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Czytaj książkę: «Ein tiefes Geheimniss», strona 13

Czcionka:

Zweites Kapitel
Eine abermalige Überraschung

Trotz aller Eile, welche Doktor Orridge anwendete, ward es doch ein Uhr nachmittags, ehe seine Berufspflichten ihm gestatteten, sich in seiner einspännigen Chaise auf den Weg nach Mistreß Norburys Haus zu begeben. Er fuhr so rasch, daß er den halbstündigen Weg in zwanzig Minuten zurücklegte.

Der Diener, welcher das rasche Heranfahren der Chaise gehört hatte, öffnete die Haustür in demselben Augenblick, wo das Pferd angehalten ward, und kam dem Doktor mit schadenfrohem Lächeln entgegen.

»Nun,« sagte der Doktor, indem er in das Haus hineineilte, »Ihr wart wohl gestern Abend ein wenig überrascht, als die Haushälterin wiederkam?«

»Ja, Sir, wir waren allerdings überrascht, als sie gestern Abend wiederkam,« antwortete der Diener, »aber noch mehr überrascht waren wir, als sie heute Morgen wieder fortging.«

»Fortging? Ihr wollt damit doch nicht etwa sagen, sie sei nicht mehr hier?«

»Freilich will ich das sagen, Sir. Sie hat ihren Dienst verloren und ist fort für immer.«

Der Diener lächelte wieder, indem er diese Bemerkung machte, und die Hausmagd, welche, während er sprach, zufällig die Treppe herunterkam und hörte, was er sagte, lächelte auch. Mistreß Jazeph hatte augenscheinlich bei dem übrigen Dienstpersonale in keiner großen Gunst gestanden. Doktor Orridge war vor Erstaunen nicht im Stande, weiter ein Wort hervorzubringen. Da der Diener keine weiteren Fragen tun hörte, so öffnete er die Tür des Frühstückszimmers und der Doktor trat herein.

Mistreß Norbury saß in der Nähe des Fensters, in starr aufrechter Haltung und beobachtete unbeugsam das Tun und Treiben ihres kranken Töchterchens über einer Schüssel Hafergrützschleim.

»Ich weiß, was Sie sagen wollen, ehe Sie noch den Mund auftun,« hob die mit der Sprache gerade herausgehende Dame an. »Aber sehen Sie erst das Kind an und sagen Sie, wie es mit diesem steht, ehe Sie auf ein anderes Thema übergehen.«

Der Zustand des Kindes ward untersucht, als ein in rasch fortschreitender Besserung begriffener erklärt und die Kleine dann von der Wärterin fortgetragen, damit sie sich ein wenig niederlegen und ausruhen möchte.

Sobald als die Tür des Zimmers sich geschlossen hatte, redete Mistreß Norbury den Doktor sofort an und unterbrach ihn zum zweiten Male, gerade als er im Begriff stand zu sprechen.

»Nun, Doktor,« begann sie, »ich will Ihnen gleich von vorn herein etwas sagen. Ich bin eine sehr gerechte Frau und zanke mich nicht mit Ihnen. Sie sind die Ursache, daß ich von drei Personen mit der kecksten Unverschämtheit behandelt worden bin – aber Sie sind die unschuldige Ursache und deshalb mache ich Ihnen keinen Vorwurf.«

»Ich weiß in der Tat nicht,« entgegnete der Doktor, »ich weiß wirklich nicht, – ich versichere Ihnen –«

»Sie wissen nicht, was ich meine?« unterbrach ihn Mistreß Norbury. »Ich will es Ihnen sogleich sagen. Waren Sie nicht die ursprüngliche Ursache, daß ich meine Haushälterin als Wärterin zu Mistreß Frankland schickte?«

»Ja,« antwortete der Doktor, denn nun konnte er nicht zögern, dies zuzugestehen.

