Kreuzweg zu anderen Ufern

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Kreuzweg zu anderen Ufern
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Wolfgang Bendick

Kreuzweg zu anderen Ufern

Bekenntnisse eines Seminaristen

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Zum Buch

PROLOG

TEIL 1 - DAS DORF

DIE FREUNDE

KIRCHGANG

SONNTAG

SÜNDE

DER ROLLENDE BEICHTSTUHL

DAS MAIENWUNDER

MYSTIK UND VERBOTENE FRAGEN

DAS WELTLICHE GESETZ

TEIL 2 - DAS SEMINAR

DIE PILGERFAHRT

JUGENDARBEIT

DIE WENDE

ENDLICH FERIEN

DIE LEHRER

ZOFF

SONNTAGSHEILIGUNG

WENN RECHT ZU UNRECHT WIRD…

MUSIK

DIE KOMPLET

FREIHEITSDRANG

DER HIPPIEBUS

ETWAS WELTOFFENER

EXTERN

DER ANTICHRIST

ERWACHENDER EROS

NACHILFEUNTERRICHT IN LIEBE

REISETRÄUME

ENDLICH

POSTSCRIPTUM

Weitere Werke des Autors

Impressum neobooks

Zum Buch

Wolfgang Bendick

Kreuzweg

zu anderen Ufern

BEKENNTNISSE EINES SEMINARISTEN

All meinen Lehrmeistern gewidmet,

den guten und den schlechten,

die mir durch ihr Wissen und Beispiel geholfen haben,

den Geist zu öffnen

und zu dem zu werden,

der ich bin.

Vor allem Herrmann,

meinem langjährigen Klassenlehrer,

der schon lange vor mir an meine Talente glaubte…

Ein Dankeschön an die Freunde, die mir Mut gemacht haben, dieses Buch zu schreiben, und mit ihren Erinnerungen manch eine Episode aus der Vergessenheit zurückgeholt haben.

Dank auch jenen, die beim Verbessern dieses Buches geholfen haben, wie meiner Tochter Lucia, dem Franz und dem Peter…

Zum 50sten Jahrestag des Abiturs des K5 (1971)

Dieses Buch ist die Geschichte eines jungen Menschen in seiner Sturm-und Drangzeit, der sich von Gott gerufen fühlt. Es ist das intime Tagebuch einer Seele, die zur Mystik erwacht, gefangen in einem heranreifenden Körper, und die die Antwort auf die ihn aufwühlende Frage nach dem Sinn des Daseins in der katholischen Religion findet. Für eine Weile zumindest. Dabei geht der Weg durch die Täler der Sünde bis hin zur Glückseligkeit der Gegenwart Gottes, führt durch Fundamentalismus letztendlich zur Vernunft und hin zur Selbstbefreiung: Weder Gott noch Meister! Oder anders ausgedrückt: Wir sind Kinder des Universums…

*

Wie schon meine anderen Bücher ist dieses Werk eine Fiktion, die teilweise auf reellen Begebenheiten beruht. Die Geschichte spielt Ende der sechziger/Anfang der siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, ist aber noch genauso aktuell wie damals, denn die katholische Kirche (sowie alle anderen Religionen) hat sich weniger schnell entwickelt als die Gesellschaft oder die Wissenschaften. Die Entwicklung in der Welt beweist, dass der Mensch (noch?) nicht ohne Religion leben kann. Nur – haben Religionen je zu einer besseren Welt beigetragen oder sind sie Zuflucht für die Menschen, die mit der Realität nicht zurechtkommen? Oder gar Ursprung aller Konflikte???

Dieses Buch ist ein weiterer Teil eines Puzzles von 75 Jahren Zeitgeschichte.

Alle Handlungen sind frei erfunden,

nur manche Namen sind echt

PROLOG

PROLOG

Ich fühlte mich frei. Völlig frei. Ein wunderschönes Gefühl. Hatte ich doch einen Beruf gewählt, der es mir ermöglichte, ohne Bindung zu sein, hinzugehen, wo ich wollte, zu denken, was ich wollte: Seemann!

