Czytaj książkę: «Wo du hingehst, will ich nicht hin!»
Wilma Burk
Wo du hingehst, will ich nicht hin!
3. u. letztes Buch von: Heute ist alles anders als gestern - besser?
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Impressum neobooks
Kapitel 1
Das Telefon schrillte. Ich fuhr hoch aus tiefem Schlaf. Automatisch schob ich meine Hand hinüber, wollte in ein Bett neben mir greifen und sagen: ,,Konrad, hörst du, Telefon! Geh doch mal ran!“ Da gab es aber kein Bett mehr. Konrad, mein Mann, war längst, nach fast neununddreißig Jahren Ehe, gestorben. Doch Julchen, mein kleiner Hund, mit seinem seidigem weißbraunen Fell und einer kurzen Nase, stand an meinem Bett und sah mich erschrocken fragend aus ihren großen schwarzen Augen an.
Ich rieb mir die Augen und richtete mühsam meine alten Glieder auf. Wo war nur das Telefon? Ungeduldig begann ich, auf dem Tisch neben meinem Bett danach zu suchen. Da lagen Notizen, Hefte, Akten, alles gehörte zu dem Roman, an dem ich gerade arbeitete. Griffbereit hatte ich hier alles liegen, brauchte in schlaflosen Nächten nur danach zu greifen.
Und das Telefon schrillte und schrillte. Wer wollte mich zu so früher Stunde am Morgen sprechen? Wo war nur das verdammte schnurlose Telefon? Endlich hatte ich es gefunden und meldete mich: „Katrina Haideck.“
„Entschuldige, dass ich so früh anrufe. Ich muss das einfach loswerden“, antwortete eine aufgeregte Stimme. Es war Traudel, meine acht Jahre jüngere Schwester, die am Rande von Hannover lebte und dort mit ihrem Mann ein Autohaus und eine Kfz-Werkstatt betrieb.
„Traudel, was ist passiert?“, fragte ich besorgt.
Sie holte tief Luft. „Susanne hat mich eben aus Berlin angerufen ...“
„Ist was mit den Kindern?“
„Nein, nein! Aber stell dir vor, Robert ist in dem neuen Krankenhaus, ganz bei dir in der Nähe, eine Stellung als Oberarzt angeboten worden“, teilte sie mir mit. Es klang empört.
„Hier bei mir?“ Meine Gedanken jagten sich. Was bedeutete das? Susanne, Traudels Tochter, besaß zwei gut gehende Modeboutiquen in Berlin. Endlich schien nach hektischen Jahren bei ihr, Robert und den drei Kindern alles ein wenig ruhiger und geordneter zuzugehen. Und nun?
„Ja, bei dir. Die ganze Nacht lang haben die beiden darüber diskutiert. Robert verlangt von Susanne, dass sie ihre Geschäfte aufgibt und zusammen mit ihm und den Kindern zu dir in den Harz zieht. Was sagst du dazu?“
Ich schwieg betroffen.
„Hast du verstanden, was ich gesagt habe?“, forderte Traudel ungeduldig.
„Ja, sicher! Das ist … also ich würde mich natürlich freuen, wenn Susanne wieder bei mir in der Nähe wohnte wie früher in Berlin, aber ...“
„Dann findest du es wohl richtig, wenn Susanne ihre Geschäfte aufgibt?“, fiel mir Traudel entrüstet ins Wort.
„Das habe ich damit nicht gemeint. Ich weiß sehr wohl, dass dies keine leichte Entscheidung für sie sein wird. Oder hat sie sich bereits entschieden?“
„Nein, bis jetzt noch nicht. Das wäre wohl zu viel verlangt.“
„Für Robert wird es aber auch nicht leicht, falls sie von ihm verlangt, auf dieses Angebot zu verzichten. Klingt es nicht wie eine Auszeichnung, dass man gerade ihn dort als Oberarzt haben will?“
„Mag ja sein. Doch wie viel Mühe und Arbeit es Susanne gekostet hat, aus einem kleinen dunklen Laden, einer heruntergekommenen Boutique - die wir damals für sie gekauft hatten - zwei große, gut gehende Geschäfte aufzubauen, daran denkst du wohl nicht? Auch Robert scheint sich darüber keine Gedanken zu machen, wenn er von Susanne verlangt, sie solle alles aufgeben. Warum nur glauben Männer immer noch, Arbeit und Beruf seien bei ihnen wichtiger als bei einer Frau? Wieso meint Robert, diesen beruflichen Aufstieg könne er sich nicht entgehen lassen und die Familie müsse mit ihm ziehen?“, ereiferte sich Traudel.
