Czytaj książkę: «Staat und Revolution»
Wladimir Iljitsch Lenin
Staat und Revolution
Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution
Impressum
Texte: © Copyright by W.I. Lenin
Umschlag: © Copyright by Gunter Pirntke
Verlag:
Das historische Buch, Dresden / Brokatbookverlag
Gunter Pirntke
Mühlsdorfer Weg 25
01257 Dresden
gunter.50@gmx.net
Inhalt
Impressum
Vorworte
I. Kapitel: Klassengesellschaft und Staat
II. Kapitel: Die Erfahrungen der Jahre 1848 – 1851
III. Kapitel: Die Erfahrungen der Pariser Kommune vom Jahre 1871. Die Analyse von Marx
IV. Kapitel: Fortsetzung
V. Kapitel: Die ökonomischen Grundlagen für das Absterben des Staates
VI. Kapitel: Die Vulgarisierung des Marxismus durch die Opportunisten
Nachwort zur ersten Auflage
VII. Kapitel Die Erfahrungen der russischen Revolutionen von 1905 und 1917
Vorworte
Vorwort zur ersten Auflage
Die Frage des Staates gewinnt gegenwärtig besondere Bedeutung sowohl in theoretischer als auch in praktisch-politischer Hinsicht. Der imperialistische Krieg hat den Prozeß der Umwandlung des monopolistischen Kapitalismus in staatsmonopo-listischen Kapitalismus außerordentlich beschleunigt und verschärft. Die ungeheuerliche Knechtung der werktätigen Massen durch den Staat, der immer inniger mit den allmächtigen Kapitalistenverbänden verschmilzt, wird immer ungeheuerlicher. Die fortgeschrittenen Länder verwandeln sich – wir sprechen von ihrem „Hinterland“ – in Militärzuchthäuser für die Arbeiter.
Die unerhörten Greuel und Unbilden des sich in die Länge ziehenden Krieges machen die Lage der Massen unerträglich und steigern ihre Empörung. Sichtbar reift die internationale proletarische Revolution heran. Die Frage nach ihrem Verhältnis zum Staat gewinnt praktische Bedeutung.
Die in Jahrzehnten einer verhältnismäßig friedlichen Entwicklung angesammelten Elemente des Opportunismus haben die in den offiziellen sozialistischen Parteien der ganzen Welt herrschende Strömung des Sozialchauvinismus geschaffen. Diese Strömung (Plechanow, Potressow, Breschkowskaja, Rubanowitsch, dann in leicht verhüllter Form die Herren Zereteli, Tschernow und Co. in Rußland; Scheidemann, Legien, David u.a. in Deutschland; Renaudel, Guesde, Vandervelde in Frankreich und Belgien; Hyndman und die Fabier in England usw. usf.) – Sozialismus in Worten, Chauvinismus in der Tat – ist gekennzeichnet durch die niederträchtige, lakaienhafte Anpassung der „Führer des Sozialismus“ an die Interessen nicht nur „ihrer“ nationalen Bourgeoisie, sondern namentlich auch „ihres“ Staates, denn die meisten sogenannten Großmächte beuten seit langem eine ganze Reihe kleiner und schwacher Völkerschaften aus und unterjochen sie. Der imperialistische Krieg ist ja gerade ein Krieg um die Teilung und Neuverteilung dieser Art von Beute. Der Kampf um die Befreiung der werktätigen Massen vom Einfluß der Bourgeoisie im allgemeinen und der imperialistischen Bourgeoisie im besonderen ist ohne Bekämpfung der opportunistischen Vorurteile in bezug auf den „Staat“ unmöglich.
