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Wolfgang Bendick

Vorm Mast

Klar vorn und achtern

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Inhaltsverzeichnis

Titel

VORM MAST

WIDMUNG

Vorwort zur neuen Auflage

MUSCHELSUPPE

PAPENDIECK

MS NATAL

HOTEL „ZUR SCHRAUBE“

RATTEN

HEJ GEIT

HEJ LÜCHT

NACHTLEBEN AN BORD

HART IST DAS LEBEN EINER RATTE

GEHEIMSENDER

NAGETIERE

ACHTERKANTE LUKE 2

WACHE

DIE ENTDECKUNG AFRIKAS

DSCHIGGI – DSCHIGGI

LÄNDERSPIEL

LOGS

ROLLING HOME

REEPERBAHN

SCHMEISSLEINE

FESTMACHER

GEBURTSTAG

SACKRATTEN

HÜRDENLAUF

SUPPE

DIE RATTEN VERLASSEN DAS SCHIFF

UM AFRIKA

KARIBA

SÜDOSTPASSAT

NAMIBIA

DAS SCHIFF DER ZUKUNFT

SEEALLTAG

LETZTE CHANCE

RÄUCHERAAL

POSTBOOTE

DAS TOR DES FRIEDENS

AU BACKE

DAS TOR DER TRÄNEN

LEGHORN

BRIGIT BARDOT

NEPTUN

NÄCHSTENLIEBE

GÖTTER

SCHIFFBRUCH

EINS AUF DIE NASE

OPFER AN DEN GOTT DES WINDES

DIE UNBEFLECKTE EMPFÄNGNIS

BEFEHLSVERWEIGERUNG

BAYRISCH KONGO

DAS FLAGGSCHIFF

NAVIGARE NECESSE EST

HOLZ IST PFLICHT

HUNDEFUTTER

TARZAN

NORSKE SILBERBLICK

NEUER WIND

DER GESCHMACK DES ABSCHIEDS

VORM MAST

FRISCHE FISCHE

GRUNDBEDÜRFNISSE

DOORNKAAT FRISCO

EAST OF AFRICA

FILMFESTIVAL

NAVIGATION IST, WENN MAN TROTZDEM ANKOMMT

WAHNSINN

NAPOLEON

NICHTS MEHR WIRD SO SEIN WIE FRÜHER

GLOSSAR

Weitere Werke des Autors

Impressum neobooks

VORM MAST

Vom Decksjungen zum Matrosen

Wolfgang Bendick

Impressum

Texte: © Copyright by Wolfgang Bendick

Umschlag: © Copyright by Lucia Bendick

Fotos: Wolfi, Peter, Helmut, Rudi

Erste Erscheinung, September 2016

Zweite Auflage (Taschenbuch), September 2019

Dritte verbesserte Auflage mit Fotos, September 2021

WIDMUNG

Für meine Eltern

Verdient haben sie es, bei den Sorgen die ich ihnen gemacht habe... (oder die sie sich gemacht haben...)

Vorwort zur neuen Auflage

Das große Echo, das mein Buch in den fünf Jahren seit seinem Erscheinen gefunden hat, hat mich bewogen, es nochmals zu überarbeiten und mit über 200 Fotos zu vervollständigen. Außerdem soll ein Glossar von rund 850 erklärten Stichwörtern dem Leser helfen, sich besser auf einem Frachtschiff in jener Zeit orientieren zu können. Denn die Seefahrt ist heute nicht mehr dieselbe. Die Passagierschiffe haben sich in schwimmende, luxuriöse Wohnblöcke und Freizeitparks verwandelt, die Nachfolger der Stückgutfrachter, die Containerschiffe gleichen bestenfalls einer Ansammlung von überdimensionierten, bunten Lego-Steinen. Alles ist gigantisch geworden. Dadurch ist auch die Ästhetik verschwunden.

Damit nicht alles in Vergessenheit gerät, soll dieses Buch eine bleibende Momentaufnahme im Album der Seefahrtsgeschichte sein. Alles ist im Wandel. Der Gigantismus wird an seine Grenzen geraten. Und, wer weiß, vielleicht wird die Zukunft uns wieder kleinere, lebendigere Schiffe bescheren und Häfen voller Arbeiter.

Früher handelte man nur mit Gütern, die es am Ort nicht gab. Jetzt lässt man woanders herstellen, was man selber auch machen könnte. Weil es billiger ist. Wie lange noch? Wann endlich wird Vernunft stärker sein als Profitgier und auch die Umwelt als ausschlaggebender Faktor einbezogen werden? Wann werden die Meere nicht mehr als Mülldeponie dienen, sondern ihre Reinheit von damals wiedergefunden haben?