„Und Susanne, welche Meinung vertritt sie?“, fragte ich vorsichtig.
„Na, welche wohl? Sie wehrt sich dagegen, möchte, dass er wartet, bis sich ihm eine ähnliche Stellung in Berlin bietet. Sie meint auch, er sollte mal darüber nachdenken, dass ihm eben der damals noch spärliche Verdienst aus der ersten Boutique die letzte Studienzeit ermöglicht hatte. Das aber wollte er wohl nicht hören. Männer! Sie denken noch immer zuerst an sich“
Ich wusste, sie stand auf Susannes Seite. Doch konnte man das wirklich so einfach sehen? Prallten hier nicht bei ihnen ihre gegensätzlichen Interessen aufeinander? „Da haben beide ein schweres Problem zu lösen“, fand ich und seufzte.
„Ach, was! Mit ein bisschen Vernunft sollte das nicht schwer sein!“, erwiderte Traudel.
„Doch nur, wenn man es wie du von einer Seite aus sieht. Ich bin gespannt, wie sie sich entscheiden werden.“
„Ich auch! Das kannst du glauben. Tschüß denn!“, verabschiedete sich Traudel.
Ich legte das Telefon aus der Hand und fiel zurück ins Kissen. Sofort sprang Julchen zu mir aufs Bett. Während sie sich nun wohlig unter meiner streichelnden Hand streckte, hing ich meinen Gedanken nach. Eigentlich wäre es schön, Susanne mit ihrer Familie wieder in meiner Nähe zu haben. Sie war mir fast zu einer Tochter geworden in der Zeit, als sie in West-Berlin studiert und vorübergehend bei uns gewohnt hat. Das änderte sich auch nicht, als sie sich später mit ihrer ersten Liebe eine „Studentenbude“ nahm. Doch auch als diese Liebe zerbrach, sie sich danach in Robert, einen Medizinstudenten, verliebte und schwanger wurde, kam sie weiter mit ihren Sorgen zu mir. Zuerst quälten sie Zweifel, ob sie das Kind austragen sollte, aber dann redete ihr Robert zu, und sie entschieden sich dafür. Da gab sie ihr Studium auf und begann diese noch kleine heruntergekommene Boutique aufzubauen. Und jetzt sollte sie alles, was sie bisher erreicht hatte, aufgeben? Unrecht hatte Traudel damit nicht, dass es ungerecht sei, wenn ein Mann darauf besteht, sein Fortkommen im Beruf wäre wichtiger als das der Frau.
Wie hätte sich wohl Konrad, mein verstorbener Mann, an Roberts Stelle verhalten? Da brauchte ich nicht lange zu überlegen. Er hätte so eine Frage erst gar nicht aufkommen lassen. Für ihn wäre es selbstverständlich gewesen, dass ich dahin mitgegangen wäre, wo er hinging. Wie sagte Mama immer aus dem Verständnis früherer Zeiten heraus: „Wo der Mann hingeht, da soll die Frau auch hingehen.“ Wie oft hatte ich in unserer jungen Ehe gegen ihre Meinung und auch gegen Konrad aufgebockt.
Drei Jahre waren bereits seit 1987 vergangen, seit dem Jahr, in dem er starb. Doch die Sehnsucht stirbt nicht. Morgens, wenn ich erwachte, brach sie über mich herein. Wie oft musste ich mich tieftraurig erst langsam in den Tag hineintasten. An so einem Morgen sehnte ich mich gleich nach dem Abend. Tränen, die ich längst glaubte, genug geweint zu haben, drängten dann in meine Augen. Wenn Julchen es spürte, sprang sie zu mir ins Bett und scharrte mit ihren Pfoten so lange, bis sie mein Ohr erreichen konnte, um vorsichtig daran zu knabbern. Das war ihre Hundeart, mich zu trösten, wenn ich weinte. Wie gut tat es, in ihr warmes Fell zu greifen. Sie war jetzt mein kleiner Lebenskamerad.