»Nun gut,« fuhr Mistreß Norbury fort, »und die Folge davon ist gewesen, daß ich, wie ich schon vorhin sagte, von nicht weniger als drei Personen mit beispielloser Unverschämtheit behandelt worden bin. Mistreß Frankland setzt sich eine abgeschmackte Grille in den Kopf und stellt sich, als wäre sie durch die Haushälterin in Schrecken gesetzt worden. Der Gemahl dieser Dame entwickelt eine unverschämte Bereitwilligkeit, auf die Grille einzugehen, und schickt mir meine Haushälterin wieder wie einen falschen Schilling, und drittens, was das schlimmste von allen ist, meine Haushälterin selbst beleidigt mich sobald sie zurückkommt ins Gesicht – beleidigt mich, Doktor, dermaßen, daß ich ihr befehle, binnen zwölf Stunden das Haus zu verlassen. Fangen Sie nicht an, sich zu verteidigen, Doktor! Ich weiß alles; ich weiß, daß Sie mit dem Fortschicken meiner Haushälterin nichts zu tun gehabt haben und ich habe das auch nicht behauptet. Alles Unheil, was Sie angerichtet haben, ist unverschuldetes Unheil. Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, bedenken Sie das wohl, was Sie auch tun mögen, Doktor Orridge, bedenken Sie dies!«

»Ich hatte durchaus nicht die Absicht, mich zu verteidigen,« entgegnete der Doktor, als ihm endlich vergönnt war zu sprechen, »denn ich bin meinerseits ebenso fest davon überzeugt, als Sie Ihrerseits sein können, Mistreß Norbury, daß ich in keiner Weise zu tadeln bin. Ich wollte bloß sagen, daß Sie mich über alles Erwarten in Erstaunen setzen, wenn Sie mir mitteilen, daß Mistreß Jazeph Ihnen mit Unhöflichkeit begegnet ist.«

»Unhöflichkeit!« rief Mistreß Norbury. »Sprechen Sie nicht von Unhöflichkeit – das ist nicht das richtige Wort. Unverschämtheit ist das rechte Wort – die frechste, keckste Unverschämtheit. Als Mistreß Jazeph in jener Chaise aus dem Tigerkopf zurückkam, war sie entweder betrunken oder verrückt. Reißen Sie die Augen auf wie Sie wollen, Doktor; sie war entweder das eine oder das andere, oder auch ein Gemisch von beidem. Sie haben sie gesehen? – Sie haben mit ihr gesprochen – würden Sie wohl sagen, es sei von ihr zu erwarten gewesen, daß Sie Ihnen wild ins Gesicht sehen und in dem Augenblicke, wo Sie mit ihr sprächen, Ihnen geradezu widersprechen würde?«

»Nein, ich würde sagen, daß sie die allerletzte Person in der Welt wäre, von der man sich eines solchen ungebührlichen Benehmens versehen könnte,« antwortete der Doktor.

