragen, der über Deutschland hinaus wirksam geworden ist. An dieser Stelle darf nicht verschwiegen werden, dass diese Wirksamkeit auch ihre fatalen Seiten hatte. Insbesondere HerderHerder, Johann G. wurde zum Stichwortgeber für Theoretiker der Konservativen Revolution und des nationalsozialistischen Umfeldes. Als prominenteste Beispiele sind hierbei Oswald SpenglersSpengler, Oswald MorphologieMorphologie der Weltkulturen Der Untergang des Abendlandes (→ Kap. 1) und NadlersNadler, Josef Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften oder – um eine aktuelle Debatte zu zitieren – HuntingtonsHuntington, Samuel BuchBuch (als Medium) über den Zusammenstoß der Kulturen zu nennen.2 Dass es sich dabei nicht um direkte Übernahmen, sondern um Rekontextualisierungen handelt, wird am Ende dieses Kapitels aufgezeigt. Aber wie immer es mit der intellektuellenIntellektueller, intellektuell Verantwortung für das eigene Denken und Schreiben steht – ist man verantwortlich für seine unverantwortlichen Leser? –, bestätigt dieser Einfluss, den VicoVico, Giambattista und HerderHerder, Johann G. auf die Entwicklung der abendländischen Kultur und auf die europäische PolitikPolitik hatten, die These, wonach die theoretische Erfassung von Kultur und Kulturen diese selbst verändert.

Gut drei Generationen trennen HerderHerder, Johann G. von VicoVico, Giambattista. HerderHerder, Johann G. wurde in dem Jahr geboren, in dem VicoVico, Giambattista starb, 1744. Giambattista VicoVico, Giambattista kam 1670 in Neapel als Sohn eines Buchhändlers zur Welt. Es ist das Zeitalter der jesuitischen Gegenreformation. VicoVico, Giambattista, der sich eingehend mit der Renaissance und mit der Philosophie DescartesDescartes, René‘ beschäftigte, kann man nicht ohne Einschränkungen einer bestimmten philosophischen Richtung und Denktradition zuordnen. Was ihn beispielsweise von den Denkern der Renaissance trennt, ist ein ganz wichtiger Punkt: Der neapolitanische Gelehrte lebt in einer Welt, die viel größer geworden ist und in der Europa Erfahrungen mit anderen, bis dahin unbekannten Kulturen gemacht hat. Diese Erfahrung mit anderen Kulturen, mit denen die europäisch-christliche bis dahin nicht in Berührung gekommen ist, provoziert den Vergleich und ermöglicht perspektivisch den Blick auf die eigene Kultur.

Neapel, das erst von den spanischen, dann von den österreichischen Habsburgern und zuletzt von den Bourbonen regiert wurde, war zu jener ZeitZeit eine Kulturhauptstadt Europas, mit einer glanzvollen Opernkultur (die BalzacBalzac, Honoré de ebenso fasziniert hat wie die Gegenwartsautorin Margriet de Moor3) und einer angesehenen Universität. An dieser absolvierte VicoVico, Giambattista das Studium der Klassischen Philologie und war anschließend Hauslehrer in der Toskana. VicoVico, Giambattista gehört – wie MontaigneMontaigne, Michel de, BaconBacon, Francis oder eben DescartesDescartes, René – zu den Pionieren des frühneuzeitlichen Denkens in Europa. Er ist vielleicht der letzte von ihnen. Später hatte er einen Lehrstuhl für RhetorikRhetorik an der Universität Neapel inne. Da er nur eine Handvoll Studenten hatte, blieb ihm genügend Zeit für ein ungestörtes Gelehrtendasein.

Die Nuova Science erschien zum ersten Mal im Jahre 1725, als VicoVico, Giambattista bereits 55 Jahre alt war. Es ist an dieser Stelle unmöglich, alle Nuancen und Facetten eines Werkes darzulegen, das noch ganz im Geist einer RhetorikRhetorik geschrieben ist, in der die Renaissance nachhallt. Im Rahmen dieser Einführung sollen vor allem drei zentrale Punkte erwähnt werden, die für die Kulturtheorie bis heute relevant geblieben sind: das VicoVico, Giambattista-Theorem, die Rehabilitierung des MythosMythos, Mythologie, mythologisch und die Lehre von den drei FunktionenFunktion der Kultur.