Wie oft dachte ich, irgendwo da draußen vor dem Fenster, vor meiner Tür, vor meinem Haus pulsiert das Leben weiter. Doch fühlte ich mich auch, als hätte es mich vergessen, so sah ich noch gern mit den Augen einer alternden Frau dem Leben zu. Ich war interessiert an allem, machte mir Gedanken darüber und versuchte, selbst das zu verstehen, was ich eigentlich nicht begreifen konnte.
*
In Berlin - später West-Berlin - war ich in der Geborgenheit meines Elternhauses aufgewachsen. Behütet und von schweren Schicksalsschlägen verschont überstanden wir den Krieg. Drei Jahre danach heiratete ich Konrad. Als dann mein Bruder Bruno nach Australien auswanderte, meine Schwester Traudel mit ihrem Mann Karl-Heinz, die Kfz-Werkstatt eines Onkels von ihm in Hannover übernahm und sogar Mama, nach dem Tod unseres Vaters, zu ihnen zog, um ihre Kinder großzuziehen, da dachten Konrad und ich nicht daran, West-Berlin zu verlassen. Wir sind in all den Jahren nicht aus der Stadt fortgegangen, trotz aller Spannungen und Schwierigkeiten, die durch den Konflikt zwischen Ost und West gerade hier spürbar gewesen waren und mir stets erneut Angst gemacht hatten. Erst als Konrad wegen einer Erkrankung vorzeitig in Rente gehen musste, entschlossen wir uns zu diesem Schritt. Viele Westberliner handelten damals so. Sobald sie in Rente oder Pension gingen, verließen sie West-Berlin.
Leben war immer in der Stadt gewesen und die ersten schweren Jahre der Nachkriegszeit waren bald vergessen. Doch die von der DDR errichtete Berliner Mauer blieb allgegenwärtig. War sie für die Westberliner später mit Passierscheinen auch durchlässig, konnten sie auch jederzeit in die Bundesrepublik fahren, so begann jede Fahrt aus der Stadt hinaus mit langen Wartezeiten an den Grenzkontrollstellen der DDR und der stets als bedrückend empfundenen Abfertigung. Dabei wurde man nie das Gefühl los, auf eine gewisse Weise vogelfrei zu sein, so sehr der Westen sich auch bemühte, durch Abkommen mit der DDR den Transitverkehr für die Reisenden zu regeln. Danach folgte die lange deprimierende Fahrt über die Transitstrecke durch die Landschaft der ehemaligen Ostzone, in der sich die Menschen zu verstecken schienen. Nur wenn man mal einen Trabi auf der Autobahn überholte, sah man darin Gesichter, die uns neugierig musterten. Das war nicht viel anders, wenn man mit der Bahn fuhr, die auch nur über vorgeschriebene Strecken die Bundesrepublik erreichen konnte. Nur mit dem Flugzeug, über Luftkorridore, die unter den Siegermächten des Krieges vereinbart wurden, konnte man sich dies ersparen. So kam es, dass immer mehr Menschen, die ihr Arbeitsleben hinter sich hatten und nun reisen wollten, Berlin verließen.
Dabei hatte sich bereits vorher so mancher ein Feriendomizil im Westen besorgt. In kleinen Orten, von Berlin aus gut erreichbar, wuchsen regelrechte Berliner Siedlungen heran. So auch hier im Harz, in dem gemütlichen Ort Neuwied, in den wir gezogen waren. Zu dieser Zeit hatten wir nicht geglaubt, dass die Mauer jemals fallen könnte. Und doch war es im vergangenen Jahr geschehen, im November 1989. Noch waren die Grenzen danach nicht frei, aber leicht zu passieren; noch gab es eine DDR-Regierung, aber das alte System des SED-Staates war zusammengebrochen. Beide über vierzig Jahre getrennten Teile Deutschlands strebten wieder zusammen. Der gesamte Ostblock bröckelte. Stimmen in der Welt, die ein großes, einiges Deutschland gefürchtet hatten, wurden leiser. Schade, dass Konrad das alles nicht mehr miterleben konnte.
So war ich nun allein in dem Haus mit dem schönen Garten, wo mich noch jeder Winkel an Konrad erinnerte. Hier in der guten Luft hatten wir gehofft, es würde ihm besser gehen, hier hatten wir zusammen alt werden wollen. Es war uns nicht vergönnt.