»Sehr gut. Nun hören Sie, was geschah, als sie vorige Nacht zurückkam,« sagte Mistreß Norbury. »Sie kam gerade hier an, als wir die Treppe hinaufgingen, um uns zu Bett zu legen. Natürlich war ich nicht wenig erstaunt und rief sie in mein Zimmer, um mir die Sache erklären zu lassen. In diesem meinen Verfahren lag sicherlich nichts sehr Unnatürliches, sollte ich meinen. Ich bemerkte, daß ihre Augen geschwollen und rot waren, daß sie ganz auffallend verstört und sonderbar aussah, aber ich sagte nichts, sondern wartete auf die Erklärung. Sie hatte mir aber weiter nichts zu sagen, als daß etwas, was sie unabsichtlich gesagt oder getan, Mistreß Frankland erschreckt, und daß der Gatte dieser Dame sie deswegen auf der Stelle fortgeschickt habe. Ich glaubte dies anfangs nicht, was, wie ich denke, ebenfalls sehr natürlich war – sie beharrte aber auf ihrer Geschichte und beantwortete alle meine Fragen damit, daß sie erklärte, sie könne mir nichts weiter sagen. »Also,« sagte ich, »ich soll glauben, daß nachdem ich mir die Unbequemlichkeit auferlegt, Euch zu beurlauben, und nachdem Ihr Euch die Unbequemlichkeit gemacht, das Amt der Wärterin zu übernehmen, ich mich beleidigen lassen soll, und daß Ihr Euch beleidigen lassen sollt, indem man Euch von Mistreß Frankland noch an demselben Tage, wo Ihr zu ihr gekommen, wieder fortgeschickt, weil sie sich zufällig eine Grille in den Kopf setzt?« – »Ich habe Mistreß Frankland nicht beschuldigt, daß sie sich eine Grille in den Kopf gesetzt habe,« sagte Mistreß Jazeph und stierte mir gerade ins Gesicht, mit einem Blicke, wie ich ihn nach meiner ganzen fünfjährigen Erfahrung noch niemals in ihren Augen gesehen. – »Was meint Ihr?« fragte ich sie, indem ich ihr, wie sie denken konnte, ihren Blick zurückgab. »Habt Ihr so wenig Ambition, die Behandlung, die Euch widerfahren, als eine Ehre zu betrachten?« – »Ich bin so gerecht,« entgegnete Mistreß Jazeph blitzschnell und mich immer noch mit demselben Blicke anstierend, »ich bin so gerecht, Mistreß Frankland nicht zu tadeln.« – »So? Ach, sehr doch!« sagte ich; »dann kann ich Euch weiter nichts sagen, als daß ich die Beleidigung fühle, wenn auch Ihr sie nicht fühlt und daß ich Mistreß Franklands Handlungsweise als die Handlungsweise eines ungebildeten, unverschämten, launenhaften, gefühllosen Weibes betrachte.« – Mistreß Jazeph kommt einen Schritt auf mich zu – sie kommt einen Schritt auf mich zu, ich gebe Ihnen mein Wort darauf – und sagt ganz deutlich und vernehmlich die Worte: »Mistreß Frankland ist weder ungezogen, noch unverschämt, noch launenhaft oder gefühllos.« – »Habt Ihr die Absicht mir zu widersprechen, Mistreß Jazeph?« fragte ich. – »Ich habe die Absicht, Mistreß Frankland gegen ungerechte Beschuldigungen zu verteidigen,« entgegnete sie. – Dies waren ihre Worte, Doktor – ich versichere Ihnen auf meine Ehre, daß dies buchstäblich ihre Worte waren.«

Das Gesicht des Doktors gab das größte Erstaunen zu erkennen. Mistreß Norbury betrachtete ihn mit einem Blick ruhigen Triumphes und fuhr fort:

»Ich geriet in die heftigste Entrüstung – ich gestehe dies unumwunden, Doktor – aber ich beherrschte mich. »Mistreß Jazeph,« sagte ich, »das ist eine Sprache, an die ich nicht gewöhnt bin und die ich nicht aus Eurem Munde zu hören erwartet hätte. Warum Ihr Euch die Aufgabe stellt, Mistreß Frankland zu verteidigen, obschon sie uns beide mit Verachtung behandelt hat, und mir zu widersprechen, weil ich dies rüge, weiß ich nicht und mag es auch nicht wissen. Wohl aber muß ich Euch offen sagen, daß ich von jeder Person, die in meinem Dienste steht, von der Wirtschafterin an bis zur Scheuermagd verlange, daß man ehrerbietig mit mir spreche. Jeden andern Dienstboten in diesem Hause, der sich so gegen mich benommen hätte, wie Ihr Euch benehmt, würde ich auf der Stelle den Dienst gekündigt haben.« – Sie wollte mich hier unterbrechen, aber ich gestattete es nicht. – »Nein,« sagte ich, »jetzt habt Ihr mir noch nichts zu sagen; erst müßt Ihr mich ausreden lassen. Jeder andere Dienstbote, sage ich nochmals, hätte morgen früh dieses Haus verlassen müssen, gegen Euch aber will ich mehr als gerecht sein. Ich will auf Euer fünfjähriges gutes Verhalten in meinem Dienste Rücksicht nehmen. Ich will Euch diese Nacht Zeit lassen, Euch zu besinnen und zu bedenken, was zwischen uns stattgefunden hat. Erst morgen früh werdet Ihr Euch auf angemessene Weise bei mir entschuldigen.« Sie sehen, Doktor, daß ich entschlossen war, gerecht und gütig zu handeln. Ich war bereit, Rücksichten zu nehmen, aber was glauben Sie wohl, was die Person mir entgegnete? – »Ich bin bereit, Sie um Entschuldigung zu bitten, daß ich Sie beleidigt habe, Madame,« sagte sie, »und zwar sofort; mag es aber nun heute Abend oder morgen früh sein, so kann ich nicht dabeistehen und schweigen, wenn Mistreß Frankland beschuldigt wird, sich unfreundlich gegen mich oder sonst jemanden benommen zu haben.« – »Sagt Ihr mir dies mit voller Überlegung, Mistreß Jazeph?« fragte ich. – »Ich sage es Ihnen aufrichtig, Madame,« antwortete sie, »und ich bedauere sehr, daß ich genötig bin es zu tun.« – »O bitte, bemüht Euch nicht, etwas zu bedauern,« entgegnete ich, »denn Ihr könnt Euch als Eures Dienstes entlassen betrachten. Ich werde den Verwalter beauftragen, Euch morgen in aller Frühe anstatt monatlicher Kündigung den gewöhnlichen Monatslohn auszuzahlen, und bitte, daß Ihr dann das Haus so bald als möglich verlasst.« – »Ich werde Ihr Haus morgen verlassen, Madame,« sagte sie, »aber ohne erst den Verwalter zu bemühen. Ich danke Ihnen für die bewiesene Güte, muß mich aber weigern, einen Monatslohn anzunehmen, den ich nicht durch einen Monat Arbeit verdient habe.« – Und mit diesen Worten macht sie ihr Kompliment und geht hinaus. Das ist Wort für Wort, was zwischen uns stattfand, Doktor. Erklären Sie das Benehmen dieser Frau nach Ihrer Weise, wenn Sie können. Ich sage, es ist völlig unbegreiflich, wenn Sie nicht mit mir dahin einverstanden sind, daß sie entweder betrunken oder nicht recht bei Verstande war, als sie vorige Nacht hierher zurückkehrte.«

Der Doktor begann zu denken, daß, nach dem, was er soeben gehört, Mistreß Franklands Argwohn in Bezug auf die neue Wärterin nicht ganz so unbegründet wäre, als er anfangs geneigt gewesen ihn zu betrachten. Er enthielt sich jedoch weislich, die Sache dadurch, daß er seinen Gedanken Worte liehe, noch mehr zu verwickeln, und nachdem er Mistreß Norbury einige unbestimmte höfliche Worte entgegnet, bemühte er sich, ihre Gereiztheit gegen Mr. und Mistreß Frankland dadurch zu beschwichtigen, daß er ihr versicherte, er käme als Überbringer von Entschuldigungen wegen des anscheinenden Mangels an Artigkeit und Rücksicht, dessen sich die jungen Eheleute in Folge unvermeidlicher Umstände schuldig gemacht.

Die beleidigte Dame wollte sich jedoch durchaus nicht begütigen lassen. Sie stand auf und machte mit würdevoller Miene eine stolze Handbewegung.

»Ich kann kein Wort weiter anhören, Doktor,« sagte sie. »Ich kann keine Entschuldigungen annehmen, die indirekt gemacht werden. Wenn Mr. Frankland selbst kommen und wenn Mistreß Frankland sich herablassen will, an mich zu schreiben, dann bin ich bereit, die Sache zu vergessen. Unter allen andern Umständen aber muß ich mir erlauben, meine gegenwärtige Meinung sowohl von der Dame als dem Herrn beizubehalten. Sagen Sie kein Wort weiter und haben Sie die Güte, mich zu entschuldigen, wenn ich Sie verlasse und in die Kinderstube hinaufgehe, um zu sehen, was mein Töchterchen macht. Ich freue mich zu hören, daß es Ihrem Ausspruche nach besser mit ihr geht. Ich bitte, kommen Sie morgen oder übermorgen wieder, wenn es Ihnen paßt. Guten Morgen.«

Mistreß Norburys Benehmen machte dem Doktor in gewisser Beziehung Spaß, in anderer aber berührte der kurze Ton, in welchem sie zu ihm sprach, ihn unangenehm.