Bis dahin, lieber Leser, viel Freude bei der Lektüre dieses Buches!

Im September 2021

MUSCHELSUPPE

Ich wollte zur See fahren. Ich musste zur See fahren! Ich weiß nicht, woher das kam. Hatten wir doch niemanden in der Familie, der mich mit diesem Virus hätte infizieren können. Schon in meiner Kindheit war mir das klar. Nur hatte ich schnell gemerkt, dass man mit den Erwachsenen, vor allem wenn sie die eigenen Eltern sind, nicht über alles sprechen darf. Sie tun alles mit einer Handbewegung ab oder mit den Worten: „Warte erst mal, bis du groß bist.“

 

Ich verbrachte meine Kindheit am Ufer des Halterner Sees. Für mich war es das größte Gewässer, das ich kannte, also gleichbedeutend mit dem Meer. „Das Meer ist aber viel, viel größer!“, sagten die Erwachsenen, „man sieht nicht seine Ufer!“ Aber wenn ich mich mit dem Kopf ganz nah an die Oberfläche bückte, war das andere Ufer verschwunden. Also war das doch das Meer, die großen Leute bemerkten das nur nicht.

Man kann sagen, dass ich die eine Hälfte meiner freien Zeit am Wasser verbrachte, die andere bei Bauer Nolte in Overath. Der bestellte mit Hilfe seiner Söhne seinen kleinen Hof. Nebenher arbeiteten sie noch in den Wasserwerken. Die schwere Arbeit wurde vom Pferd Fanny erledigt, manchmal holte man zusätzlich ein Pferd vom Nachbarn, hauptsächlich zum Pflügen oder um den Bindemäher zu ziehen. Sie nannten mich scherzend den „Verwalter“, was mich stolz machte. Vielleicht stand ich oft im Weg. Nahm aber an allen Arbeiten teil, weil auf einem Hof jede Hand, sei sie auch noch so klein, nützlich ist. Meine größte Freude war, mit dem Pferd zu arbeiten, seine Zügel zu halten, den Leiterwagen bei der Ernte zu lenken oder auf seinem Rücken zum Schmied zu reiten.

Irgendwas schwamm immer in meinem Meer. Die Wellen spülten alles irgendwann ans Ufer: Holzstücke, Flaschen, tote Schweine oder Fische, mit dem Bauch nach oben. Mit einem Stock suchte ich ein Stück Holz in dem Treibgut und lenkte es am Ufer entlang. Ich stellte mir vor, es sei mein Schiff. Es schwammen noch andere Schiffe auf dem See. Da waren einige Segelboote und Paddelboote, die meist an Wochenenden den See befuhren. Ein richtiges Schiff sei aber noch viel, viel größer, sagte man mir. Wie ein Haus, wie mehrere Häuser, wie eine Häuserzeile.

Die toten Schweine oder Fische waren für mich wie U-Boote. Ich hatte gehört, dass es Schiffe gab, die sowohl auf als auch unter Wasser fahren können. Kriegsschiffe. Krieg ist schrecklich, hatte ich aus den Gesprächen anderer gehört. Viele Menschen seien darin gefallen. Ich war auch schon oft gefallen. Aber meist war das nicht sehr schlimm. Trotzdem hatte das Wort Krieg für mich einen bedrohlichen Klang. Drum ließ ich die U-Boote, die außerdem erbärmlich stanken lieber da, wo sie waren. Ich fand ein Stöckchen und ein Stück Pappe. Daraus machte ich einen Mast und das Segel und rüstete mein Schiff damit aus. Es war bereit, um in See zu stechen. Es fehlte nur noch die Ladung. Ich besaß eine Sammlung von Spielzeugtierchen. Butter gab es damals nicht, oder sie war zu teuer. Wir aßen Margarine. Und beim Kauf eines Würfels gab es ein kleines Plastiktierchen dazu. Diese stellte ich auf das Deck meines Bootes. Und schob es mit dem Stock auf den See hinaus. So stellte ich mir die Arche Noah vor, wie sie von der Sintflut davongetrieben wurde. Erwachsene würden sagen, das sei ein Tiertransportschiff.