Das VicoVico, Giambattista-Theorem besagt, dass die NaturNatur dem Menschen immer bis zu einem gewissen Grad verschlossen bleiben wird, weil sie nicht von ihm selbst hervorgebracht worden ist; die Kultur hingegen ist für den Menschen verstehbar, weil sie von ihm selbst geschaffen ist. Die neue Wissenschaft ist eben die Wissenschaft von den Dingen, Institutionen und Einrichtungen, die der Mensch selbst hervorgebracht hat.

Doch in dieser Nacht voller Schatten, die für unsere Augen das entfernteste Altertum bedeckt, erscheint das ewige Licht, das nicht untergeht, von jener Wahrheit, die man in keiner Weise in Zweifel ziehen kann: dass diese historische Welt ganz gewiß von den Menschen gemacht worden ist: und darum können (denn sie müssen) in den Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes ihre Prinzipien aufgefunden werden. Dieser Umstand muss jeden, der ihn bedenkt, mit Erstaunen erfüllen: wie alle Philosophen voll Ernst sich bemüht haben, die Wissenschaft von der Welt der NaturNatur zu erringen; welche, da Gott sie geschaffen hat, von ihm allein erkannt wird; und vernachlässigt haben nachzudenken über die Welt der NationenNation, Nationalismus, national, oder historische Welt, die die Menschen erkennen können, weil sie die Menschen geschaffen haben.4

Die Passage verdient einen ausführlichen Kommentar. Zunächst einmal wird in gerader Umkehr zu BaconsBacon, Francis Novum Organum, in dem ja eine neue Epistemologie der Naturwissenschaft umrissen wird,5 eine prinzipielle Unterscheidung zwischen Human- und Naturwissenschaften getroffen. Es ist das erste Mal in der GeschichteGeschichte der Wissenschaften, dass dieser Gegensatz zwischen ihren beiden Kulturen (C.P. Snow6) so markant beschrieben wird. Die ganze nachfolgende Untersuchung VicosVico, Giambattista macht indes deutlich, dass sich die neue Wissenschaft nicht auf die Geisteswissenschaften oder auf philologische Exegese und Kommentar beschränkt, sondern auf einen weiten Begriff von Kultur (Kultur I → Kap. 1) abzielt, der auch die Bereiche von PolitikPolitik und GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich, ja sogar das Recht umfasst.

Die Pointe von VicosVico, Giambattista Theorem besteht aber darin, dass die Wissenschaft von der menschlichen Kultur keine prinzipiellen erkenntnistheoretische Schranken setzt, während die Naturwissenschaften ihren Gegenstand niemals voll erfassen können. Etwas von dem Gegensatz zwischen Verstehen und Erklären, wie er seit Wilhelm Dilthey7 gang und gäbe ist, ist hier bereits vorgedacht. Denn Kulturwissenschaft wird auch bei Dilthey als eine Form von Selbsterkenntnis, Selbstverständnis und Selbstverständigung gedacht. Von einem solchen Prozess kann im Falle der NaturNatur nicht die Rede sein: Das BuchBuch (als Medium) der NaturBuch (der Natur) ist geschlossen. Die Natur bleibt das prinzipiell Fremde, das nicht durch den Bezug auf den Menschen erkannt werden kann. Deshalb fehlt den Naturwissenschaften jener für die Kultur- und Humanwissenschaften eigentümliche Selbstbezug. „Erkennen“ ist hier in einem starken Sinn zu begreifen: als etwas, das man kennt, mit dem man vertraut ist, usw. In jedem Fall entfaltet VicoVico, Giambattista einen über Jahrhunderte maßgeblichen Begriff von Kultur, der diese gleichsam ex negativo definiert: Kultur ist all das, was nicht Natur ist. Natur wiederum ist alles, was der Mensch nicht geschaffen hat. Somit umfasst die KulturanalyseKulturanalyse alle DingeDinge und Einrichtungen dieser Welt, die der Mensch selbst geschaffen hat.