In einer langen Ehe hatten wir zu einer tiefen Verbundenheit gefunden. Was uns jedoch nicht von Anfang an geglückt war. Erst nach Jahren mit Enttäuschungen, mit gegenseitigen Verletzungen, ja, erst nachdem wir fast daran gescheitert wären, war uns dies gelungen. Erst dann, als wir es gelernt hatten, auf den andern einzugehen, uns umeinander zu bemühen, wuchsen wir in einer lebenslangen Liebe zusammen.
Heute kommt es mir manchmal so vor, als würde niemand mehr an eine lebenslange Liebe glauben. Und doch scheint sich jeder danach zu sehnen, nach einem Menschen, der zu ihm gehört. Nur die Geduld miteinander ist wohl verloren gegangen. Wer will sich dem andern noch anpassen? Frauen, die früher dazu gezwungen waren, weil sie in Abhängigkeit von ihrem Mann lebten, wollen sich davon befreien. Sie wollen unabhängig sein, streben danach, eigenes Geld zu verdienen, ein Berufsleben zu führen wie ein Mann. Ob das aber der richtige Weg ist, den die Emanzipation geht, seit sich die Frauen voriger Generationen gegen das Schattendasein hinter den Männern auflehnten? Ich weiß, junge Frauen wollen meine Zweifel nicht hören, weder meine geschäftstüchtige jüngere Schwester Traudel, noch deren Tochter Susanne oder irgendjemand sonst. Hatte ich selbst mich früher nicht dagegen aufgelehnt, wenn Mama den Mann in den Mittelpunkt stellen wollte? Sie hatte, aus ihrer Erziehung heraus, dem Mann, als Ernährer der Familie, stets das letzte Wort überlassen. Nur wusste sie sehr wohl dabei, wie sie mit Diplomatie oder List ihre Interessen durchsetzen konnte, ohne dass er es merkte. Doch welche Frau will das heute noch? Sie fordern: „Mit dem gleichen Recht!“, wie sie es nennen. Welche Zugeständnisse haben sie damit den Männern eigentlich abgeluchst? Manchmal möchte ich die jungen selbstbewussten Frauen von heute fragen: „Seht doch einmal genau hin, wo steht denn der Mann heute? Was habt ihr gewonnen? Wo hat er nachgegeben? Überlässt er euch nicht dieses und jenes nur, wenn es für ihn Nutzen bringt oder bequem ist?“
*
Julchen wurde unruhig. Ich musste aufstehen. Mühsam bewegte ich meine über sechzig Jahre alten schon schmerzenden Knochen. Wirklich wie eine Alte, dachte ich. Man spricht zwar heute vorsichtig von den Übersechzigjährigen - eine höfliche Floskel, die das Wort „alt“ vermeidet, es aber dennoch meint -. Doch wie man es auch nennt, dein Körper und der Spiegel zeigen dir schonungslos dein Alter. Innerlich bist du so, wie du immer warst, und du empfindest so, wie du immer empfunden hast, als wärest du von Jugend an nicht einen Tag älter geworden. Nur hier und da hinterließ das Leben seine Spuren.
Den Spiegel an meinem Bett sollte ich zuhängen. Mich jeden Morgen darin zu sehen, war kein Vergnügen mehr. Der Rücken wurde mir immer runder, der Bauch drängte sich vor und der Busen ruhte sich darauf aus. Bestimmt habe ich wieder zugenommen. Auf die Waage stellte ich mich besser nicht. Gut, dass ich nicht mehr jung war, in dieser Zeit, wo nur Jugend und Schlanksein etwas zu gelten schien. Meine Haare waren noch so blond wie früher - na ja, mit ein bisschen Nachhilfe. Doch die wenigen grauen Strähnen darin fielen nicht auf. Das Schönste an mir schienen die falschen weißen Zähne zu sein. Wenn ich endlich angezogen mit Blusen oder Pullis, die alles verdeckten, mich noch einmal im Spiegel betrachtete, dann leuchteten mir diese Zähne perlweiß entgegen, falls ich es schaffte, mich anzulächeln.