Mein erstes Boot

Zum vierten Geburtstag bekam ich ein richtiges Segelboot geschenkt. Zwar nur ein Spielzeug, bunt bemalt, aber mit einem Segel aus Stoff und einem Schwert. Ich merkte schnell den Unterschied zwischen meinem Brettschiffchen und dem Schwertboot. Das erste trieb nur weg, das andere bewegte sich vorwärts. Schwimmen konnte ich nicht. Wollte ich auch nicht lernen. Wozu auch? Ich wollte ja auf einem Schiff fahren. Und das schwamm ja. Wie oft fiel ich ins Wasser, wenn mein Schiffchen sich zu weit entfernt hatte, und ich es wieder einfangen wollte? Ich kann mich gut erinnern, wie ich absank, immer tiefer. In meinen Ohren klingelte es. Und jedes Mal packte mich eine Hand und zog mich wieder ans Licht und an die Luft. „Versprich mir, das nicht wieder zu tun! Fall ja nicht mehr ins Wasser!“, verlangte meine Mutter. „Versprechen, was heißt das eigentlich?“, fragte ich mich. Wenn jemand etwas Falsches gesagt hatte, dann sagte er: „Oh! Ich hab mich versprochen!“ „Ja“, sagte ich, „ich verspreche“, ohne recht zu wissen, was ich da eigentlich sagte.

Manchmal durfte ich beim Vater im Ruderboot mitfahren. Auf den See hinaus. Oder bis zum anderen Ufer, zu Fischer Bombosch. Für mich war das Amerika. Ich hatte nämlich gehört, dass Amerika auf der anderen Seite des „großen Teichs“ läge. Dieser legte Reusen aus, wie mein Vater. Und Aalschnüre. Und Angeln mit Setzfischen. Auch ich angelte, mit Regenwürmern als Köder. Sie waren leicht zu finden. Man brauchte nur einen Stein anzuheben oder ein Brett. Und sie waren da. Ich verstand nicht, warum die Mädchen kreischend wegrannten, wenn ich ihnen einen zeigte. Sind halt Weiber...

Später durfte ich auf einer Jolle mitfahren. Man erkannte sie an dem O im Segel. Oder auf einem Pirat. Der hatte ein Beil auf dem Segel. Das waren für mich die Seeräuber. Das Gute an den Piraten war, dass sie eine Fock, ein Vorsegel besaßen, das ich mit meinen dünnen Ärmchen schon bedienen konnte. „Klar zum Wendn!“ „Re!“, und der die Ruderpinne hielt, legte sie um. Leichtes Flattern, ich zog, so gut ich konnte an meiner Schot. Schon rundeten sich die Segel wieder, und das Boot nahm erneut Fahrt auf. RE stand auch auf den Nummernschildern der Autos: Recklinghausen. Was hatte das mit Segeln zu tun? Die aus Gelsenkirchen, sagten die „Ge“? Ich kannte Leute aus all den Orten, denn sie hatten Boote bei uns untergestellt. Mein Vater war Bootswart. Eine wichtige Person! Er trug eine Mütze wie ein Kapitän. Warum heißt die Stadt Essen eigentlich Essen? Essen die Leute dort so viel? Aber ich kannte auch dicke Leute aus Gelsenkirchen. Komisch, die Welt der Erwachsenen... „Ihr Kleiner ist aber witzig!“, sagten die Leute, wenn ich meine Gedanken mal laut aussprach. Das machte mich wütend: Denn 1. war ich nicht klein, 2. meinte ich es ernst. Ernst? Auch wieder so ein Wort. Ich hatte einen Freund, der hieß Ernst, und der war eigentlich ganz lustig! Ein anderer hieß mit Nachnamen Mast. Und der war eher klein. Und sie hatten kein Boot. Ich hatte also genug Gründe, den Erwachsenen zu misstrauen!

Ich band einen Zwirnsfaden ans Heck meines Segelbötchens, stieß es ab und stellte mir vor, ich durchkreuze die Meere. Wie die Kapitäne in den Büchern, die ich schon bald zu lesen imstande war.


Auf meiner Pamir 2

Als das Segelschulschiff „Pamir“ sank, vor den Azoren, war ich schon 8 Jahre alt. Wie gerne wäre ich auch auf einem Schulschiff, anstatt in der langweiligen Marienschule... Der Untergang der „Pamir“ brachte mich nicht von meinem Wunsch ab, zur See zu fahren. Er gab mir nicht einmal einen Grund, endlich Schwimmen zu lernen. Ich benannte das Floß, das ich gebaut hatte, „Pamir“ und fuhr hinaus auf den See.