Wir betrachten zunächst die Lehre von Marx und Engels vom Staat und wollen besonders eingehend bei den in Vergessenheit geratenen oder opportunistisch entstellten Seiten dieser Lehre verweilen. Dann werden wir uns insbesondere mit dem Hauptvertreter dieser Entstellungen befassen, mit Karl Kautsky, dem bekanntesten Führer der II. Internationale (1889-1914), die in diesem Kriege einen so jämmerlichen Bankrott erlitten hat. Schließlich werden wir die Hauptergebnisse der Erfahrungen der russischen Revolution von 1905 und besonders der von 1917 zusammenfassen. Die letztere schließt anscheinend gegenwärtig (Anfang August 1917) die erste Phase ihrer Entwicklung ab, jedoch kann diese ganze Revolution überhaupt nur verstanden werden als ein Glied in der Kette der sozialistischen proletarischen Revolutionen, die durch den imperialistischen Krieg hervorgerufen werden. Die Frage des Verhältnisses der sozialistischen Revolution des Proletariats zum Staat gewinnt somit nicht nur eine praktisch-politische, sondern auch eine höchst aktuelle Bedeutung als eine Frage der Aufklärung der Massen darüber, was sie zu ihrer Befreiung vom Joch des Kapitals in der nächsten Zukunft zu tun haben.
August 1917
Der Verfasser
Vorwort zur zweiten Auflage
Die vorliegende zweite Auflage wird fast ohne Änderungen gedruckt. Hinzugefügt ist nur der Abschnitt 3 des II. Kapitels.
Moskau, den 17. Dezember 1918
Der Verfasser
I. Kapitel: Klassengesellschaft und Staat
1. Der Staat – ein Produkt der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze
Mit der Lehre von Marx geschieht jetzt dasselbe, was in der Geschichte wiederholt mit den Lehren revolutionärer Denker und Führer der unterdrückten Klassen in ihrem Befreiungskampf geschah. Die großen Revolutionäre wurden zu Lebzeiten von den unterdrückenden Klassen ständig verfolgt, die ihrer Lehre mit wildestem Ingrimm und wütenstem Haß begegneten, mit zügellosen Lügen und Verleumdungen gegen sie zu Felde zogen. Nach ihrem Tode versucht man, sie in harmlose Götzen zu verwandeln, sie sozusagen heiligzusprechen, man gesteht ihrem Namen einen gewissen Ruhm zu zur „Tröstung“ und Betörung der unterdrückten Klassen, wobei man ihre revolutionäre Lehre des Inhalts beraubt, ihr die revolutionäre Spitze abbricht, sie vulgarisiert.
Bei einer solchen „Bearbeitung“ des Marxismus findet sich jetzt die Bourgeoisie mit den Opportunisten innerhalb der Arbeiterbewegung zusammen. Man vergißt, verdrängt und entstellt die revolutionäre Seite der Lehre, ihren revolutionären Geist. Man schiebt in den Vordergrund, man rühmt das, was für die Bourgeoisie annehmbar ist oder annehmbar erscheint. Alle Sozialchauvinisten sind heutzutage „Marxisten“ – Spaß beiseite! Und immer häufiger sprechen deutsche bürgerliche Gelehrte, deren Spezialfach gestern noch die Ausrottung des Marxismus war, von dem „nationaldeutschen“ Marx, der die zur Führung des Raubkrieges so glänzend organisierten Arbeiterverbände erzogen haben soll!
Bei dieser Sachlage, bei der unerhörten Verbreitung, die die Entstellungen des Marxismus gefunden haben, besteht unsere Aufgabe in erster Linie in der Wiederherstellung der wahren Marxschen Lehre vom Staat. Dazu wird es notwendig sein, eine ganze Reihe langer Zitate aus den Werken von Marx und Engels selbst anzuführen. Gewiß, die langen Zitate werden die Darstellung schwerfällig machen und ihrer Gemeinverständlichkeit keineswegs förderlich sein. Es ist aber absolut unmöglich, ohne sie auszukommen. Alle oder zumindest alle entscheidenden Stellen aus den Werken von Marx und Engels über die Frage des Staates müssen unbedingt möglichst vollständig angeführt werden, damit sich der Leser ein selbständiges Urteil bilden kann über die gesamten Auffassungen der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus und über die Entwicklung dieser Auffassungen, dann aber auch, um deren Entstellung durch das heute herrschende „Kautskyanertum“ dokumentarisch nachzuweisen und anschaulich vor Augen zu führen.
Wir beginnen mit dem verbreitetsten Werk von Friedrich Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, das 1894 in Stuttgart bereits in sechster Auflage erschienen ist. Wir sind gezwungen, die Zitate selber aus dem deutschen Original zu übersetzen, da die russischen Übersetzungen, so zahlreich sie sind, zum größten Teil entweder unvollständig oder äußerst unbefriedigend sind.