Doch trotz allem, oder gerade wegen dieses Berufes, befand ich mich auf einem Logenplatz, um das Elend in der Welt zu sehen. Manchmal wunderte ich mich wirklich, schämte mich schier, dass ich mich nicht auf der anderen Seite befand, bei den Elenden. Was hatte bewirkt, dass ich einer von den wenigen war, mit denen es das Schicksal beim Verteilen der Geburtsorte gut gemeint hatte? Und manchmal dachte ich mir, dass meine Freiheit gar nicht echt sei, nur eine Selbsttäuschung, denn: entweder sind wir alle frei und erleben uns als Brüder ohne Angst und ohne Hass, oder aber wir müssen noch an der Freiheit arbeiten, damit sie ein Gemeingut wird…

Ist es unsere Lebensweise im Überfluss, die es uns erlaubt, solche Gedanken zu hegen, oder sind solche Gedanken Menschen aller Klassen zu eigen, zumindest einem geringen Teil von ihnen, und bewegt sie dazu, zu Idealisten zu werden, zu Träumern von einer heilen Welt?

Und dann stellt sich die Frage: Wie und wo den Hebel ansetzen, um die Welt in eine etwas harmonischere Richtung rotieren zu lassen? Sollte man erst Millionen verdienen, welche man dann über das Elend verstreut, um es auszumerzen? Soll man eine Revolution machen, um den Menschen einen neuen Weg zu zeigen und den Reichen das zu nehmen, was sie uns über Generationen vorenthalten haben, um es gerecht zu verteilen? Ersteres schien mir zu langwierig und außerdem hatte meine Mutter schon immer gesagt: „Geld verdirbt den Charakter!“ Die wenigen Reichen, die ich kannte, waren ein vortreffliches Beispiel dafür. Und für das zweite hatte ich nicht den Mumm. Allein von meiner Gestalt her war ich eher ein Schwächling und außerdem waren meine Ideale Albert Schweizer und Mahatma Gandhi, also alles Pazifisten.

Und Revolutionen hatte es schon genug gegeben, gab es noch immer irgendwo auf der Erde, wie ich selbst in den besuchten Ländern erlebt hatte, und alle führten nur durch ein Blutbad zu einer erneuten ungerechten Verteilung der Güter… Nein, man müsste das anders angehen, kam es mir in den Sinn, von innen her, angefangen bei der Bildung, dem Übermitteln von universellen Werten von Kindheit an! Dem Geld seinen Stellenwert zu geben, der ihm zusteht: Eine Nebensache! Eine Art Schmierstoff, schmutzig, aber notwendig, der ein Teilen der Güter der Welt und damit ein harmonisches Zusammenleben auf der Erde ermöglichen könnte…

Solcher Art waren meine Gedanken, während ich auf meinem Moped durch die Buchenwälder zwischen dem Ammersee und Starnberger See knatterte, auf dem Wege nach Walzell, einem Ortsteil von Loisachtal – mir noch völlig unbekannt – um mich dort an einer Schule vorzustellen. Ich hatte gerade auf dem Schiff abgemustert, hatte ein paar Wochen Landurlaub vor mir, bevor es auf einen neuen Dampfer, meinen letzten, wie ich mir vorgenommen hatte, gehen sollte.

Um Bildung zu vermitteln, musste man erst mal selber welche haben, war meine logische Schlussfolgerung gewesen. Diese hatte mich zu der Entscheidung geführt, als erstes das Abitur nachzumachen, um dann zu studieren – entweder Pädagogik oder Theologie – und den Menschen zeigen zu können, wo es lang ging… Nur gab es zu jener Zeit wenige Schulen, auf denen man das Abi nachholen konnte, da der ‚zweite Bildungsweg‘, wie er genannt wurde, erst in den Kinderschuhen steckte. Angeblich gab es nur zwei Institute in Deutschland, wo das möglich war, ein staatliches bei Köln und ein anderes, kirchliches, eben hier in Walzell.

 

Ich hatte Zeit. Mein Rendezvous war für 14 Uhr angesetzt, also nach dem Mittagessen. Die schmale Teerstraße schlängelte sich durch den hochstämmigen Wald. Es war kein Verkehr, war ja auch Mittagszeit. Ich ergötzte mich an den Kurven, ließ mich regelrecht hineinfallen, um mich durch ein Drehen am Gasgriff wieder heraus zu hebeln, soweit das bei den 2,6 PS des Motors meiner kleinen Zündapp überhaupt möglich war. Meine Freunde fuhren inzwischen Motorräder, wenn nicht gar Autos und hupten mitleidig, wenn sie mich überholten. Doch mir ging es nicht um Geschwindigkeit. „Klein, aber fein!“, war eine Devise meiner Mutter gewesen und irgendwie auch zu meiner geworden. Eine andere war: „Geld allein macht nicht glücklich, aber es beruhigt!“ Es lag ein leichter Geruch von trockenem Laub und Sommertag in der grünlichen Luft, die hier und da von einem goldenen Sonnenpfeil durchstoßen wurde. Die Schatten der Äste zeichneten dann skurrile Muster auf den Asphalt.