Als ich 11 war, brach die größte Katastrophe meines Lebens über mich herein. Meine Eltern zogen nach Bayern. Ich wusste noch nicht einmal, wo das war! Und wir Kinder mussten mit. Ich musste meinen Hund Moritz zurücklassen und mein Boot „Pamir 2“. Und den See!!! „Dafür gibt es in Bayern Berge“, versuchte meine Mutter mich zu trösten. Jetzt war für mich klar: So bald wie möglich weg von hier und auf See!

Es gab in Bayern doch einige Seen. Und in Bayern lernte ich auch schwimmen. Nicht, dass ich inzwischen eingesehen hatte, dass man schwimmen können muss, um Seemann zu werden (ein Schornsteinfeger kann ja auch nicht fliegen). Nein. Es ging um 5 Mark, die ich unbedingt brauchte. Das reicht noch bis in die Zeit in Haltern zurück. Ich erinnerte mich, dass der Vater uns 5 Mark versprochen hatte, wenn wir schwimmen könnten. Was sollte ich damals mit 5 Mark? Mein Bruder bekam sie. Jemand nahm ihn an eine Art Angel, wie einen Fisch. Mit einem Gurt um den Bauch hing er daran. Da zappelte er nun, schluckte Wasser und hustete, während ich aus meinem Versteck unter dem Bootssteg zusah. Jetzt brauchte ich aber 5 Mark, weil ich wie meine Freunde eine Luftpistole kaufen wollte. Die kostete 10 Mark. 5 Mark hatte ich schon gespart. Das hatte lang gedauert, bekamen wir jeder nur 50 Pfennig Taschengeld im Monat. Später dann 50 Pfennig pro Woche. Denn wir hatten den Eltern gesagt, dass andere Freunde 1 Mark bekommen. Gab das einen Zirkus! „Was andere machen oder sagen, ist mir egal!“, tobte der Vater. Doch so ganz egal schienen ihm die anderen doch nicht zu sein. Wenn mein Bruder und ich nicht in die Kirche gingen, dann hieß es: „Was sollen da die Leute denken!“ „Aber ihr geht doch auch nicht!“, war unsere Antwort. „Das ist etwas ganz anderes!“ Auch sollten wir wie die anderen zur Beichte gehen. „Aber ihr geht doch auch nicht!“ „Wir sündigen auch nicht!“, war ihre Antwort. Dabei hatten wir im Katechismus- Unterricht gelernt, dass selbst der Papst drei Sünden pro Tag begeht!

Tauchen konnte ich schon. Ich besaß eine einfache Maske und einen Schnorchel. So tauchte ich mit meinem Freud Walter die Ufer des Herzmannssees ab. Erstaunte über die neue Welt, die sich mir auftat. Wunderte mich über das Knacken der Schilfhalme, wenn diese zerbrachen. Wir gaben uns Rufzeichen, indem wir zwei Kieselsteine aneinander schlugen. Vom Tauchen bis zum Schwimmen war es nur ein kleiner Schritt und bald hatte ich meine 5 Mark...

Mit dem Rad fuhren wir nach Isny. Das liegt in Baden-Württemberg. Dort bekam ich die Pistole ohne Probleme. In Bayern musste man 18 Jahre alt sein, um eine zu kaufen. Wir spielten meist Cowboy und Sheriff oder Indianer. Ich hatte eine Pistole, war also meist Cowboy. Sheriff waren immer dieselben: die Kinder der 2 Dorfpolizisten. Ich wäre schon gerne Cowboy geworden, ähnlich wie Bauer Nolte in Overath, aber noch lieber Matrose. Mein Bruder wollte Feuerwehrmann werden oder Pilot. Als ich in der Schule einen Aufsatz schreiben sollte: „Was ich einmal werden möchte“, vergaß ich meine Vorbehalte gegenüber den Erwachsenen und schrieb auf 16 Seiten über meinen geheimen Wunsch, zur See zu gehen. Prompt kassierte ich einen 6er mit der Begründung, dass das kein richtiger Beruf sei und nur Hirngespinste eines unreifen Buben. Der Lehrer las Zitate aus meinem Aufsatz vor und machte mich zum Gespött der Klasse. NIE würde ich Lehrer werden! Man vertraut sich ihnen an, und sie benutzen es, um einen fertig zu machen. Verräter!