„Der Staat“, sagt Engels bei der Zusammenfassung seiner geschichtlichen Analyse, „ist also keineswegs eine der Gesellschaft von außen aufgezwungenen Macht; ebensowenig ist er ‚die Wirklichkeit der sittlichen Idee‘, ‚das Bild und die Wirklichkeit der Vernunft‘, wie Hegel behauptet. Er ist vielmehr ein Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständnis, daß diese Gesellschaft sich in einen unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist. Damit aber diese Gegensätze, Klassen mit widerstreitenden ökonomischen Interessen, nicht sich und die Gesellschaft in fruchtlosem Kampf verzehren, ist eine scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht nötig geworden, die den Konflikt dämpfen, innerhalb der Schranken der ‚Ordnung‘ halten soll; und diese, aus der Gesellschaft hervorgegangene, aber sich über sie stellende, sich ihr mehr und mehr entfremdende Macht ist der Staat.“
Hier ist mit voller Klarheit der Grundgedanke des Marxismus über die historische Rolle und die Bedeutung des Staates zum Ausdruck gebracht. Der Staat ist das Produkt und die Äußerung der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze. Der Staat entsteht dort, dann und insofern, wo, wann und inwiefern die Klassengegensätze objektiv nicht versöhnt werden können. Und umgekehrt: Das Bestehen des Staates beweist, daß die Klassengegensätze unversöhnlich sind.
Gerade in diesem wichtigsten und grundlegenden Punkt beginnt die Entstellung des Marxismus, die in zwei Hauptlinien verläuft.
Auf der einen Seite pflegen bürgerliche und besonders kleinbürgerliche Ideologen – die sich unter dem Druck unbestreitbarer geschichtlicher Tatsachen gezwungen sehen, anzuerkennen, daß der Staat nur dort vorhanden ist, wo es Klassengegensätze und Klassenkampf gibt – Marx in einer Weise „zu verbessern“, daß der Staat sich als ein Organ der Klassenversöhnung erweist. Nach Marx hätte der Staat weder entstehen noch bestehen können, wenn eine Versöhnung der Klassen möglich wäre. Bei den kleinbürgerlichen und philisterhaften Professoren und Publizisten kommt es – oft unter wohlwollenden Hinweisen auf Marx! – so heraus, daß der Staat gerade die Klassen versöhne. Nach Marx ist der Staat ein Organ der Klassenherrschaft, ein Organ zur Unterdrückung der einen Klasse durch die andere, ist die Errichtung derjenigen „Ordnung“, die diese Unterdrückung sanktioniert und festigt, indem sie den Konflikt der Klassen dämpft. Nach Ansicht der kleinbürgerlichen Politiker ist die Ordnung gerade die Versöhnung der Klassen und nicht die Unterdrückung der einen Klasse durch die andere; den Konflikt dämpfen bedeute versöhnen und nicht, es den unterdrückten Klassen unmöglich machen, bestimmte Mittel und Methoden des Kampfes zum Sturz der Unterdrücker zu gebrauchen.
Alle Sozialrevolutionäre und Menschewiki zum Beispiel sind während der Revolution 1917, als sich die Frage nach der Bedeutung und der Rolle des Staates gerade in ihrer ganzen Größe erhob, sich praktisch erhob als Frage der sofortigen Aktion, und zudem der Massenaktion – alle sind sie mit einem Schlag gänzlich zur kleinbürgerlichen Theorie der „Versöhnung“ der Klassen durch den „Staat“ hinabgesunken. Die zahllosen Resolutionen und Artikel der Politiker dieser beiden Parteien sind völlig von dieser kleinbürgerlichen und philisterhaften Theorie der „Versöhnung“ durchdrungen. Daß der Staat das Organ der Herrschaft einer bestimmten Klasse ist, die mit ihrem Antipoden (der ihr entgegengesetzten Klasse) nicht versöhnt werden kann, das vermag die kleinbürgerliche Demokratie nie zu begreifen. Das Verhältnis zum Staat ist eines der anschaulichsten Zeugnisse dafür, daß unsere Sozialrevolutionäre und Menschewiki gar keine Sozialisten sind (was wir Bolschewiki schon immer nachwiesen), sondern kleinbürgerliche Demokraten mit einer beinah-sozialistischen Phraseologie.