Helmut, mit Siebenundsechzig fünf Jahre älter als ich, ein langjähriger Freund aus der Zeit mit Konrad, lachte jedes Mal darüber, wenn ich an mir herumkritisierte. „Was bedeuten alle Spuren des Alterns? Schau dich um, Kati, wie jugendlich du noch gegen all die andern wirkst. Du hast wirklich keinen Grund zu klagen.“ Und Margot, seine fünfzehn Jahre jüngere Frau, stimmte ihm zu.
Misstrauisch sah ich dann die beiden an. Welch ein Lob, jugendlich und nicht alt zu wirken. Wieso ist eigentlich alles, was jung ist, gut und alles, was alt ist, schlecht? Gehörte zu alt früher nicht auch weise und erfahren und zu jung unerfahren zu sein? Was zählt heute eigentlich noch?
Traudel, meine jüngere Schwester, die noch in den fünfziger Jahren war, kannte diese Gedanken darüber nicht. Zwar war auch sie nicht mehr so gertenschlank wie ein junges Mädchen und hatte hier und da ein ungeliebtes Polster, aber allein in ihrer selbstbewussten Haltung machte sie eine stattliche Figur. Ihre grünblauen Augen nahmen stets flink mit leichter Ungeduld alles in ihrer Umgebung wahr. Mit ihrem dezenten Make-up und den eingeschlagenen roten Haaren, die Strenge nur mit einer in die Stirn gekämmten lockigen Strähne vermindernd, war sie ganz die sich ihrer Wichtigkeit bewusste Geschäftsfrau.
Wie geduldig wirkte daneben ihr Mann, mein Schwager Karl-Heinz, wenn er mit seinem Meisterkittel, der schon ein wenig über dem Bauch spannte, aus seiner Autowerkstatt trat. Wenn Traudel dann auf ihn energisch einredete, fuhr er sich vielleicht über seine dünnen leichtlockigen Haare, durch die schon auf dem Hinterkopf die Kopfhaut schimmerte, antwortete ihr geduldig und umfasste sie stolz mit seinem Blick.
Ich fragte mich früher oft, ob sie sich jemals so zanken konnten wie Konrad und ich am Anfang unserer Ehe. Solange Mama bei ihnen war und ihnen ihre drei Kinder großzog, hat sie nie etwas davon erzählt.
„Mit Karl-Heinz kann man sich ja nicht streiten“, hatte Traudel nach dem Tod von Mama gesagt und darüber geklagt, dazu nun niemanden mehr zu haben. Und das stimmte wohl, war doch Karl-Heinz stets bemüht zu vermitteln. Auch zwischen Traudel und Mama hatte er das oft genug tun müssen.
Hier bei einer geschäftstüchtigen Mutter, einem ruhigen, fleißigen Vater und einer Großmutter, die immer für die Kinder sorgte und für sie Zeit hatte, war meine Nichte Susanne zusammen mit ihren Geschwistern Klaus und Regina aufgewachsen. Manchmal war mir der Verdacht gekommen, dass Traudel auf Mama um der Kinder willen eifersüchtig war. Doch so konnte sie sich völlig dem Geschäft widmen und es war ihr gelungen, aus einer kleinen Kfz-Werkstatt das stadtbekannte „Autohaus Roth“ zu machen.
Vielleicht lag es nicht nur an der ruhigen Art von Karl-Heinz, dass sie sich nicht richtig streiten konnten, sondern auch daran, dass die Arbeit von Traudel und Karl-Heinz mit dem Betreiben dieses Autohauses und der Kfz-Werkstatt auf eine gemeinsame Aufgabe konzentriert war. Wenn sie Erfolg hatten, dann hatten sie das gemeinsam, und wenn es eine Krise gab, so mussten sie die zusammen bewältigen. Das war so, trotzdem Karl-Heinz am liebsten nur in seiner Werkstatt rumwerkelte und Traudel alles sonst Geschäftliche überließ.
Manchmal versuchte Traudel aufzubegehren, Karl-Heinz aber wusste es zu übergehen. Bis, ja bis Traudel nach Mamas Tod durchdrehte. Wohl eine Folge ihrer ausklingenden Wechseljahre. Doch selbst wenn sie unzufrieden mit sich und der Welt Karl-Heinz anschrie, er reagierte nur ratlos darauf. So kam es nie zu einem wirklichen Streit.