Was nun das Erstaunen darüber betrifft, warum die Menschen sich erst so spät – eben mit VicosVico, Giambattista programmatischem BuchBuch (als Medium) – mit dem vom Menschen Geschaffenen, der Kultur im weitesten Sinn (Kultur I), beschäftigt haben, so lässt sich dies womöglich, von heute aus betrachtet, durch ein Charakteristikum von Kultur relativRelativismus, relativieren. Denn wie wir bereits gesehen haben, produziert Kultur UnbewusstheitUnbewusste, das, Unbewusstheit, d.h. eine Form reflexionsloser, unbedachter Selbstverständlichkeit, die den menschlichen Einrichtungen und Artefakten den Schein von Natürlichkeit verleihen. Im mythisch-religiösenReligion, religiös Denken wird Gemeinschaft als eine göttliche Stiftung angesehen. Dass die Regeln des Gemeinwesens und Einrichtungen wie Familie, Kirche oder Militär historisch und veränderbar sind, ist das Ergebnis einer späten Einsicht. Noch die Abneigung des konservativenkonservativ Milieus gegen moderneModerne, modern, -moderne Disziplinen wie die Soziologie, die automatisch mit einem linken Projekt von Gesellschaftsveränderung gleichgesetzt wurde, belegt den stummen Widerstand gegen das Erkennen all jener Phänomene, die das Zeichen menschlicher Gestaltung tragen. Wider das Erstaunen VicosVico, Giambattista über die Vernachlässigung der Erforschung der menschlichen Kultur kann man also einwenden, dass DingeDinge, die uns so nah und alltäglich sind, sich zunächst einmal dem Erkannt-Werden entziehen.

Offen bleibt in seiner Unterscheidung inwiefern der Mensch selbst NaturNatur oder Kultur bzw. Natur und Kultur ist. In VicosVico, Giambattista eigener Logik könnte man sagen, dass sich der Mensch primär, d.h. biologisch nicht selbst geschaffen hat und eine Hervorbringung Gottes bzw. der Natur ist. Sofern er Natur ist und Gegenstand der Naturwissenschaften (geworden) ist, gilt auch für den Menschen das Verdikt des Unbekannten.

VicosVico, Giambattista zweiter wichtiger Beitrag zur Kulturtheorie stellt die Rehabilitierung des MythosMythos, Mythologie, mythologisch dar. Lange vor der RomantikRomantik und vor SchellingSchelling, Friedrich W.J. (→ Kap. 3) hat VicoVico, Giambattista den MythosMythos, Mythologie, mythologisch als ein ernstzunehmendes kulturelles KonstruktKonstrukt, Konstruktion begriffen. Das ist erstaunlich in einer ZeitZeit – man braucht sich nur die barocken Ansichten der klassischen griechischen Mythen zu besehen –, in der der griechische MythosMythos, Mythologie, mythologisch nur mehr allegorisches Beiwerk zur Darstellung menschlicher Empfindungen darstellt oder eine schiere ästhetische List, den entblößten KörperKörper, körperlich zu präsentieren.

Für VicoVico, Giambattista ist HomerHomer der erste Autor, der menschlich zu denken begann. Aber der MythosMythos, Mythologie, mythologisch ist nicht bloß eine hübsche Erfindung zur ästhetischen Unterhaltung des Publikums, sondern integraler Bestandteil der Kultur. Der MythosMythos, Mythologie, mythologisch ist die „wahre und strenge GeschichteGeschichte der Sitten bei den ältesten Völkern Griechenlands“.8 Es wäre lächerlich, die Wahrheit des MythosMythos, Mythologie, mythologisch im Faktischen zu suchen, um ihn dann als ein reines Hirngespinst, als bloße Dichtung oder als kontrafaktisches Erklärungssystem unwissender Menschen zu begreifen. Vielmehr erinnert uns VicoVico, Giambattista daran, dass der MythosMythos, Mythologie, mythologisch mit den Sitten, d.h. mit den Festsetzungen unseres LebensalltagesLeben, Lebens-, -leben, unseres „whole way of life“ (→ Kap. 1) zu tun hat. Wobei VicoVico, Giambattista freilich entgeht, dass sich die Dimension des Mythischen auch in der Neuzeit nicht völlig aufgelöst hat:

Die heroischen Mythen waren wahre Geschichten der Heroen und ihrer barbarischen Sitten, wie sie bei allen Völkern in ihrer barbarischen ZeitZeit blühten; so dass die beiden Gesänge HomersHomer sich erweisen als zwei große Schatzkammern für Entdeckungen über das natürliche Recht der griechischen Stämme, als sie noch Barbaren waren.9

MythosMythos, Mythologie, mythologisch und PoesiePoesie werden hier als kulturelle Manifestationen verstanden, deren Wahrheit nicht so sehr eine faktische ist, sondern die uns die Sitten und Gebräuche früherer Epochen und anderer Räume erschließen. Einen zentralen Stellenwert bei der Konstitution von Kultur nimmt für VicoVico, Giambattista die ReligionReligion, religiös ein. Damit greift VicoVico, Giambattista Gedankengängen vor, wie sie dann im 19. Jahrhundert von SchellingSchelling, Friedrich W.J. und BachofenBachofen, Johann J.10 fortgeführt werden. KunstKunst, Kunstwerk (Kultur III → Kap. 1) wird als expliziter Ausdruck von gelebter Kultur verstanden. Nicht ihre philologische Erschließung, sondern ihre kulturwissenschaftliche Auswertung als Quelle steht im Mittelpunkt.

Anders als im philosophischen DiskursDiskurs über den MythosMythos, Mythologie, mythologisch, wie er im deutschsprachigen RaumRaum Tradition hat, wird dieser nicht so sehr als ein frühes, primitives geistiges Produkt analysiert, sondern im Hinblick auf seinen kulturellen und gesellschaftlichenGesellschaft, gesellschaftlich Verweischarakter. Der MythosMythos, Mythologie, mythologisch erscheint hier als ein sinnstiftendes Prinzip kultureller PraktikenPraktiken, der alltäglichen wie der rituellen. Seine Wahrheit besteht weder in seinem Welterklärungswert noch in seiner Bezugnahme auf eine einmalige historische Realität, sondern in seiner kulturellen FunktionFunktion. Dass die „Geschichten der Heroen“11 wahr sind, könnte man heute auch dahingehend interpretieren, dass diese die jeweilige Kultur begründen.

Bei VicoVico, Giambattista ist ein Blick bereits ausgebildet, den man als ethnographisch bezeichnen kann. Dabei wird der MythosMythos, Mythologie, mythologisch zu einem Schlüssel, der uns fremde Kultur – hier eine fremde Kultur in der ZeitZeit, nämlich die vorklassische, ‚barbarische‘ griechische Kultur – näher bringt. In den Mythen werden auch jene drei FunktionenFunktion in der Kultur benannt, die VicoVico, Giambattista als charakteristisch für jedwede Art von Kultur ansieht. Sie bilden die Grundelemente aller menschlichen Kultur. Ihre Herkunft leitet VicoVico, Giambattista aus der Epiphanie des Göttlichen, aus „den göttlichen Dingen“12 ab, über die die Welt des MythosMythos, Mythologie, mythologisch berichtet. Ganz offenkundig werden sie in VicosVico, Giambattista allegorischer Mythen-Deutung als gleichnishafte Darstellungen allgemeiner Sachverhalte und abstrakter Begriffe verstanden. Diese werden in der „Neuen Wissenschaft“ im rhetorischen Stil, wie ihn die Renaissance hervorgebracht hat, mnemotechnisch allegorisiert und sichtbar gemacht. VicosVico, Giambattista neue „kritische KunstKunst, Kunstwerk“ möchte die philologische Methode kritisch hinterfragen und zugleich die Philosophie für jene dunklen Themen öffnen, die ihr bislang verschlossen geblieben ist. Sie begreift sich als eine Lehre „von all den Dingen, die vom menschlichen Willen abhängen, wie die GeschichteGeschichte der Sprachen, der Sitten und der Ereignisse, sowohl im Krieg wie im Frieden der Völker“.13

Das erste Grundelement der Kultur ist nach VicoVico, Giambattista die Ehe. Sie stellt gleichsam das symbolische BandBand, symbolisch zwischen den Lebenden und den Geschlechtern dar. Mit ‚Ehe‘ ist hier nicht nur die FunktionFunktion des Vertraglichen, sondern auch der ganze SymbolismusSymbolismus und das RitualRitual, der feierliche Akt als solcher gemeint. Er wird in VicosVico, Giambattista Bildkomplex durch das Feuer auf dem Altar, durch die Fackel, durch Wasser und Feuer versinnbildlicht. Er gilt als göttliche Zeremonie, womit auch erklärlich wird, dass dieses symbolische BandBand, symbolisch, dessen Stiftung den Göttern zugesprochen wird, nicht so ohne Weiteres auflösbar ist.