Aber die schlechte Note passte gut in mein Konzept: Als ich den Eltern sagte, was mein Berufswunsch war, reagierten sie wie der Lehrer, obwohl sie keine Bayern waren. Durch mein schlechtes Zeugnis konnte ich sie überzeugen, dass meine Zukunft nicht intellektuell, sondern handwerklich sein würde. Und sie ließen mich gehen. Eigentlich ist gehen lassen zu schwach ausgedrückt. Mein Vater schmiss mich raus auf immer und ewig, während meine Mutter mich weinend zum Zug begleitete. „Pass gut auf dich auf, mein Junge!“, waren ihre letzten Worte, als der Zug sich in Bewegung setzte. Ich hing am offenen Fenster und winkte, bis sie im Dunkel zurückblieb. So. Das wäre geschafft. Der erste Schritt zur Freiheit, zum wahren Leben!

*

Der Zug ratterte die ganze Nacht. Am Vormittag kam ich in Bremen an. Ein Fahrgast, mit dem ich mich unterhalten hatte, sagte, wenn ich im Zug bliebe, könne ich über Bremerhaven fahren und vom Zug aus gut das Segelschiff „Schulschiff Deutschland“ sehen. Aber außer ein paar Masten sah ich nichts. Vielleicht hatte ich auf der falschen Seite rausgeschaut... Zudem musste ich 5 Mark 50 Zuschlag für den Umweg zahlen, obwohl ich beteuerte, das Aussteigen verschlafen zu haben.

Die Seemannsschule, die ich besuchen sollte, um mich auf meinen Beruf vorzubereiten, lag in Bremervörde, an der Oste (nicht Ostsee, wie ich zuerst dachte, als ich die Einschreibformulare für die Seemannsschule erhalten hatte), einem kleinen Flüsschen, das unweit von Cuxhaven in die Elbe mündet. Am Bahnhof wartete ein Schüler, der schon früher angereist war, auf all die Neuen, um sie zur Schule zu führen.

Das war ein Backsteingebäude mit zwei Seitenflügeln. Dahinter ragte ein hoher Mast empor, wie auf einem Segelschiff. Dann musste jeder von uns zur Einschreibung ins Büro. Anstatt der erwarteten Begrüßung gab's einen Anpfiff. Man hatte mich schon mit einem früheren Zug erwartet.


Die Postkarte, die ich Muttern schickte

Was mir denn einfiele, mit Verspätung zu kommen. „Ich bin aus Versehen in einen anderen Zug eingestiegen usw.“. Ich sah, dass es auch hier zwecklos war, mit Erwachsenen normal zu reden. Vielleicht brauchten sie nur Freiwillige zum Kartoffelschälen; denn das war es, was die Verspätung mir einbrachte: eine Woche Kartoffelschäldienst! Na ja; jemand muss es ja machen. Zu meinem Glück waren wir drei Auserwählte. 50 Schüler plus die Offiziere, das gab einiges an Kartoffeln... Ich kannte den Barras nicht, den Militärdienst, war ja erst 16. Aber ich stellte mir vor, dass es dort ebenso herging wie hier. Brüllen, Befehle, Strammstehen und „Jawoll“ sagen.

 

Wir wurden in zwei Gruppen eingeteilt: die Steuerbordwache und die Backbordwache. Wenn mehr Schülerandrang war, kam noch eine Mittelwache dazu. Die Zimmereinteilung ging schnell vor sich. Alphabetisch. 8 Jungens pro Raum in 4 Stockbetten. Dann ging es ans Bettenbauen, d. h. Beziehen. Dabei bemerkten wir, dass alle Matratzen, egal wie wir sie auch drehen mochten (außer hochkant), Blutflecken hatten. Hatte hier ein Massenmord stattgefunden? Nein! Bevor das Haus zur Seemannsschule umfunktioniert wurde, war es ein Mädchenpensionat gewesen. Und neue Matratzen zu kaufen, das war für die Seemannsschule Hamburg nicht drin. Es fehlte an Kohle, also Spendengeldern. So hatte unsere Schule also beide Extreme gekannt. Erst rein weiblich - jetzt voll männlich. Manchmal lagen wir mit Phantasmen in den Kojen (Betten) und stellten uns die Vorbeliegerin unserer Matratzen vor. Versuchten, die Zeit zurückzustellen... Als der Wachoffizier die gerade von uns bezogenen Betten inspizierte, flog erst mal wieder alles raus. „So baut man keine Betten, seid wohl alle Muttersöhnchen?!“ Einer, der vorher bei der Bundeswehr war, musste uns das genau zeigen. Zu unserem Glück zeigte er uns auch die Tricks, als der Offizier gegangen war, das nächste Zimmer zu inspizieren: vier Knoten in die Ecken des Lakens, und alles war glatt!