Er blieb einige Minuten allein im Frühstückszimmer zurück und wußte nicht recht, was er zunächst tun sollte. Er hatte jetzt fast ebenso viel Interesse daran, das Geheimnis von Mistreß Jazephs außerordentlichem Benehmen gelöst zu sehen, als Mistreß Frankland selbst und auf alle Fälle hatte er keine Lust, in den Tigerkopf zurückzukehren und bloß zu wiederholen, was Mistreß Norbury ihm gesagt, so lange er nicht im Stande war, die Erzählung dadurch zu vervollständigen, daß er Mr. und Mistreß Frankland von der Richtung in Kenntnis setzte, welche die Haushälterin eingeschlagen, nachdem sie das Haus ihrer zeitherigen Dienstherrschaft verlassen.

Nachdem er eine Weile nachgedacht, beschloß er den Diener zu fragen, indem er von demselben zu wissen wünschte, ob seine Chaise bereit sei.

Auf den Ruf der Klingel erschien der Diener und nachdem dieser gemeldet, daß die Chaise bereit sei, fragte Doktor Orridge, während er die Hausflur durchschritt, ihn in gleichgültigem Tone, ob er wüßte, zu welcher Zeit des Vormittags Mistreß Jazeph das Haus verlassen habe.

»Gegen zehn Uhr, Sir,« antwortete der Diener, »als der Botenfuhrmann aus dem Dorfe vorbeikam, der alle Tage wegen des um elf Uhr abgehenden Zuges nach der Station fährt.«

»Dieser nahm wohl ihre Koffer mit?« fragte der Doktor.

»Ja und sie selbst dazu,« sagte der Diener schmunzelnd. »Sie mußte wenigstens dieses eine Mal in ihrem Leben in dem Karren eines Botenfuhrmanns fahren.«

Als der Doktor nach West Winston zurückkam, hielt er an der Eisenbahnstation an, um weitere Erkundigungen einzuziehen, ehe er nach dem Tigerkopfe zurückkehrte. Es waren gerade zu dieser Zeit keine Züge nach der einen oder andern Richtung hin zu erwarten. Der Stationsinspektor las die Zeitungen und der Portier gärtnerte an dem Abhange der Böschung.

»Geht der Zug um elf Uhr morgens nach London oder kommt er daher?« fragte der Doktor den Portier.

»Er geht dahin.«

»Nahm er viel Passagiere von hier mit?«

Der Portier nannte die Namen einiger Bewohner von West Winston.

»Waren weiter keine Passagiere als diese Leute aus der Stadt ?« fragte der Doktor weiter.

»O ja – ich glaube, es war noch eine fremde Person dabei – es war eine Frau.«

»Hat der Inspektor die Billets für diesen Zug ausgegeben?«

»Ja, Sir.«

Der Doktor ging nun weiter zu dem Inspektor.

»Entsinnen Sie sich, heute morgen einer allein reisenden Frau ein Billet für den um elf Uhr nach London gehenden Zug verkauft zu haben?«

Der Inspektor dachte nach.

»Ich habe heute wenigstens an ein halbes Dutzend Frauenspersonen Billets zu verschiedenen Zügen verkauft,« antwortete er zweifelhaft.