Plötzlich – war ein Schlagloch die Ursache gewesen? – ein Ruck, ein Klappern, schon hatte ich die Kupplung gezogen und kam am Straßenrand zu stehen. Mir war klar, dass es die Kette war. War sie gerissen? Nein, sie war nur abgesprungen! Ich bockte die Karre auf den Ständer, suchte unter der Sitzbank mein Bordwerkzeug und machte mich ans Schrauben. Routine. Doch waren meine Hände nachher so schwarz, dass ich Bedenken hatte, so zu dem Treffen zu erscheinen. Obwohl – dachte ich mir – für ein Rendezvous mit einem der Schwarzröcke vom erzbischöflichen Ordinariat in Augsburg könnte das vielleicht ein glückliches Omen sein. Ich versuchte, die Hände mit Blättern sauber zu wischen. Vergeblich. Ich zog den Benzinschlauch vom Hahn und rieb meine Hände mit dem würzigen Saft, der herausquoll, ein. Das ging schon besser! Es blieben nur noch die Fingernagelränder schwarz. Da bemerkte ich unweit hinter den Bäumen einen kleinen Waldsee. Ich fuhr bis auf den kleinen kiesbestreuten Parkplatz. „Wörthsee “ stand auf einem Holztäfelchen und „Angeln verboten!“ Ich rutschte das niedrige Ufer hinunter und kratzte etwas Sand und Kies aus der unterhöhlten Böschung. Damit scheuerte ich meine Hände, bis sie rot waren. Doch die Nägel blieben weiterhin schwarz.

An der Schule und dem Seminar – mehrere nicht zu übersehende große Gebäude inmitten von kleinen Reihenhäuschen – angekommen, fragte ich die Sekretärin, die mich empfing, erst mal nach den Toiletten und nach Seife. Dann setzte ich mich auf eine Bank im hohen und dämmerigen, breiten Flur und wartete auf das, was passieren würde. Ein leichter Essensgeruch hing noch in der Luft. Leises Tellerklappern zeugte von reger Tätigkeit in der Spülküche. Wie viele Personen mochten hier leben? Wie war man untergebracht? Solche und andere Dinge gingen mir durch den Kopf. Aber meine Entscheidung war schon getroffen. Sollte es von Seiten der Schule keine Vorbehalte geben, würde ich mich hier für die nächsten Jahre integrieren. Wäre doch gelacht, wenn ich das nicht aushalten würde…

Da öffnete sich mir gegenüber eine Tür und heraus trat eine hagere, hohe Gestalt in Schwarz von bestimmt über 80 Jahren. Was mir auffiel, waren die grauen Haare in Form eines Bürstenschnittes. Irgendwie roch die Person sogar alt. Fast modrig. Wie soll ich das sagen, nach Mottenkugeln oder jenen Kräuterpastillen aus dem Reformhaus, die ein hohes Alter versprechen, wenn man sie regelmäßig lutscht. „Prälat Vil vom erzbischöflichen Ordinariat Augsburg!“, stellte er sich vor. „Ich bin zuständig für die Zulassung der Studenten des Bistums Augsburg in das Seminar St. Matthias!“ Ich folgte ihm in das Büro, das sicherlich für solche Gespräche vorgesehen war.

Er nahm hinter einem breiten Schreibtisch Platz und wies auf einen Stuhl davor. Ich bemerkte, dass von mir immer noch ein leichter Benzingeruch ausging und versuchte meine Fingerspitzen in den Händen zu verstecken, denn trotz der Seife waren diese schwarz geblieben. In den Toiletten hatte ich außer der Klobürste keine andere gefunden. Und diese als Nagelbürste zu benützen, war mir doch etwas zu abwegig erschienen.