Dann ging es an die Einteilung der Unterrichtsräume: Die erste Hälfte des Alphabetes bekam den Steuerbord-Raum, die zweite den Backbord-Raum. Das Schrankeinräumen ging nicht so schnell. Je drei Schüler hatten einen Schrank gemeinsam hier im Klassenzimmer. In die rechte Hälfte hängten wir unsere besseren Sachen auf Kleiderbügel. Das ging fast anstandslos. Linkerhand hatten wir jeder zwei Ablagefächer übereinander. Da flog alles so schön von Muttern zusammengefaltete wieder im Bogen hinaus und landete auf dem Boden. „Nochmal neu! Aber richtig diesmal!“ Natürlich war es auch dieses Mal nicht richtig. Die Taschentücher mussten rechteckig gefaltet werden, nicht quadratisch. Die Hemden so, dass die Ärmel innen lagen, der Kragen obenauf. Alles auf eine bestimmte Breite. So viel Mühe wir uns auch gaben, so oft flog alles wieder hinaus. Ein paar Schüler wurden sauer. „Nix als Schikane!“ Das waren die nächsten Anwärter zum Kartoffelschälen. Mir kam das alles eher vor wie ein lebensgroßes Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel. Glaubst du, du hast es geschafft, wirst du wieder geschmissen. Nur nicht ernst nehmen, dachte ich mir. Sonst bist du hier nicht am richtigen Platz! Das machten uns auch die Offiziere klar: „Wir haben euch nicht gerufen! Ihr seid es, die zur See fahren wollt! Und da geht nichts ohne gewisse Regeln. Und die müsst ihr erst mal lernen!“

Erschien uns vieles als Willkür, so sahen wir spätestens an Bord, dass manches berechtigt gewesen war. Bedingt durch die Enge entstanden dort viele Probleme, die es an Land nicht gibt. Hier fand schon eine Auswahl statt, fast ein Eignungstest. Auch mussten wir lernen, eine Order bedingungslos auszuführen. Es hatte keinen Zweck, uns dagegenzustellen. Wir sollten ja fähig werden, in extremen Situationen zu arbeiten und zu überleben. Eines stand für uns alle fest: Von unseren Eltern hätten wir uns auf diese Weise nicht behandeln lassen! Nie!

Unterrichtsräume, Speisesaal, Küche und Büros befanden sich im Erdgeschoss. Im Obergeschoss, über dem Speisesaal, wohnte der Kapitän. Im Hauptflügel lagen beidseitig des langen Flurs unsere Kammern und die Waschräume, von denen die Innentüren fehlten. Die Klos waren offen, die Duschen ohne Vorhänge. Im Seitenflügel befanden sich die Kammern der Offiziere, die in der Schule wohnten, wenn sie zusätzlich Nachtdienst hatten. Manche von ihnen wohnten in der Stadt. Im Dachgeschoss lagerten wir unsere Koffer. Im Keller befanden sich der Heizraum und Koksvorrat, die Waschküche und der Takelkeller, das Reich des Bootsmanns Papendieck.


Der Mast im Hof der Schule

Wir dachten zu Anfang, dass die Türen der Toiletten und die Vorhänge nur zum Überholen entfernt sind. Doch das war Dauerzustand! Daran musste man sich erst mal gewöhnen, zu zehnt nackt unter den Duschen zu stehen oder für alle sichtbar auf den Klos aneinandergereiht sein Geschäft zu erledigen. Für wohl alle war dies anfangs die schwerste Probe. Alles nackt. Kurze Schwänze, lange Schwänze. Nur keinen hochkriegen! Da würde die ganze Meute was zum Lachen haben! Wenn sich etwas anfing zu regen, dann lieber schnell auf ein Klo, wenn eines frei war, und ihn zwischen den Beinen einklemmen, bis er wieder hängt... Diente dies alles zur Erziehung zur Gleichgültigkeit, oder war es, um zu verhindern, dass zwei Gleichveranlagte sich treffen konnten? Vielleicht beides. Klar, dass die Schüchternen unter uns, zu denen auch ich gehörte, lieber duschen gingen, wenn weniger da waren. Oder aufs Klo. Aber mit der Zeit wurde uns das egal. Und das Duschen wurde zu einem der unterhaltsamsten Momente des Tages, wo wir mal ohne Aufsicht waren und ungehindert Witze machen konnten. Ohne Aufsicht? Ich glaube, die beste Aufsicht ist die Masse. Sind wir alle!