Das zweite Grundelement der Kultur ist das Begräbnis, das symbolische BandBand, symbolisch zwischen Lebenden und Toten. Es korrespondiert mit dem Bildkomplex der Aschenurne und der Inschrift und beschwört die Unsterblichkeit der Seelen. Es verweist auf jenen Themenkomplex, der in den Kulturwissenschaften unserer Tage mit dem Thema GedächtnisGedächtnis und ErinnerungErinnerung verknüpft ist.

Das dritte Grundelement ist das symbolische BandBand, symbolisch des Eigentums, der Teilung der Felder. All diese Grundelemente haben einen funktionalen und einen symbolischen Aspekt.14 Nur in diesem untrennbaren Konnex entfaltet sich ihre suggestive Kraft, jene kulturelle Energie, denen sich die Menschen einer Gemeinschaft unterwerfen. Der SymbolismusSymbolismus dieser feierlichen DingeDinge umreißt den kulturellen Aspekt (Kultur II), der Vertrag den sozialen (GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich). Der selbstverständliche RaumRaum dieses Geschehens wäre die Gesamtkultur (Kultur I → Kap. 1).

In eine moderneModerne, modern, -moderne SpracheSprache übersetzt, stellt die erste FunktionFunktion paradigmatisch den synchronenSynchronie, synchron Aspekt jeder Kultur dar, eben das symbolische BandBand, symbolisch zwischen den Lebenden, das durch die Geschlechterbeziehung seine prominenteste und exponierteste, ‚tiefste‘ Formgebung erhält. Es stiftet Zusammenhang und IdentitätIdentität und weist so über die rein funktionale Absicht hinaus. Dass dieses Bedürfnis auch in modernen Gesellschaften fortlebt, kann man sich an zwei Beispielen anschaulich machen. Das erste betrifft die Forderung homosexueller Gruppen in den westlichen Gesellschaften nach einer symbolischen Anerkennung homosexueller Paare in Form der Ehe. Diese Forderung hat, von der praktischen Seite (Erbschaft, Steuer) einmal abgesehen, mit der kulturellen Anerkennung und dem sozialen Prestige der traditionellen Ehe zu tun, die sie ungeachtet oder gerade trotz ihrer unverkennbaren Krisensymptome noch immer zu besitzen scheint. Aber ganz offenkundig besteht in Kulturen ein Bedürfnis, der eigenen LebenspraxisLeben, Lebens-, -leben Gültigkeit zu verschaffen und sie symbolisch-mythisch zu bearbeiten. Nur so ist es zu erklären, dass auch unverheiratete Paare ganz eigene private RitualeRitual entwickeln, um ihre Zusammengehörigkeit jenseits staatlicher Beglaubigung einander zu versichern und zu verbürgen.