Auf der anderen Seite ist die „kautskyanische“ Entstellung des Marxismus viel feiner. „Theoretisch“ wird weder in Abrede gestellt, daß der Staat ein Organ der Klassenherrschaft ist noch daß die Klassengegensätze unversöhnlich sind. Außer acht gelassen oder vertuscht wird aber folgendes: Wenn der Staat das Produkt der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze ist, wenn er eine über der Gesellschaft stehende und „sich ihr mehr und mehr entfremdende“ Macht ist, so ist es klar, daß die Befreiung der unterdrückten Klasse unmöglich ist nicht nur ohne gewaltsame Revolution, sondern auch ohne Vernichtung des von der herrschenden Klasse geschaffenen Apparates der Staatsgewalt, in dem sich diese „Entfremdung“ verkörpert. Diese theoretisch von selbst einleuchtende Schlußfolgerung hat Marx, wie wir weiter unten sehen werden, auf Grund einer konkreten historischen Analyse der Aufgaben der Revolution mit größter Bestimmtheit gezogen. Und gerade diese Schlußfolgerung hat Kautsky, wir werden das ausführlich in unserer weiteren Darlegung nachweisen, ... „vergessen“ und entstellt.
2. Besondere Formationen bewaffneter Menschen, Gefängnisse u.a.
„Gegenüber der alten Gentilorganisation“, fährt Engels fort, „kennzeichnet sich der Staat erstens durch die Einteilung der Staatsangehörigen nach dem Gebiet.“
Uns kommt diese Einteilung „natürlich“ vor, sie hat aber einen langwierigen Kampf gegen die alte Organisation nach Geschlechtern und Stämmen erfordert.
„Das zweite ist die Einrichtung einer öffentlichen Gewalt, welche nicht mehr unmittelbar zusammenfällt mit der sich selbst als bewaffnete Macht organisierenden Bevölkerung. Diese besondre, öffentliche Gewalt ist nötig, weil eine selbsttätige bewaffnete Organisation der Bevölkerung unmöglich geworden seit der Spaltung in Klassen ... Diese öffentliche Gewalt existiert in jedem Staat; sie besteht nicht bloß aus bewaffneten Menschen, sondern auch aus sachlichen Anhängseln, Gefängnissen und Zwangsanstalten aller Art, von denen die Gentilgesellschaft nicht wußte.“
Engels entwickelt nun den Begriff jener „Macht“, die man als Staat bezeichnet, der Macht, die aus der Gesellschaft hervorgegangen ist, sich aber über sie stellt und sich ihr mehr und mehr entfremdet. Worin besteht hauptsächlich diese Macht? In besonderen Formationen bewaffneter Menschen, die Gefängnisse und anderes zu ihrer Verfügung haben.
Wir sind berechtigt, von besonderen Formationen bewaffneter Menschen zu sprechen, weil die jedem Staat eigentümliche öffentliche Gewalt „nicht mehr unmittelbar zusammenfällt“ mit der bewaffneten Bevölkerung, mit ihrer „selbsttätigen bewaffneten Organisation“. Wie alle großen revolutionären Denker sucht Engels die Aufmerksamkeit der klassenbewußten Arbeiter gerade auf das zu lenken, was dem herrschenden Spießertum am wenigsten beachtenswert, am gewohntesten erscheint, auf das, was nicht nur durch fest eingewurzelte, sondern, man kann sagen, durch verknöcherte Vorurteile geheiligt ist. Das stehende Heer und die Polizei sind die Hauptwerkzeuge der Gewaltausübung der Staatsmacht, aber – kann denn das anders sein?