Natürlich gab es welche, die der Schulleitung hinterbrachten, was sie gehört hatten, was sie gesehen hatten. Wer, was, wann, wie und wo. Das merkten wir morgens beim Rapport. Wir alle mussten vor dem Frühstück im Hof in Reih und Glied („nicht vergessen!“) antreten. Vor dem hohen Mast. Wir standen, Hände auf dem Rücken, Offiziere und Kapitän rechte Hand grüßend zur Mütze gehoben, während die Deutschlandflagge langsam in die Gaffel stieg. Wehe, der Posten, der die Flagge hisste, verhedderte die Leine, war zu schnell oder zu langsam! War das Tuch oben, wurde für uns die Sache ernst. „Moin, Jungs!“, sagte der Kapitän. „Guten Morgen, Herr Kapitän!“, riefen wir, die Hände auf dem Rücken. Ja nie in den Taschen. „Hände weg vom Bändsel!“, hieß es dann, „Einmal rund um die Kartoffel!“ Anfangs war es leicht, „Freiwillige“ für Küche oder Klo zu finden. Es genügte, dass die zwei Streifen unserer Pudelmütze nicht gerade waren oder nicht ganz sichtbar. Fest steht, dass die Anzahl der Bestrafungen immer der Zahl der notwendigen Hilfskräfte entsprach. Dann rief der Kapitän: „Vortreten zum Rapport!“, und es war an denjenigen vorzutreten, die sich etwas hatten zuschulden kommen lassen, oder der Kapitän rief Namen auf. Man wusste nie, ob man dabei war. Es hagelte Bestrafungen, Mahnungen, manchmal Drohungen von Schulverweisung. Zum Glück fing danach bald der Unterricht an.


Unterrichtsraum Steuerbordwache

Als die Betten bezogen waren, die Schränke eingeräumt, und wir unsere Arbeitskleidung erhalten hatten, mussten wir den Rest der Wäsche in den Koffern auf dem Dachboden verstauen. Jedes Wäschestück hatte zuhause mit unseren Namen markiert werden müssen. Wie viele Muttertränen sind dabei geflossen? Geld und Wertvolles waren in den Koffern verboten. Kein Problem für mich. Ich hatte keines. Einmal pro Woche konnten wir unter Offiziersaufsicht da hoch, uns was rausholen oder umtauschen. Das vorgesehene Taschengeld mussten wir bei der Sekretärin im Büro deponieren, wo wir später jede Woche etwas abholen konnten. Klar, dass manche Geld in den Koffern hatten oder anderswo versteckten. Aber wie schon gesagt, die Kriecher hinterbrachten alles. Das war die schwache Seite dieses Informationssystems: Einem Hinterbringer würde es später an Bord dreckig gehen. Auch schaffte es Misstrauen unter uns und verhinderte anfangs das Bilden eines Gemeinschaftsgefühls.

Wir waren 8 Leute bei Tisch zum Essen plus ein Backschafter, der die Kellnerfunktion innehatte. Dieser holte die Töpfe und Schüsseln an der Essensausgabe ab und bediente seine Gruppe. 2 von uns waren Offiziersbackschafter. Die Backschafter aßen vor den anderen. 2 weitere halfen in der Küche, 2 hatten Spüldienst. Jede Woche wechselte die Gruppe. Nur die „Straftäter“ hatten eine zusätzliche ‚Ehrenaufgabe‘, meist Kartoffeln oder Toilette. Die Kammern sauber halten, war Aufgabe der Bewohner. Kontrolliert wurde vom Ausbildungsoffizier.

Wir hatten das Dreiwachensystem an der Schule. Wie auf einem Schiff auf großer Fahrt. Dadurch, dass die ‚Mittelwache‘ (die dritte Gruppe, wenn bei anderen Kursen viel mehr Schüler da waren) fehlte, war die Posteneinteilung komplizierter. Aber das tüftelten die Offiziere aus. Wir waren nur Ausführende. Da war der Posten „Tor“. Der stand hinter dem Gartentor am Straßeneingang. Er empfing die Besucher und führte sie in den Flur, wo sie der Posten „Flur“ übernahm. Dieser brachte die Gäste ins Büro oder Küche, wenn es Lieferanten waren. Als Posten musste man immer die Hände auf dem Rücken haben. Wehe, einer rauchte! Freiwillige wurden immer gesucht!