Die zweite FunktionFunktion verweist auf den diachronenDiachronie, diachron Aspekt von Kultur und symbolisiert den Umgang mit dem Tod, darüber hinaus auch den Umstand, dass Kultur etwas darstellt, das den Tod des Einzelnen übersteigt. Hier ist ein wichtiger Unterschied zwischen den sich überschneidenden Begriffskomplexen ‚Kultur‘ und ‚GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich‘ auffällig: Während ‚Gesellschaft‘ in den Sozialwissenschaften vornehmlich als ein abstraktes, ausdifferenziertesAusdifferenzierung, ausdifferenziert, funktionales synchrones Gebilde angesehen wird (in dem Tradition allenfalls ein Faktor unter vielen ist), als ein System, das nicht selten als Maschine metaphorisiert wird, enthält ‚Kultur‘, jedenfalls in klassischen Konzepten wie in jenen VicosVico, Giambattista, HerdersHerder, Johann G. oder GoethesGoethe, Johann W. eine gegenläufige Konnotation: Kultur wird als konkretes, holistischesholistisch, organisches Gebilde verstanden, das eine unverzichtbare diachroneDiachronie, diachron Achse besitzt. Im Unterschied zu Gesellschaft ist Kultur stets als eine Gemeinschaft von Lebenden und Toten imaginiert. In jeder katholischen Messe wird die Anwesenheit der verstorbenen Mitglieder der Gemeinde angerufen und imaginiert. Das symbolische BandBand, symbolisch zwischen Lebenden und Toten hat eine strukturellStruktur, strukturiert, strukturell religiöseReligion, religiös und mythische Dimension. Das Erinnern und Gedenken steht von daher nicht umsonst im ZentrumZentrum heutiger Kulturwissenschaften. Es verbürgt und beschwört die kollektive IdentitätIdentität einer kulturellen Entität (Familie, Stamm, Volksgruppe, NationNation, Nationalismus, national, Großkultur). Kultur meint jene Dimension des LebensLeben, Lebens-, -leben, die wir selbstverständlich vorfinden. Wir sind nicht in die Welt geworfen,15 wir sind in eine Welt geraten, die immer schon eine kulturelle ist. Keine Generation muss Kultur neu erfinden. TechnikenTechnik, -technik, PraktikenPraktiken, ErzählungenErzählung(en), Einrichtungen – sie sind alle bereits vorhanden. Wenigstens potenziell überdauert die Kultur den Einzelnen. Vermutlich wird in 100 Jahren keiner der heute lebenden Menschen in Deutschland oder Österreich oder sonst wo noch am LebenLeben, Lebens-, -leben sein. Aber wir gehen von der Möglichkeit aus, dass die kulturelle Entität ‚Deutschland‘ oder ‚Österreich‘ oder die ‚Fidschi-Inseln‘ Bestand hat. Natürlich werden die Menschen in diesem geographischen wie symbolischen RaumRaum (symbolischer) ihre jeweilige Kultur verändert haben, aber zumindest leben wir in der Erwartung, dass es auch dann noch Deutsche, Österreicher und Fidschi-Insulaner geben wird. Zwischen diesem Versprechen der Kultur als Garant stabiler, die ZeitenZeit überdauernder Identität und der realen Wandlungsfähigkeit von kulturellen Gemeinschaften besteht gerade im Hinblick auf eine wandlungsfreudige ModerneModerne, modern, -moderne eine gewisse Kluft.

Verläuft der Wandel indes zu dramatisch, dann sind mit einiger Gewissheit Reaktionsbildungen zu erwarten, die die jeweilige IdentitätIdentität sicherstellen. Die kulturkritischen Reaktionen auf die GlobalisierungGlobalisierung, global stellen zweifelsohne einen solchen Reflex symbolischer Selbstversicherung dar. Mythische Gesellschaften lassen sich dadurch kennzeichnen, dass ihre ErzählungenErzählung(en) mehr implizit als explizit kulturellen Wandel zu unterbinden versuchen. Die Wiederholung der zentralen mythischen Geschichten bezieht sich auf die Beschwörung der mit ihnen einhergehenden alltäglichen Sitten und Gebräuche, aber auch auf die festlichen Zentralereignisse (Initiation, Bestattung, Hochzeit).

In jedem Fall darf man die ‚göttliche‘ Stiftung und Einrichtung des Begräbnisses nicht nur in einem engen Sinn begreifen. Der moderneModerne, modern, -moderne Totenkult umfasst zum Beispiel die säkularen Heiligenkalender, sprich Geburts- und Todestage der jeweiligen Großen und Größen der NationNation, Nationalismus, national, Straßennamen, Briefmarken, Photos, Filme, sämtliche Formen von Archiven, Museen und Bibliotheken, die feierliche Bezeichnung von bestimmten Orten, Bücher, Dokumentationen – die Liste ließe sich fast beliebig fortsetzen.