Vom Standpunkt der ungeheuren Mehrheit der Europäer am Ausgang des 19. Jahrhunderts, an die sich Engels wandte und die keine einzige große Revolution selbst miterlebt oder aus der Nähe beobachtet hatten, kann das nicht anders sein. Für sie ist es völlig unverständlich, was das für eine „selbsttätige bewaffnete Organisation der Bevölkerung“ ist. Auf die Frage, warum besondere, über die Gesellschaft gestellte und sich ihr entfremdende Formationen bewaffneter Menschen (Polizei, stehendes Heer) nötig geworden seien, ist der westeuropäische und der russische Philister geneigt, mit ein paar bei Spencer oder Michailowski entlehnten Phrasen zu antworten, auf die Komplizierung des öffentlichen Lebens, die Differenzierung der Funktionen u.dgl. mehr hinzuweisen.
Ein solcher Hinweis hat den Anschein der „Wissenschaftlichkeit“ und schläfert den Spießbürger vortrefflich ein, da er das Wichtigste und Grundlegende vertuscht: die Spaltung der Gesellschaft in einander unversöhnlich feindliche Klassen.
Ohne diese Spaltung würde sich die „selbsttätige bewaffnete Organisation der Bevölkerung“ zwar durch ihre Kompliziertheit, die Höhe ihrer Technik usw. von der primitiven Organisation der mit Baumästen bewaffneten Affenherde oder der des Urmenschen oder der in der Gentilgesellschaft zusammengeschlossenen Menschen unterscheiden, aber eine derartige Organisation wäre möglich.
Sie ist unmöglich, weil die zivilisierte Gesellschaft in feindliche und noch dazu unversöhnlich feindliche Klassen gespalten ist, deren „selbsttätige“ Bewaffnung zu einem bewaffneten Kampf unter ihnen führen würde. Es bildet sich der Staat heraus, es wird eine besondere Macht geschaffen, besondere Formationen bewaffneter Menschen entstehen, und jede Revolution, die den Staatsapparat zerstört, zeigt uns sehr deutlich, wie die herrschende Klasse die ihr dienenden besonderen Formationen bewaffneter Menschen zu erneuern sucht und wie die unterdrückte Klasse danach strebt, eine neue Organisation dieser Art zu schaffen, die fähig ist, nicht den Ausbeutern, sondern den Ausgebeuteten zu dienen.
Engels wirft in der angeführten Betrachtung theoretisch dieselbe Frage auf, die uns jede große Revolution in der Praxis anschaulich und zudem im Ausmaß der Massenaktion stellt, nämlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen den „besonderen“ Formationen bewaffneter Menschen und der „selbsttätigen bewaffneten Organisation der Bevölkerung“. Wir werden sehen, wie diese Frage durch die Erfahrungen der europäischen und der russischen Revolutionen konkret illustriert wird.
Doch kehren wir zur Darstellung von Engels zurück.
Er weist darauf hin, daß zuweilen, zum Beispiel hier und dort in Nordamerika, diese öffentliche Gewalt schwach ist (es handelt sich um eine für die kapitalistische Gesellschaft seltene Ausnahme und um diejenigen Teile Nordamerikas in seiner vorimperialistischen Periode, wo der freie Kolonist vorherrschte), daß sie sich aber, allgemein gesprochen, verstärkt:
„Sie“ (die öffentliche Gewalt) „verstärkt sich aber in dem Maß, wie die Klassengegensätze innerhalb des Staats sich verschärfen und wie die einander begrenzenden Staaten größer und volkreicher werden – man sehe nur unser heutiges Europa an, wo Klassenkampf und Eroberungskonkurrenz die öffentliche Macht auf eine Höhe emporgeschraubt haben, auf der sie die ganze Gesellschaft und selbst den Staat zu verschlingen droht.“
Das ist nicht später als Anfang der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts geschrieben worden. Das letzte Vorwort von Engels datiert vom 16. Juni 1891. Damals nahm die Wendung zum Imperialismus – sowohl im Sinne der völligen Herrschaft der Trusts und der Allmacht der größten Banken als auch im Sinne einer grandiosen Kolonialpolitik usw. – in Frankreich gerade erst ihren Anfang, noch schwächer war sie in Nordamerika und Deutschland.