Das Frage- und Antwortspiel zwischen uns zog sich eine Weile hin. Es erinnerte mich etwas an Katz- und Maus. Er war der Kater und eindeutig in der beherrschenden Position. Irgendwie wollte er mein religiöses Leben ergründen, sagen wir mal, die Tiefen meiner Seele sondieren. Einer höheren kirchlichen Persönlichkeit als einem Pfarrer hatte ich mich in meinem ganzen Leben noch nicht genähert, kam es mir in den Sinn, oder, halt doch, bei der Firmung hatte mir damals ein ‚Weihbischof‘ die Salbung und den Backenstreich gegeben.

Er erklärte mir, dass ich schriftlich ein offizielles Aufnahmegesuch stellen müsste, mit Begründungen und so weiter. „Warten sie, ich werde ihnen ein Muster ausstellen, welches sie dann abschreiben und an der entsprechenden Stelle einreichen müssen“. Und er schrieb mir mit seiner etwas zittrigen Hand, durch deren Haut ich meinte die einzelnen Knochen sehen zu können, in der alten deutschen Schrift, welche ich zum Glück damals in der Volksschule noch gelernt hatte, folgendes auf ein Blatt Papier: „An den hochwürdigen Herrn Prälaten Vil, Erzbischöfliches Ordinariat des Bistums Augsburg, Domstraße. „Hiermit bitte ich, ... , demütig um Aufnahme in das Seminar für Spätberufene St. Matthias zwecks Erlangung der Hochschulreife und des späteren Studiums der Theologie“. Die Schulzeit, erklärte er mir noch, dauere 6 Jahre. Begabte Studenten hätten aber die Möglichkeit, Klassen zu überspringen, und die Zeit etwas zu verkürzen.

Anschließend wurde einer der älteren Studenten damit beauftragt, mir das Seminargebäude zu zeigen und die Schule, etwas abseits davon gelegen, aber durch einen auf der Südseite mit großen Fenstern versehenen Gang mit ersterem verbunden. Wie ich dabei erfuhr, waren die Hauptgebäude während des letzten Krieges eine Munitionsfabrik gewesen und anschließend in das ‚Lager Föhrenwald‘ umgewandelt worden, um Kriegs-Flüchtlinge, hauptsächlich Überlebende aus den KZ und aus dem Osten, aufzunehmen. Erst in späteren Jahren hatte das Bistum München das Gelände erworben, eine der Hallen in eine Kirche umgewandelt und die anderen in Seminar und Schule. In den Klassenzimmern (nachmittags war kein Unterricht, sondern Studierzeit) hing ein Geruch wie in jeder Schule, nach Kreide und sich langweilenden Schülern. Im Foyer, über eine ganze Wand verteilt, prangte ein Fresko, hauptsächlich in Gelbtönen gehalten, welches dem französischen Jesuiten, Theologen und Philosophen Pierre Teilhard de Chardin gewidmet war, von dem der Direktor des Seminars ein Verehrer war. Doch mir besagte der Name nichts. Das Gemälde sollte die Evolution des Universums seit seiner Entstehung bis hin zu seinem Endzustand darstellen, von der reinen Materie über den Menschen bis hin zum universellen Bewusstsein.

Die Schüler der unteren Klassen waren in Schlafsälen mit 7 Betten untergebracht, daneben befand sich ein Studierzimmer mit 7 Schreibtischen. Hier roch es nach Kaffee und nebenan nach Socken. Um einen Schreibtisch herum hatten vier Schüler ihre Stühle zusammengerückt und tranken Kaffee. Nebenan auf den Betten lagen zwei andere und lasen ein Buch. Kreuze an den Wänden und Marienbilder zeugten davon, dass es sich um ein katholisches Institut handelte, ein paar bunte Poster dazwischen, dass hier junge Menschen lebten. Je weiter man in den Klassen aufsteige, umso weniger Personen wohnten zusammen in einem Zimmer, erklärte man mir. Irgendwie kam mir mein letztes Schiff in Erinnerung. Dort hatten wir Einzelkabinen gehabt, weil es in Schweden gebaut worden war. Auf deutschen Schiffen, weniger fortschrittlich, gab es nur Zwei-Bett-Kabinen. Sechs Betten und mehr, das war damals in der Segelschiffszeit gewesen, als man noch in der Back (Vorschiff) wohnte. Na ja, ich würde schon irgendwie zurechtkommen. Alles Gewohnheitssache…

Die Toiletten befanden sich im Flur, die Duschen und Bäder irgendwo im Keller. Mit einem Besuch der Kirche, einem lichten und klarem Raum (ich versuchte die Kniebeugen und Kreuzzeichen im richtigen Augenblick und am richtigen Ort zu machen, indem ich meinen Führer nachmachte), endete der Rundgang.