Aber auch das Band der Ehe steht für eine ganze Reihe von Verbindungen, die geregelt und symbolisiert sind. Wie wir bei Sigmund FreudFreud, Sigmund gesehen haben (→ Kapitel 2), beinhaltet dieses symbolische BandBand, symbolisch der GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich auch ganz bestimmte Regeln des Ausschlusses: Nicht jeder darf jeden heiraten (Inzest, Exklusion von HomosexualitätHomosexualität, homosexuell → Kap. 2). Das Verhältnis von Ehe, Liebe und SexualitätSexualität ist ebenso geregelt und bestimmt wie der AlltagAlltag, Alltagskultur, Alltags- des intersexuellen ZusammenlebensLeben, Lebens-, -leben: die Organisation von Intimität und Öffentlichkeit, von Arbeit und Kindererziehung und Etliches mehr.

Was die exogame Ehe als symbolische Hilfskonstruktion überbrückt, ist FremdheitFremdheit in der eigenen Klein- oder Großkultur: zum einen die Fremdheit der Geschlechter, zum anderen aber die Fremdheit einander zunächst unbekannter Menschen, Familien und Sippen. Die Ehe ist aber auch deshalb ein kulturelles Grundelement, nämlich insofern, als die binäre Opposition der Geschlechter in allen Kulturen dieser Welt das tragende Bauelement der soziokulturellen Architektur darstellt. Es gab vom Amazonen-MythosMythos, Mythologie, mythologisch bis zum radikalen FeminismusFeminismus immer wieder das Bestreben, dieses soziale Band der Geschlechter zu zerschneiden. Damit einher geht die auf den Amazonen-Mythos zurückgehende Utopie einer klaren und kompromisslosen Trennung der Geschlechter, die einigermaßen endgültig getrennt voneinander in verschiedenen Stadtteilen leben sollten.

Die dritte FunktionFunktion kombiniert den synchronenSynchronie, synchron und den diachronenDiachronie, diachron Aspekt und symbolisiert die Eigentumsverhältnisse. Vermutlich lässt sie sich von den beiden anderen Grundfunktionen ableiten. Eigentumsverhältnisse ändern sich, weil Menschen, die vorher voneinander getrennt waren, miteinander ein symbolisches BandBand, symbolisch (Ehe) eingehen. Eigentumsverhältnisse ändern sich, weil Menschen sterben, Häuser, GeldGeld oder Felder dabei übrig bleiben. Die Veränderungen, die durch die beiden ersten Grundelemente notwenig bewirkt werden, bedürfen klarer, verlässlicher Spielregeln und entsprechender symbolischer Formgebungen und Sinnstiftungen. Auch hier wird sichtbar, dass Kultur das Versprechen von Stabilität oder, anders gewendet, die Drohung der Unentrinnbarkeit in sich trägt. Sobald Kultur einmal gestiftet ist, wirkt sie zunächst konservativkonservativ. Kultur ist also tendenziell etwas, was die LebenszeitLeben, Lebens-, -leben des einzelnen Menschen überdauern will.

VicosVico, Giambattista Einfluss auf die Kulturgeschichte und die Kulturwissenschaften ist bis heute latent vorhanden, gleichsam unterirdisch spürbar. Er gilt als Begründer der Kulturgeschichte und als Vorläufer der Ethnologie. Als erster hat VicoVico, Giambattista den Kontrast der Wissenschaftskulturen präzise beschrieben und hat auch Gedankengänge von Rousseau und HerderHerder, Johann G., sowie der RomantikRomantik und des HistorismusHistorismus vorweggenommen. Zur Eigenart der auf ihn gründenden Kulturtheorie gehört ihr höchst eigenartiger Konnex mit der Geschichtsphilosophie. Der panoramische Blick auf die Kulturen, die als eine Größe im RaumRaum und in der ZeitZeit bestimmt werden, scheint zur geschichtsphilosophischen Spekulation einzuladen. Wenn es stimmt, dass die schiere Existenz miteinander inkompatibler Kulturen zum RelativismusRelativismus, relativ führt, dann besteht im DiskursDiskurs über Kultur und nicht erst in einem radikalen KulturalismusKulturalismus, -kulturalismus strukturellStruktur, strukturiert, strukturell die Möglichkeit, das GeschichtsbildGeschichtsbild der eigenen Kultur radikal in Frage zu stellen: Das ist mit dem Eintritt in jene so schön mehrsinnige ‚Neuzeit‘ die Idee des FortschrittsFortschritt. Schon bei VicoVico, Giambattista ist ein kontrastives Geschichtsbild zur nachfolgenden AufklärungAufklärung, aufklärungs- vorgezeichnet.