Seitdem hat die „Eroberungskonkurrenz“ Riesenschritte vorwärts getan, um so mehr, als zu Beginn des zweiten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts der Erdball endgültig unter diese „konkurrierenden Eroberer“, d.h. die räuberischen Großmächte, aufgeteilt war. Seit dieser Zeit sind die Rüstungen zu Lande und zu Wasser ins Ungeheure gewachsen, und der Raubkrieg 1914-1917 um die Beherrschung der Welt durch England oder Deutschland, um die Teilung der Beute hat das „Verschlingen“ aller Kräfte der Gesellschaft durch die räuberische Staatsmacht in solchem Maße gesteigert, daß eine völlige Katastrophe naht.
Engels vermochte schon 1891 auf die „Eroberungskonkurrenz“ als auf eines der wichtigsten Merkmale der Außenpolitik der Großmächte hinzuweisen; doch in den Jahren 1914-1917, als gerade diese um ein vielfaches verschärfte Konkurrenz den imperialistischen Krieg hervorgerufen hat, bemänteln die Halunken des Sozialchauvinismus die Verteidigung der Raubinteressen „ihrer“ Bourgeoisie mit Phrasen über „Verteidigung des Vaterlandes“, über „Schutz der Republik und der Revolution“ u.dgl.m.!
3. Der Staat – ein Werkzeug zur Ausbeutung der unterdrückten Klasse
Zur Aufrechterhaltung einer besonderen, über der Gesellschaft stehenden öffentlichen Gewalt sind Steuern und Staatsschulden nötig.
„Im Besitz der öffentlichen Gewalt und des Rechts der Steuereintreibung“, schreibt Engels, „stehn die Beamten nun da als Organe der Gesellschaft über der Gesellschaft. Die freie, willige Achtung, die den Organen der Gentilverfassung gezollt wurde, genügt ihnen nicht, selbst wenn sie sie haben könnten ...“ Es werden Ausnahmegesetze über die Heiligkeit und Unverletzlichkeit der Beamten geschaffen. „Der lumpigste Polizeidiener ... hat mehr ‚Autorität‘ als alle Organe der Gentilgesellschaft zusammengenommen; aber der mächtigste Fürst und der größte Staatsmann oder Feldherr der Zivilisation kann den geringsten Gentilvorsteher beneiden um die unerzwungene und unbestrittene Achtung, die ihm gezollt wird.“
Hier wird die Frage nach der priviligierten Stellung der Beamten als Organe der Staatsgewalt aufgeworfen. Als das Grundlegende wird hervorgehoben: Was stellt sie über die Gesellschaft? Wir werden sehen, wie die Pariser Kommune 1871 diese theoretische Frage praktisch zu lösen suchte und wie Kautsky sie 1912 reaktionär vertuschte.
„Da der Staat entstanden ist aus dem Bedürfnis, Klassengegensätze im Zaum zu halten, da er aber gleichzeitig mitten im Konflikt dieser Klassen entstanden ist, so ist er in der Regel Staat der mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse, die vermittelst seiner auch politisch herrschende Klasse wird und so neue Mittel erwirbt zur Niederhaltung und Ausbeutung der unterdrückten Klasse.“ Nicht nur der antike und der Feudalstaat waren Organe zur Ausbeutung der Sklaven und leibeigenen und hörigen Bauern, sondern es ist auch „der moderne Repräsentativstaat Werkzeug der Ausbeutung der Lohnarbeit durch das Kapital. Ausnahmsweise indes kommen Perioden vor, wo die kämpfenden Klassen einander so nahe das Gleichgewicht halten, daß die Staatsgewalt als scheinbare Vermittlerin momentan eine gewisse Selbständigkeit gegenüber beiden erhält.“
So die absolute Monarchie des 17. und 18. Jahrhunderts, so der Bonapartismus des ersten und zweiten Kaiserreichs in Frankreich, so Bismarck in Deutschland.
Und so – fügen wir von uns hinzu – die Regierung Kerenski im republikanischen Rußland, nachdem sie dazu übergegangen ist, das revolutionäre Proletariat zu verfolgen, in einem Moment, da die Sowjets infolge der Führung der kleinbürgerlichen Demokraten schon machtlos sind und die Bourgeoisie noch nicht stark genug ist, um sie ohne weiteres auseinanderzujagen.
In der demokratischen Republik, fährt Engels fort, „übt der Reichtum seine Macht indirekt, aber um so sicherer aus“, und zwar erstens durch seine „direkte Beamtenkorruption“ (Amerika) und zweitens durch die „Allianz von Regierung und Börse“ (Frankreich und Amerika).