Trotzdem hatte uns dann völlig unerwartet Traudels Ausbruch aus einem erfolgreichen und sicheren Leben getroffen, als sie, gerade über Fünfzig, dem Werben eines reichen Fabrikanten nachgab und mit ihm nach Florida flog. Was hatte sie in ihrem Leben vermisst, dass sie wie in Torschlusspanik alles hinter sich lassen konnte. Sie besaß alles, worum andere Frauen sie beneideten: Erfolg, Ansehen, drei gesunde Kinder, die sie bestens von ihrer Mutter versorgt wusste, und einen Mann, der sie bedingungslos liebte. Was war es, was ihr gefehlt hatte und sie alles vergessen ließ? Doch schon nach wenigen Monaten erkannte sie, dass sie mehr aufgegeben als gewonnen hatte. Dem reichen Fabrikanten hatte nur daran gelegen, sie, die stolze, selbstbewusste Frau zu erobern. Bald zeigte er ihr unverblümt, dass er ihr eine Jüngere vorzog. Da kam sie wieder zu sich. Bitter musste sie erwachen. Und sie kehrte heim in ihr Leben und zu ihrem Mann, der nur gelitten und sie nicht eine Sekunde verdammt hatte. Alle bemühten sich danach, so zu tun, als wäre es nie geschehen. Für Uneingeweihte hatte sie eine Geschäftreise nach Amerika gemacht.
*
Aufgewühlt durch das Telefongespräch mit Traudel, waren meine Gedanken in die Vergangenheit gewandert und ich hatte mich in der Erinnerung verloren. Doch nun kehrte ich in die Gegenwart zurück und dachte an Susanne. Sie saß in Berlin und musste so eine schwere Entscheidung treffen. Was Mama dazu sagen würde, war mir klar: „Natürlich geht sie mit Robert mit. Das ist nun einmal so, in einer Familie kann nur einer tonangebend sein, und das sollte der Mann sein. So ist es immer gewesen und darum gab es solche Konflikte nicht.“
So einfach war das früher? Doch wie viele Tränen mögen gerade darum vergossen worden sein, wenn eine Frau sich darein fügte und ihren eigenen Willen unterdrückte. Ich seufzte! Wie gut, dass ich nie vor so einer Entscheidung gestanden habe. Ich machte einen Schritt an das Regal neben meinem Bett, wo Bild neben Bild, die ganze Vergangenheit meines Lebens stand.
Ich nahm das Hochzeitsbild von meiner Nichte Susanne in die Hand. Da stand sie neben ihrem noch vollbärtigen Robert und lächelte zukunftsfroh in die Kamera, den Bauch, der bereits vorgeschrittenen Schwangerschaft, unter einem weiten Hängerkleid verbergend. Doch es war nicht mehr das erwartungsvolle Lächeln eines Mädchens, das bis über beide Ohren verliebt war, sondern das besitzsichere Lächeln einer Frau, die ihr zweites Kind erwartete. Das war kein Brautpaar, die Braut in Kranz und Schleier, sondern hier war ein Paar mit modernen Ansichten zu sehen, die eben einmal kurz beim Standesamt vorbeigegangen waren, weil es ihnen so in den Kram passte. „Unbedingt nötig - nein, das war es wirklich nicht“, meinte man, sie sagen zu hören.
Daneben stand das Hochzeitsbild ihrer Eltern, von meiner Schwester Traudel und Karl-Heinz. Sie war da gerade neunzehn Jahre alt geworden, eine strahlende Braut mit lockigen roten Haaren, in weißer Seide mit einem zum Krönchen gewundenen Myrtenkranz und Schleier. Neben ihr stand stolz Karl-Heinz, der acht Jahre ältere Bräutigam im dunklen Smoking. Wie herrlich war damals dieses Hochzeitsfest gewesen.