Wieder zu Hause, machte ich mich an das Schreiben des Briefes, natürlich in normaler Schrift, der lateinischen, wie man sie auch nannte. Sollte der Prälat sehen, wie er zurechtkam! Meistens war ich nur nachmittags zu Hause, bei meiner Mutter, die sich so freute, dass ich mal da war. Meinem Vater ging meine Anwesenheit auf den Geist. „Der soll was arbeiten wie alle normalen Menschen, und nicht daheim rumhängen!“ Also schlief ich meistens bei Freunden oder früheren Schulkameraden, wo sturmfreie Bude war oder tolerantere Väter… Deren letztes Schuljahr, die Abiturklasse hatte gerade angefangen. Mit ihnen ging ich manchmal in den Unterricht und setzte mich auf den Platz eines abwesenden Schülers. Das war einfach, da manche Lehrer die Namen der Schüler noch nicht kannten. Manchmal malte ich ihnen Bilder für den Zeichenunterricht oder schrieb ihnen Aufsätze, was mir wahnsinnigen Spaß machte, hatte ich doch noch vor drei Jahren selber unter der Willkür einiger Lehrer gelitten. Im Erdkunde-Unterricht durfte ich sogar offiziell meine bis dahin gedrehten Filme von Afrika zeigen.

Natürlich ging ich auch in die Kirche. Ich holte das nach, was ich auf dem Meer versäumt hatte. Der Pfarrer schien froh zu sein über die Rückkehr des verlorenen Sohnes.

TEIL 1 - DAS DORF

DAS DORF

DIE FREUNDE

Doch gehen wir erst mal ein paar Jahre zurück in das Dorf meiner Jugendzeit. Unter meinen Freunden befanden sich einige „Weihwasserfrösche“, wenn man so sagen kann, wohnten wir doch in Bayern. Hier war jeder mehr oder weniger katholisch, außer den wenigen Protestanten. Aber diese gingen auch in die Kirche, ein eher schlichter Versammlungsraum am anderen Ende des Dorfes gelegen. Und diese hatten auch ihren eigenen Friedhof, im Nachbarort gelegen, denn der katholische war ihnen nicht erlaubt. Ging ein Katholischer in seiner Verzweiflung mal in die Iller oder nahm den Strick, oder starb ein Nicht-Gläubiger, so wurde dieser auf dem evangelischen Friedhof beigesetzt, ebenso diejenigen, die eingeäschert wurden. Dort war man toleranter, was den letzten Ruheplatz auf Erden betraf, er war sogar für Heiden geöffnet! Sicher war man hier auch großzügiger, was den Zugang zum Himmel betraf… Die Verbrennung der Verstorbenen hatte die katholische Kirche streng verboten, da es in ihren Augen eine Leugnung der Auferstehung von den Toten mit Fleisch und Blut war.

Wenn wir Jugendlichen uns trafen waren meistens Katholische und Evangelische gemischt. Standen irgendwo ein paar zusammen, so gesellte man sich dazu oder ging zu einem anderen Platz oder Wohnblock, wo man sicher war, Gleichaltrige zu treffen oder klingelte einen Freund heraus. Es gab immer etwas zu besprechen oder einfach nur rumzualbern. Wen von uns jungen Leuten kümmerte schon die Religion? Zumindest hängte man sie nicht an die große Glocke. Wir hatten andere Themen: Mädchen, Mode, Autos, Radtouren, Schwarzfischen, Unsinn machen, Schlagersänger… Eigentlich waren hauptsächlich Buben beieinander. Zumindest abends. Mit den Mädchen hatten wir es noch nicht so. Irgendwie trauten wir uns nicht ran, waren zu schüchtern. Uns nervte, wenn sie zusammenstanden, auf uns zeigten und untereinander gickerten wie Hühner. Wir streckten ihnen die Zunge raus oder drehten ihnen den Rücken zu.