Heute haben Imperialismus und Herrschaft der Banken diese beiden Methoden, die Allmacht des Reichtums in jeder beliebigen demokratischen Republik zu behaupten und auszuüben, zu einer außergewöhnlichen Kunst „entwickelt“. Wenn beispielsweise schon in den ersten Monaten der demokratischen Republik in Rußland, sozusagen im Honigmond des Ehebundes der „Sozialisten“ – der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki – mit der Bourgeoisie, Herr Paltschinski in der Koalitionsregierung alle Maßnahmen zur Zügelung der Kapitalisten und ihrer Raubgier, ihrer Plünderung der Staatskasse durch Heereslieferungen, sabotierte, wenn dann der aus dem Ministerium ausgetretene Herr Paltschinski (der natürlich durch einen anderen, ebensolchen Paltschinski ersetzt worden ist) von den Kapitalisten durch ein Pöstchen mit einem Gehalt von 120.000 Rubel jährlich „belohnt“ wurde – wie nennt man das dann? Direkte Korruption oder indirekte? Allianz der Regierung mit den Syndikaten oder „nur“ freundschaftliche Beziehungen? Welche Rolle spielen die Tschernow und Zereteli, die Awksentjew und Skobelew? Sind sie „direkte“ Bundesgenossen der Millionäre, die den Staat bestehlen, oder nur indirekte?
Die Allmacht des „Reichtums“ ist in der demokratischen Republik deshalb sicherer, weil sie nicht von einzelnen Mängeln des politischen Mechanismus, von einer schlechten politischen Hülle des Kapitalismus abhängig ist. Die demokratische Republik ist die denkbar beste politische Hülle des Kapitalismus, und daher begründet das Kapital, nachdem es (durch die Paltschinski, Tschernow, Zereteli und Co.) von dieser besten Hülle Besitz ergriffen hat, seine Macht derart zuverlässig, derart sicher, daß kein Wechsel, weder der Personen noch der Institutionen noch der Parteien der bürgerlich-demokratischen Republik, diese Macht erschüttern kann.
Es muß noch hervorgehoben werden, daß Engels mit größter Entschiedenheit das allgemeine Stimmrecht als Werkzeug der Herrschaft der Bourgeoisie bezeichnet. Das allgemeine Stimmrecht, sagt er unter offensichtlicher Berücksichtigung der langjährigen Erfahrungen der deutschen Sozialdemokratie, ist „... der Gradmesser der Reife der Arbeiterklasse. Mehr kann und wird es nie sein im heutigen Staat ...“
Die kleinbürgerlichen Demokraten vom Schlage unserer Sozialrevolutionäre und Menschewiki sowie ihre leiblichen Brüder, alle Sozialchauvinisten und Opportunisten Westeuropas, erwarten eben vom allgemeinen Stimmrecht „mehr“. Sie sind in dem falschen Gedanken befangen und suggerieren ihn dem Volke, das allgemeine Stimmrecht sei „im heutigen Staat“ imstande, den Willen der Mehrheit der Werktätigen wirklich zum Ausdruck zu bringen und seine Realisierung zu sichern.
Wir können hier diesen falschen Gedanken nur anführen, nur darauf hinweisen, daß die vollkommen klare, genaue, konkrete Erklärung von Engels in der Propaganda und Agitation der „offiziellen“ (d.h. opportunistischen) sozialistischen Parteien auf Schritt und Tritt entstellt wird. Wie völlig falsch dieser Gedanke ist, den Engels hier verwirft, wird in unseren weiteren Darlegungen der Auffassungen von Marx und Engels über den „heutigen“ Staat ausführlich klargelegt.