Ich blickte von einem Bild zum andern. Was war es, was die beiden so unterschiedlich machte, und dann doch wieder so gleich erscheinen ließ? Waren es die Illusionen, die sich in dem strahlenden Blick meiner Schwester Traudel ausdrückten, mit denen sie in die Ehe ging, genauso wie ich an meinem Hochzeitstag? Und was konnte man aus dem Blick meiner Nichte Susanne lesen, die doch bewusst sagte, solche Illusionen, wie Traudel und ich, wie unsere Generation sie noch hatte, die wollte sie sich erst gar nicht machen? Sie glaubte ja, so natürlich, so realistisch über alles zu denken. Nein, sie machte sich bestimmt nichts vor, Ehe - na gut, aber ohne Ehe wäre es auch nicht anders, meinte sie. Nur wegen der Kinder, wegen der immer noch veralteten gesellschaftlichen Meinung und der Gesetze, hatte sie ja gesagt. Sie hätte lieber allen bewiesen, dass man auch ohne Ehe genauso gut, wenn nicht noch besser miteinander leben könnte. Doch war das nicht auch eine Illusion, nur eben auf andere Art als bei Traudel und mir?
Ich stellte die Bilder zurück zu den andern, zu dem, auf dem Konrad liebevoll lächelte, zu dem, wo sich Mama an Papas Arm festhielt und voller Zuneigung zu ihm aufsah, zu dem, das meinen Bruder Bruno mit Frau und Tochter in Australien zeigte, und zu dem, auf dem die drei noch jungen, übermütig grinsenden Kinder von Traudel und Karl-Heinz zu sehen waren. Da stand meine Nichte Susanne als Älteste, die nun schon eigene Kinder hatte, neben ihrem Bruder Klaus und ihrer kleinen Schwester Regina. Der kleine Nachkömmling Regina fiel auf durch ihre eigenwillig jungenhaft kurz geschnittenen roten Haare. Sie mochte nun einmal keine langen Haare. Als Mama das durchsetzen wollte, hatte sie einfach die Schere genommen und sich selbst einen entsetzlichen Fransenkopf geschnitten. Karl-Heinz hatte sich darüber kaputtgelacht und sie gleich fotografiert, er konnte die Empörung von Mama und Traudel nicht teilen. Sein Liebling, das Nesthäkchen, war ihm recht in ihrer burschikosen Art, wo doch sein Sohn Klaus so ein sensibler, feinsinniger, langhaariger Typ war, gar nicht ein Junge, wie er ihn gern gehabt hätte. Klaus, heute zweiunddreißig Jahre alt, war auch später eine homosexuelle Beziehung mit einem Mann eingegangen. Mit ihm lebte er seit vielen Jahren in München zusammen. Beide arbeiteten dort in einer bekannten Modefirma, Klaus in seinem Traumberuf als Modedesigner. Nur schwer hatte sich Traudel damit abgefunden. Karl-Heinz dagegen meinte, wenn der Junge nur so glücklich werden kann, dann müsse man es hinnehmen. Regina aber, jetzt einundzwanzig Jahre alt, war so, wie es ihm gefiel, sie teilte seine Interessen. Stundenlang konnten die beiden über die neuesten Autotypen fachsimpeln. Sie war eben ganz seine Tochter. Sie hatte gerade bei ihm in der Werkstatt eine Lehre zum Kfz-Mechaniker hinter sich gebracht und wollte unbedingt sobald als möglich ihren Meister machen, denn eines Tages sollte sie das „Autohaus Roth“ übernehmen und weiterführen. Klaus hatte nie Interesse daran gezeigt, und Susanne hatte es bald verloren, als sie ihr erstes Kind bekam und eigenwillig darauf bestand, trotzdem Robert nicht zu heiraten, aber mit ihm zusammenzuleben. Dann hatte sie ihre ganze Kraft und Begeisterung in den Aufbau dieser heruntergekommenen Boutique gesteckt. Manchmal verstand Karl-Heinz Susanne, seine Große, nicht. Doch er würde es ihr nie sagen.
Ich konnte mir denken, was Karl-Heinz dazu sagte, dass Susanne ihre Geschäfte aufgeben und mit Robert hierher ziehen sollte. Wahrscheinlich hob er abwehrend beide Hände, falls Traudel ihn um seine Meinung drängte. „Diese Entscheidung ist schwierig genug, da mische ich mich nicht auch noch ein. Das müssen die beiden allein miteinander ausmachen“, so oder ähnlich würde er sich äußern. Doch dass Traudel sich einmischte, konnte er bestimmt nicht verhindern. In Gedanken hörte ich, wie sie Robert Vorwürfe machte.