Anfangs hatten mein Bruder und ich es schwer, die anderen zu verstehen, da wir von Norddeutschland kamen und fast alle hier Dialekt sprachen. Natürlich verarschte man uns deshalb und nannte uns die ‚Preußen‘ oder gar die ‚Saupreußen‘. Nach einer Weile störte uns das nicht mehr und sie nannten uns mit dem Vornamen oder dem Familiennamen mit der Vorsilbe ‚klein‘ oder ‚groß‘ davor. Was uns aber sehr überraschte, fast störte, waren die Flüche, die jeder zur Bekräftigung seiner Worte gebrauchte. Wir im Norden benutzten auch Kraftausdrücke. „Scheiße“ und „verdammt, beschissen, verflixt, saudumm, Mist, Kacke, Arschloch…“ Aber in Bayern glichen die Flüche eher einer religiösen Litanei. Die Evangelischen waren darin etwas zurückhaltender. Vielleicht, dass ihr Pastor mehr Gewicht auf das zweite Gebot legte, „Du sollst den Namen Gottes nicht verunehren“, während die katholischen Pfarrer sich im sechsten Gebot festgebissen zu haben schienen: „Du sollst nichts Unkeusches tun, denken oder reden“. Manchmal versuchte man sich im Fluchen gegenseitig zu übertrumpfen. Einmal organisierten wir einen Wettbewerb im Fluchen, wo natürlich Peter, ein Katholischer, gewann mit dem längsten je ausgesprochenen Fluch: „Himmelherrgottsakramentkreuzkruzifixhallelujascheisshureglump verrecktsjamileckstamarschdudamscherjahrgangdusaudummesblödessäckeldu!“

 

Aber in wieweit war ich überhaupt katholisch? Da mein Bruder und ich nicht im Dorf geboren waren und auch nicht hier die Volksschule besucht hatten, besaßen wir keinen festen Platz in den Kirchenbänken. Denn anfangs schickten uns die Eltern sonntags in die Kirche. „Was sollen die Leute denken!“, war ihre Begründung, „und außerdem haben wir ja ein Lebensmittelgeschäft! Da sollten wir uns schon etwas nach den Bräuchen richten…“ Sollten wir zwei quasi als Werbung in die Kirche gehen? „Warum geht ihr nicht, warum nur wir?“, meinten wir zwei, uns einmal einig, was sonst selten der Fall war, etwas aufgebracht. „Wir Erwachsenen brauchen das nicht! Und außerdem kann euch das nicht schaden!“, wurden wir zurechtgewiesen.

Da wir keine festen Plätze hatten, stiegen wir also auf die Empore, eine Art Balkon, über dem sich auf einem noch höheren Niveau die Orgel befand und der Platz des Kirchenchores, der sonntags beim Hochamt in Aktion trat. Das Innere der Kirche, nachts nur von dem winzigen Flämmchen des ewigen Lichtes erhellt, hatten wir mit Freunden, von denen einige evangelisch waren, schon mehr oder weniger heimlich ausgekundschaftet, da die Kirche ja nur nachts abgeschlossen wurde, und das auch nicht immer. Diese seit Luthers Reformation (31. Oktober 1517, mein Namenstag!) vom wahren katholischen Glauben Abgefallenen waren Kinder von Kriegs-Flüchtlingen oder später zugezogenen „Preußen“, also Norddeutschen, die in unserer Nachbarschaft in einer neugebauten Siedlung wohnten.

Ich hatte einen sehr guten Freund, Manfred, der katholisch war und mir des Öfteren vorschlug, mit in die Sonntagsmesse zu gehen. Er war ein guter Kumpel, etwas über ein Jahr älter als ich. Eigentlich hatte ich seine Schwester vor ihm kennengelernt, die Christa, die öfters das Mädchen unserer Nachbarn besuchte, und mit ihr spielte. Dadurch kamen wir zusammen und ich spielte mit. Mich wunderte, dass meine Eltern nichts dagegen hatten, wie es sonst üblich war. Wahrscheinlich hatten sie von unserer Freundschaft gar nichts mitbekommen, da sie die ersten Jahre nach unserem Umzug sehr mit ihrem Lebensmittelladen und Geldverdienen beschäftig waren. Christa hatte ein kleines Schönheitsmal auf ihrer linken Wange, was meinen Blick automatisch auf sich zog. Wir waren noch Kinder, und sie war vorne noch so flach wie ich unterm Bauch und unsere Zärtlichkeiten und Spiele waren die von Kindern.