»Das glaube ich wohl, ich spreche aber bloß von dem Elfuhrzuge,« sagte der Doktor. »Sehen Sie zu, ob Sie sich besinnen.«

»Ob ich mich besinne? Halt, jetzt fällt mirs ein! – Ich weiß, wen Sie meinen. Es war eine Frau, die in ziemlicher Aufregung zu sein schien und eine Frage an mich richtete, die mir hier nicht oft vorgelegt wird. Ich besinne mich, daß sie ihren Schleier herabgeschlagen hatte und daß sie hierherkam, um mit dem Elfuhrzuge abzureisen. Crouch, der Botenfuhrmann, brachte ihren Koffer in die Gepäckaufgabe.«

»Das ist sie. Wohin nahm sie ihr Billet?«

»Nach Exeter.«

»Sie sagten, Sie hätte eine Frage an Sie gestellt.«

»Ja, sie fragte, was für Gelegenheit es in Exeter gäbe, um von dort nach Cornwall weiter zu reisen. Ich sagte ihr, wir wären hier zu weit von diesem Ort entfernt, um hierüber genau unterrichtet zu sein, und empfahl ihr, sich bei den Leuten aus Devonshire zu erkundigen, wenn sie ans Ende der Reise käme. Sie schien ein schüchternes Frauenzimmer zu sein, welches sich auf der Reise nicht gut zu helfen wußte. Ist etwas nicht richtig mit ihr, Sir?«

»O nein, durchaus nicht,« entgegnete der Doktor, indem er den Inspektor verließ und wieder zu seiner Chaise zurückeilte.

Als er einige Minuten später an der Tür des Tigerkopfes vorfuhr, sprang er aus seinem Wagen mit der zuversichtlichsten Miene eines Mannes, der Alles getan hat, was man von ihm erwarten konnte. Es war leicht, Mistreß Frankland mit der ungenügenden Nachricht von Mistreß Jazephs Entfernung gegenüberzutreten, da er ja nun auf die beste Bürgschaft hin die wichtige ergänzende Nachricht hinzufügen konnte, daß sie nach Cornwall gereist sei.

Drittes Kapitel
Ein Komplott gegen das Geheimnis

Am Abend des Tages nach Doktor Orridges Unterredung mit Mistreß Norbury setzte der unter dem Name »die Druide« bekannte Eilpersonenwagen, welcher durch Cornwall bis Truro ging, bei der Ankunft am Ziele seiner Bestimmung an der Tür des Einschreibebureaus drei Passagiere ab. Zwei dieser Passagiere waren ein alter Herr und seine Tochter, der dritte war Mistreß Jazeph.

Der Vater und die Tochter nahmen ihr Gepäck zusammen und gingen in das Hotel hinein. Die übrigen Passagiere zerstreuten sich mit so wenig Aufenthalt als möglich nach verschiedenen Richtungen hin, nur Mistreß Jazeph stand unentschlossen auf dem Pflaster und schien nicht zu wissen, was sie zunächst beginnen sollte.

Als der Kutscher sich gutmütigerweise bemühte, ihr zu irgendeinem Entschluß kommen zu helfen, indem er sie fragte, ob er etwas für sie tun könne, stutzte sie und sah ihn argwöhnisch an. Dann dankte sie, indem sie sich zu sammeln schien, ihm für seine Freundlichkeit und fragte mit verlegenen Worten und einem Zögern in ihrem Wesen, was dem Kutscher sehr sonderbar vorkam, ob man ihr erlaube, ihren Koffer kurze Zeit in dem Einschreibebureau stehen zu lassen, bis sie wiederkäme, um ihn zu holen.

Nachdem sie Erlaubnis erhalten, ihren Koffer so lange stehen zu lassen als ihr beliebte, ging sie über die Hauptstraße der Stadt, betrat das Trottoir der entgegengesetzten Seite und ging dasselbe entlang bis an die erste Ecke. Als sie hier in eine Nebengasse einbog, warf sie einen Blick rückwärts, überzeugte sich, daß niemand ihr folgte oder sie belauerte, eilte einige Schritte weiter und machte wieder an einem kleinen Laden Halt, der dem Verkaufe von Büchergestellen, Schränkchen, Arbeitskästchen und Schreibepulten gewidmet war.

Nachdem sie erst die über der Tür stehende Aufschrift – Buschmann, Kunsttischler zc. – gelesen, blickte sie zu dem Ladenfenster hinein.