VicosVico, Giambattista neue Wissenschaft möchte der Philosophie neue Themen erschließen und die klassische Philologie dadurch zur „Form der Wissenschaft“ zurückführen, auf dass sie den „Plan einer ewigen idealen GeschichteGeschichte entdeckt“, nach der die Geschichten aller Völker in der ZeitZeit verlaufen. Diesen Plan identifiziert HerderHerder, Johann G. mit dem theologisch besetzten Begriff der „Vorsehung“. Die GeschichteGeschichte aller Völker – und hier nimmt VicoVico, Giambattista entscheidende Gedanken späterer Denker wie HerderHerder, Johann G., SpenglerSpengler, Oswald oder ToynbeeToynbee, Arnold J. vorweg – verläuft nach dem Schema von Aufstieg, FortschrittFortschritt, Verfall und Ende.16 Bei HerderHerder, Johann G. wird, wie wir noch sehen werden, dieser Zyklus, den einzelne Kulturen durchlaufen, in einer organischen Metaphorologie gefasst: Alle Völker, aber auch Partikularkulturen durchlaufen „eine Periode des Wachstums, der Blüte und der Abnahme“.17

Zugleich aber findet sich bei VicoVico, Giambattista noch ein anderes, auf antike Denkmuster zurückzuführendes geschichtsphilosophisches Konzept, das die Idee der ewigen Wiederkehr modifiziert. Es ist die Idee der drei Stadien, und sie führt vom Zeitalter der Götter (Stadium 1) über das Zeitalter der Heroen (Stadium II) zum Zeitalter der Menschen (Stadium III). Damit einher geht eine Abfolge von Sprachen – die SpracheSprache der Hieroglyphen, die Geheimsprache (Stadium I), symbolische SpracheSprache (Stadium II), die Vulgärsprache (Stadium III) – sowie eine Abfolge politischer Systeme: Die HerrschaftHerrschaft des göttlichen Orakels wird abgelöst von der aristokratischen Republik und diese wiederum von der „volksfreien Republik“ bzw. von der Monarchie.18

Mit diesem typologischen Denken finden wir uns schon ganz nahe der Gedankenwelt HerdersHerder, Johann G.. Johann Gottfried HerderHerder, Johann G. wurde 1744 in der Provinzstadt Mohrungen in Ostpreußen geboren und starb 1803 in Weimar. Nicht leicht zu sagen, was dieser Sohn eines pietistischen Kantors und Lehrers gewesen ist: Literaturkritiker, mit dem Ehrgeiz, der Nachfolger LessingsLessing, Gotthold E. zu werden, Theologe, Philosoph, Volkskundler, Autor, Verfasser eleganter und gefühliger Liebesbriefe. HerderHerder, Johann G. begann seine intellektuelleIntellektueller, intellektuell Karriere als Student der Medizin und der Theologie in Königsberg. Sein Interesse galt aber offenkundig der Philosophie und ihrem schon zu Lebzeiten berühmten Repräsentanten: Immanuel KantKant, Immanuel. Anfänglich scheint HerderHerder, Johann G. dessen glühender Anhänger gewesen zu sein; mehr und mehr ging er, nicht zuletzt unter dem Einfluss des mit ihm befreundeten Sprachphilosophen Johann Georg Hamann und intensiver Rousseau-Lektüre, auf Abstand zu dieser rationalistischen Philosophie der Spätaufklärung. Mit dieser Wende wurde HerderHerder, Johann G. einer der ersten Philosophen nach der AufklärungAufklärung, aufklärungs-.

Zunächst war HerderHerder, Johann G. als Prediger an der Domschule in Riga, 1769 geht er, 25-jährig, auf Reisen. Zu diesem Zeitpunkt weiß er noch nicht, dass es ein Abschied für immer sein wird. Aber die Erfahrungen, die er in Ostpreußen und im Baltikum gemacht hat, führt HerderHerder, Johann G. als geistiges Gepäck mit sich. Dazu gehört vor allem die Kenntnis eines mehrsprachigen und multikulturellen Ortes. Denn die Gegend, aus der HerderHerder, Johann G. stammt, ist ein kultureller Kreuzungspunkt deutscher, slawischer und baltischer Kulturen.