Ihre große Schwester hingegen, die ich bald kennenlernen sollte, die Lindis, etwa 5 Jahre älter, hatte einen enormen Vorbau, war ziemlich groß und sehr schlank. Man hätte meinen können, dass sie als Modell für die Barbie-Puppen gedient hatte, die langsam in Umlauf kamen. Diese Schwester hatte einen Freund mit einem dicken BMW-Motorrad, der sehr dem Ken, dem Freund Barbies, ähnelte. Wenn die zwei auf ihrer Maschine durchs Dorf tuckerten – ganz in schwarzes Leder gezwängt, sie ihn an der Hüfte umklammernd – war es sicher, dass jeder sich nach ihnen umdrehte. Auch war da noch eine kleine Schwester in der Familie, blond, ein liebes Ding und eben der Manfred, damals ein Freund meines Bruders, da sie das gleiche Alter hatten und in dieselbe Schule gingen.

Als ich das erste Mal mit in ihre Familie kam, war ich überrascht von dem herzlichen Umgangston. Sie wohnten schräg gegenüber in einer der Sozial-Wohnungen auf engstem Raum. Das Gemeinschaftsbad für alle Hausbewohner befand sich im Keller. In dem Maß, wie Christa an Rundungen zunahm, fand sie mich zu kindisch, was ja auch stimmte, denn mit ihren Hormonen war sie mir mindestens um zwei Jahre voraus. Vor allem wusste ich bald nichts mehr mit den zwei Freundinnen anzufangen, unsere früheren Spiele begeisterten sie nicht mehr. In Bezug auf Schwofen war ich eine Niete und es fehlte mir, ehrlich gesagt, auch an Mut, denn einmal, als ich ihr zu nahegekommen war, hatte sie mir eine geknallt. Bald hatte sie einen neuen Freund und ich auch, ihren Bruder.

Wir zwei unternahmen Radtouren miteinander, er spielte außerdem sehr gut Mundharmonika. Später überließ ich ihm meinen Gitarren-Fernkurs, mit dem er in ein paar Woche so gut spielen lernte, dass er eine Band gründete, während ich es gerade mal schaffte, eine Melodie mit Akkorden zu begleiten. Er hatte nur einen Fehler, er war ein ziemlicher Angeber. Er musste bei den Radtouren immer der erste sein, was mich nicht störte, da ich so seinen Windschatten ausnutzen konnte. Er war halt ein schlechter Verlierer, und versuchte eher zu bescheißen, als auch mal zweiter zu sein. Aber sonst war er korrekt und wir machten nie Schweinereien miteinander, wie es mit den evangelischen Freunden vorkam, die da viel toleranter waren, wahrscheinlich, weil sie nur eine Gemeinschaftsbeichte ablegten und nicht direkt ihre Schandtaten dem Pastor sagen mussten.

Kurz und gut, mit Manfred herumzuhängen, duldeten meine Eltern und auch, dass ich bei ihnen Fernsehen schaute, obwohl in ihren Augen sonst kaum ein Umgang gut genug für mich war. Sie hielten sich nun mal für etwas Besseres und wollten vor allem, dass aus uns zwei Kindern nochmal was Besseres würde. Nur einmal fiel er bei meiner Mutter in Ungnade und mir wurde verboten, ihn zu treffen, woran ich mich aber nicht hielt, da ich es schnell genug gelernt hatte, elterliche Gebote (wie auch die Gebote Gottes) unauffällig zu umgehen. Ich glaube nicht, dass meine Mutter den Vater davon unterrichtet hatte (oder vielleicht doch?). Und das kam so: Als ich abends zum Essen heimkam - Vater rackerte sich auswärts bis spät in die Nacht für uns ab, damit wir es später einmal besser haben sollten, er machte Versicherungen - fragte die Mutter: „Na, wo warst du denn heute?“ Ich: „Beim Manfred!“ „Und, was habt ihr da gemacht?“ Sollte ich ihr wirklich erzählen, was wir alles getrieben hatten, und dass auch der Jürgen, ein Evangelischer, ziemlich älter als ich, ein Freund meines Bruders dabei waren und auch mein Bruder? Lieber nicht, sie würde bestimmt irgendetwas Verbotenes daran finden, alleine schon, dass die anderen älter waren. Und vor allem würde mein Bruder das als ‚Petzen‘, also Verrat, auffassen.