Magnetkompass im Flur der Schule

Der Posten „Flur" hatte seinen Standplatz beim Kompasshaus im Flur. Der dritte Posten war der Posten „Bootshafen“, der 500 Meter weiter bei den Rettungsbooten Wache schob. Da war es ruhig, und eine Zigarette war möglich. Alle 80 Minuten wechselte man sich ab. Das erlaubte es den Außenposten, sich etwas aufzuwärmen. Wir befanden uns im Oktober. Anfangs war das Wetter noch gut. Aber je näher Weihnachten rückte, desto kälter wurden die Tage und das Postenstehen umso härter. Wir gingen Wache von 8 Uhr morgens bis 8 Uhr abends. „Freut euch! Auf dem Schiff müsst ihr auch nachts raus!“, hieß es zum Trost. Die Posten waren vom Unterricht befreit, mussten aber zusehen, wie sie den Stoff nachholten. Der einzige, der keine Wache schieben musste, war Gerd. Er hatte die breitesten Schultern von uns allen und war der Größte. Er war ein guter Kamerad, lachte gern. Er war zum Heizer unserer Schiffer-Schule ernannt worden, weil er Erfahrung im Umgang mit Heizungen hatte (er hatte als Installateur gearbeitet). Da konnte er auch mal den Unterricht verlassen, um nachzulegen. „Die Maschine muss laufen!“ Dort unten vor dem Kokshaufen rauchte er seine Zigaretten und las Romane.

Unsere „Dienstkleidung“ bestand, (von oben nach unten) aus der Pudelmütze (Pudel genannt). Hatten wir sie nicht auf dem Kopf, musste sie vorne in der Tasche unserer Latzhose stecken, die unser Hauptbekleidungsstück war. Anfangs kamen wir uns wie Pinguine vor, wenn wir uns in dem blauen Teil sahen. Das Gute daran war die Anzahl der Taschen. Die Enden der Träger mussten wir nach jedem Waschen neu annähen. Sauberes Taschentuch war Pflicht. Alle trugen wir das gleiche khakifarbene Hemd, die oberen zwei Knöpfe offen. Auf der linken Schulter war das Wahrzeichen der Seemannsschule Hamburg aufgenäht: ein wappenartiges Emblem, rot auf weiß, mit einem Kreuzknoten darauf und den Buchstaben SH (Seemannsschule Hamburg). Unter diesem Hemd trugen wir bei kaltem Wetter einen dunkelblauen Marinepullover mit Reißverschluss-Rollkragen. Dieser Reißverschluss musste ebenfalls offen sein, und der Kragen des Pullovers musste genau auf dem Hemdkragen aufliegen. Die Wahl der Unterhose war frei, vorausgesetzt, unser Name war angenäht; ob von Muttern oder Freundin war egal. Unsere nicht etikettierten Füße steckten in etikettierten Socken und diese in schwarzen Lederturnschuhen mit heller Sohle. So waren wir ausgestattet, um uns auf das Abenteuer Seefahrt vorzubereiten.


Steuerbordwache

(v.l.n.r: Klosterreit, Bendick, Jensen, Knaak, Danhel, Förster, Kohlmorgen - Endres, Ciboch, Kammel, Jahnke, Bergmann, Feurig, Giebel, Klötzer, Buck – Hallmann, Kammerlander, Doleisch, Kessler (‚Morphi‘), Batliner

Gleich zu Anfang ging es darum, aus unseren Reihen den Wachältesten zu wählen. Der Vorschlag der Schulleitung war Hans für die Steuerbordwache. Er war Stabsunteroffizier beim Bund gewesen. Er konnte ebenso gut Orders geben wie die Offiziere, war gewohnt, angebellt zu werden und in die andere Richtung weiterzubellen. Wir akzeptierten ihn in geheimer Wahl. Die Backbordwache entschied sich für Peter, der war ein großer Typ und sehr kollegial.


Backbordwache

(v.l.n.r: Lange, Müller, Lehner, Pursche, Sindermann, Rietz, Ostermann, Meier, Langstroh – Zimmermann, Tröndlin, Petri, Mommert, Techentin, Schade, Steincke, Räthke – Zink, Tschakert, Mandl, Szybalski, Strecker, Tschinkel

Kapitän Neugebauer, von gedrungener Person, war der Master next God, Herr über Sein und Nichtsein an unserer Schule. Er paradierte mit einem deutschen Schäferhund an kurzer Leine. Wir fragten uns, wer von den beiden der Bissigste war. Es hieß, er sei früher auf Segelschiffen gefahren, sogar als Kapitän. Er war sich seiner Aura von Autorität bewusst. Außer beim morgendlichen Rapport blieb er weitgehend im Hintergrund. Seine Frau, die wir selten sahen, erschien uns ein bisschen aufgetakelt. Wir vermuteten, dass sie im Hause die vier Streifen trug.