Engels faßt seine Auffassungen in seinem populärsten Werk in folgenden Worten zusammen:
„Der Staat ist also nicht von Ewigkeit her. Es hat Gesellschaften gegeben, die ohne ihn fertig wurden, die von Staat und Staatsgewalt keine Ahnung hatten. Auf einer bestimmten Stufe der ökonomischen Entwicklung, die mit der Spaltung der Gesellschaft in Klassen notwendig verbunden war, wurde durch diese Spaltung der Staat eine Notwendigkeit. Wir nähern uns jetzt mit raschen Schritten einer Entwicklungsstufe der Produktion, auf der das Dasein dieser Klassen nicht nur aufgehört hat, eine Notwendigkeit zu sein, sondern ein positives Hindernis der Produktion wird. Sie werden fallen, ebenso unvermeidlich, wie sie früher entstanden sind. Mit ihnen fällt unvermeidlich der Staat. Die Gesellschaft, die die Produktion auf Grundlage freier und gleicher Assoziation der Produzenten neu organisiert, versetzt die ganze Staatsmaschine dahin, wohin sie dann gehören wird: ins Museum der Altertümer, neben das Spinnrad und die bronzene Axt.“
Man trifft dieses Zitat in der Propaganda- und Agitationsliteratur der heutigen Sozialdemokratie nicht oft an. Aber selbst dann, wenn dieses Zitat vorkommt, gebraucht man es meistenteils so, als machte man eine Verbeugung vor einem Heiligenbild, d.h. als offizielle Bekundung der Ehrerbietung vor Engels, ohne jeden Versuch, zu erfassen, einen wie weittragenden und tiefgreifenden Aufschwung der Revolution dieses „Versetzen der ganzen Staatsmaschine ins Museum der Altertümer“ voraussetzt. Meistenteils fehlt sogar das Verständnis für das, was Engels als Staatsmaschine bezeichnet.
4. Das „Absterben“ des Staates.und die gewaltsame Revolution
Die Worte Engels’ über das „Absterben“ des Staates sind weit und breit so bekannt, sie werden so oft zitiert, zeigen so plastisch, worin die Quintessenz der landläufigen Verfälschung des Marxismus zum Opportunismus besteht, daß es geboten erscheint, eingehend bei ihnen zu verweilen. Wir zitieren die ganze Betrachtung, der sie entnommen sind:
„Das Proletariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt die Produktionsmittel zunächst in Staatseigentum. Aber damit hebt es sich selbst als Proletariat, damit hebt es alle Klassenunterschiede und Klassengegensätze auf, und damit auch den Staat als Staat. Die bisherige, sich in Klassengegensätzen bewegende Gesellschaft hatte den Staat nötig, das heißt eine Organisation der jedesmaligen ausbeutenden Klasse zur Aufrechterhaltung ihrer äußeren Produktionsbedingungen, also namentlich zur gewaltsamen Niederhaltung der ausgebeuteten Klasse in den durch die bestehende Produktionsweise gegebnen Bedingungen der Unterdrückung (Sklaverei, Leibeigenschaft oder Hörigkeit, Lohnarbeit). Der Staat war der offizielle Repräsentant der ganzen Gesellschaft, ihre Zusammenfassung in einer sichtbaren Körperschaft, aber er war dies nur, insofern er der Staat derjenigen Klasse war, welche selbst für ihre Zeit die ganze Gesellschaft vertrat: im Altertum Staat der sklavenhaltenden Staatsbürger, im Mittelalter des Feudaladels, in unsrer Zeit der Bourgeoisie. Indem er endlich tatsächlich Repräsentant der ganzen Gesellschaft wird, macht er sich selbst überflüssig. Sobald es keine Gesellschaftsklasse mehr in der Unterdrückung zu halten gibt, sobald mit der Klassenherrschaft und dem in der bisherigen Anarchie der Produktion begründeten Kampf ums Einzeldasein auch die daraus entspringenden Kollisionen und Exzesse beseitigt sind, gibt es nichts mehr zu reprimieren, das eine besondre Repressionsgewalt, einen Staat, nötig machte. Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt – die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft –, ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem andern überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht ‚abgeschafft‘, er stirbt ab. Hieran ist die Phrase vom ‚freien Volksstaat‘ zu messen, also sowohl nach ihrer zeitweiligen agitatorischen Berechtigung wie nach ihrer endgültigen wissenschaftlichen Unzulänglichkeit; hieran ebenfalls die Forderung der sogenannten Anarchisten, der Staat solle von heute auf morgen abgeschafft werden.“ (Anti-Dühring, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, dritte deutsche Ausgabe, S.301-303.)