Und welcher Meinung war ich? Wenn ich ehrlich war, so hoffte ich, Susanne würde nachgeben und bald wieder in meiner Nähe leben. Ich freute mich auf sie, auf Robert und ihre drei Kinder. Christine, die Älteste davon war temperamentvoll und manchmal eigensinnig mit ihren dreizehn Jahren. Dagegen war Daniela die Ruhige, die sich mit ihren erst zehn Jahren bereits fast mütterlich um ihre dreijährige Schwester Petra kümmerte. Und diese Kleinste konnte recht bockig sein, wenn wieder niemand Zeit für sie hatte. Geheiratet hatten Susanne und Robert erst, als Daniela bereits unterwegs gewesen war. Bei Susanne und Robert war immer Hektik. Schwer fiel es beiden, ihre unterschiedliche Berufstätigkeit mit den Verpflichtungen für die Kinder zu verbinden. So mussten sich die Kinder daran gewöhnen, mal hier und mal da zu sein, bei den Eltern eben nur, wenn diese es einrichten konnten. Ehrgeizig waren sie beide, und Robert als Arzt offensichtlich so erfolgreich wie Susanne in ihrem Geschäft. Wie oft war Margot, die Frau unseres langjährigen Freundes Helmut, eingesprungen und hatte die Kinder zu sich geholt, wenn Susanne wieder einmal nicht wusste, wo sie die drei lassen sollte.
Margot hatte sich dafür entschieden, ihre Berufstätigkeit aufzugeben, um für ihre beiden Kinder, Niklas und Katja, Zeit zu haben. Um Geld brauchte sie sich keine Sorgen zu machen, ihr gehörte von ihrem Vater her die Hälfte der Baufirma „Zumbold“, die Helmut mit ihrem Bruder zusammen leitete. So fand sie nicht nur Zeit für ihre Kinder, sondern auch noch für die Kinder von Susanne. Ich hörte, wie sie einmal zu Susanne sagte: „Was würdet ihr berufsbesessenen Frauen nur ohne uns Nurhausfrauen tun?“ Doch was Margot auch sagte, es klang nie vorwurfsvoll. Stets bemühte sie sich, Verständnis zu zeigen. So verband diese beiden Frauen eine tiefe Freundschaft, obgleich sie nicht nur sehr verschieden waren, sondern zwischen ihnen auch noch ein großer Altersunterschied bestand. Margot war zweiundfünfzig Jahre alt und Susanne vierunddreißig.
Bestimmt würde Susanne versuchen, sich für die Entscheidung bei Margot Rat zu holen. Wozu aber sollte man ihr raten? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie Robert diese Chance in seinem Beruf vereiteln würde. Traudel allerdings sah wohl nur den Nachteil für Susanne. Sie lehnte sich dagegen auf, dass Susanne einfach alles, was sie sich erarbeitet hatte, seinetwegen aufgeben sollte. Traudel und Susanne, Mutter und Tochter, sie waren Geschäftsfrauen durch und durch, darin waren sie sich ähnlich. Weder Traudel noch Susanne konnte ich mir als „Nurhausfrau“ wie Margot vorstellen. Obgleich ich mitunter meinte, für ihre Kinder wäre es besser, die Mutter zu Hause zu haben. Doch Susanne erklärte dann nur, sie sei nicht zum Faulenzen geboren. War das wirklich ihre Meinung, dass Frauen nur faul seien, die der Kinder wegen zu Hause blieben und nicht für eigenes Einkommen und spätere gesicherte Altersversorgung arbeiten gingen? Das allerdings sagte sie nie, wenn Margot in der Nähe war. Denn Margot, das war eben etwas anderes, sie hatte den Wohlstand in die Ehe mit Helmut mitgebracht, sie brauchte sich nicht um ihr Auskommen zu sorgen, so glaubte Susanne. „Aber trotzdem weiß ich nicht, wie Margot es aushält, immer nur zu Hause zu sein?“, fragte sie manchmal nachdenklich.
Julchen kam und stupste mich. „Was ist heute los, Frauchen, ich muss Gassi gehen, hast du das vergessen?“, schien sie sagen zu wollen.
Ich lachte, kehrte in die Gegenwart zurück und machte mich fertig zu unserem ersten Spaziergang am Morgen.
*