„Witze erzählt!“, antwortete ich ihr und hoffte, dass es damit abgetan sei. Aber nein, sie hakte nach. War das Geschäft in ihrem Laden so mies gewesen, dass sie Aufheiterung brauchte? Denn meistens kamen die Kunden erst gegen Monatsende zu uns einkaufen, wenn sie bei den anderen Krämern im Dorf keinen Kredit mehr bekamen. „Erzähl mir doch einen, ich möchte auch mal was zum Lachen haben!“, forderte sie mich auf. Ich fing an zu schlucken. Die Witze, die die Großen erzählt hatten, waren nicht für Kinderohren gewesen und sicherlich auch nichts für die Ohren Erwachsener, zumindest der eigenen Eltern. Obwohl ich mir vorstellen konnte, dass sie sich auch solche erzählten. Einer war gewesen: „Was ist der Unterschied zwischen einer Autobahn und einem Nylonstrumpf?“ Wir rieten herum und fanden keine Lösung, bis dann der Jürgen sagte, „die Autobahn führt durch den Urwald, der Nylonstrumpf geht bis zum Urwald“. Wir brachen alle in Lachen aus, als hätten wir uns das denken können. „Was denn für einen Urwald?“, fragte ich leise den Manfred. „Na, die Muschi der Mädchen, die Schamhaare, du Säugling du!“ Jetzt kapierte auch ich.

Doch einen solchen Witz würde meine Mutter wohl noch weniger als ich kapieren. Oder zumindest falsch auffassen. Ich zog es vor, ihn ihr nicht zu erzählen. „Na, dann sind das wohl keine echten Witze gewesen?“, drang meine Mutter weiter, „geniere dich nicht, ich verstehe schon auch Spaß!“ Nun gut, wenn sie Spaß verstand, dann würde sie wohl den anderen Witz kapieren und mit mir darüber lachen. Ich begann: „Das ist eigentlich kein richtiger Witz, sondern eher ein Rätsel, aber zum Lachen“. „Da bin ich ja gespannt!“ „Was ist der Unterschied zwischen einer Telegraphenleitung und einem Sofa?“, fragte ich sie und schaute sie gespannt an. Sie überlegte eine Weile, murmelte vor sich hin, um dann einzugestehen: „Ich find’s nicht, also sag du’s mir!“ „Auf der Telegrafenleitung paaren die Vögel, auf dem Sofa vögeln die Paare!“ Und ich fing an zu lachen. Nur, meine Mutter lachte nicht. Ihr Gesicht wurde rot. „Das ist kein Witz, das ist eine Schweinerei! Von wem hast du das, vom Manfred?“ Ich nickte, konnte doch nicht sagen, dass der vom Jürgen war, denn sonst hätte mein Bruder mich als Petze bezeichnet. So kam es, dass mir der Umgang mit dem ‚Früchtchen‘ Manfred verboten wurde, obwohl der eigentlich der kleinste ‚Dreckbär‘ der Bande war.

Da wir uns offiziell nicht mehr sehen durften, tüftelten wir sogleich aus, wie wir uns trotzdem verabreden könnten. Wir kamen auf die Idee, es mit bunten Papierfähnchen anzuzeigen. War mein Vater zu Hause oder sonst wie dicke Luft, klebte ich mit Tesafilm einen roten Zettel außen an mein Zimmerfenster (Manfred wohnte ungefähr 8O Meter schräg hinter uns. War die Luft rein, pappte ich einen grünen Zettel auf die Scheibe. Ebenso tat er, wenn er mich treffen wollte.

Doch war das alles irgendwie zu umständlich. Denn wir hingen ja nicht immer nur im Fenster. Die Nachmittage strolchten wir durch die Gegend und ‚kundschafteten aus‘. Im Micky-Maus-Heft hatten wir gesehen, wie die drei kleinen Schweinchen mit dem kleinen bösen Wolf mittels zweier Dosen und einer dazwischen gespannten Schnur telefoniert hatten. Wir besorgten uns einen langen Bindfaden, durchlöcherten die Böden zweier Konservendosen (das alles in einem Moment, wo meine Mutter voll in ihrem Laden beschäftigt war), verknoteten die Fäden und versuchten unsere Nachrichten zu übermitteln. Doch klappte es nicht richtig. Nur wenn wir hineinschrien, hörten wir uns. Aber Schreien mussten wir ja vermeiden, damit uns niemand auf die Schliche kam. Wahrscheinlich funktionierte unser System nicht, da die Schnur den Boden berührte. Die Entfernung war einfach zu groß und die Kordel zu schwer.