Ein Mann von mittleren Jahren mit heiterem, freundlichem Gesicht saß hinter dem Ladentisch, polierte einen Kleiderhalter von Rosenholz und nickte dabei munter in regelmäßigen Zwischenräumen, als wenn er eine Melodie summte und mit dem Kopfe den Takt dazu schlüge.

Da Mistreß Jazeph keine Kunden in dem Laden sah, so öffnete sie die Tür und ging hinein. Sobald sie darin war, bemerkte sie, daß der heitere Mann hinter dem Ladentisch nicht zu einer von ihm selbst gesummten, sondern von einer Spieluhr ausgeführten Musik den Takt angab. Die hellen perlenden Töne kamen aus einem Zimmer hinter dem Laden und die Melodie, welche die Uhr spielte, war die reizende Arie aus Mozarts Don Juan: »Schlage, schlage, lieber Junge.«

»Ist Mr. Buschmann zu Hause?« fragte Mistreß Jazeph.

»Ja, Madame,« sagte der heitere Mann, indem er lächelnd nach der in das Zimmer führenden Tür zeigte. »Die Musik antwortet an seiner Statt. Wenn Mr. Buschmanns Uhr spielt, so ist er auch selbst nicht weit. Wünschen Sie ihn zu sprechen, Madame?«

»Wenn niemand bei ihm ist.«

»O nein, er ist allein. Soll ich ihm Ihren Namen melden?«

Mistreß Jazeph öffnete den Mund, um zu antworten, zögerte aber und sagte nichts. Der Ladengehilfe wiederholte mit weit mehr Scharfblick und Zartgefühl, als man ihm seiner äußern Erscheinung nach zugetraut hätte, die Frage nicht, sondern öffnete sofort die Tür, welche in Mr. Buschmanns Zimmer führte.

Das Ladenzimmer war sehr klein und von altväterischem Aussehen, mit hellgrünen Tapeten, einem großen, getrockneten Fisch in einem Glasgehäuse über dem Kamin, zwei Meerschaumpfeifen, die nebeneinander an der Wand gegenüber hingen, und einem netten runden Tisch, der so genau als möglich auf der Mitte des Fußbodens stand. Auf dem Tische sah man Teegeschirr, Brot, Butter, eine Büchse Marmelade und eine Spieluhr in einem sonderbaren, altmodischen Gehäuse und neben dem Tische saß ein kleiner rotbäckiger, weißköpfiger, alter Mann von schlichtem Aussehen, der, als die Tür sich öffnete, mit der Miene außerordentlicher Verlegenheit in die Höhe fuhr und die Feder der Spieluhr berührte, damit sie aufhörte, sobald die Arie zu Ende wäre.

»Es ist eine Dame da, die Sie zu sprechen wünscht, Sir,« sagte der heitere Gehilfe. »Dies ist Mr. Buschmann, Madame,« setzte er in leiserem Tone hinzu, als er sah, daß Mistreß Jazeph stehen blieb, nachdem sie in das Zimmer eingetreten war.

»Wollen Sie gefälligst Platz nehmen, Madame?« sagte Mr. Buschmann, als der Gehilfe die Tür geschlossen hatte und hinter seinen Ladentisch zurückgekehrt war. »Entschuldigen Sie die Musik, sie wird sogleich aufhören.«

Er sprach diese Worte mit fremdländischem Akzent, aber vollkommener Geläufigkeit.

Mistreß Jazeph sah ihn aufmerksam an, während er sie anredete und trat einige Schritte näher, ehe sie etwas sagte.

»Hab ich mich denn so sehr verändert?« fragte sie sanft. »Ist die Veränderung, die mit mir vorgegangen ist, eine so sehr traurige, Onkel Joseph?«

»Gott im Himmel! Es ist ihre Stimme – es ist Sara Leeson !« rief der alte Mann, indem er so flink, als ob er wieder ein Knabe wäre, auf sie zueilte, sie bei beiden Händen ergriff und mit einer sonderbaren hastigen Zärtlichkeit auf die Wange küßte.

Obschon seine Nichte durchaus nicht die durchschnittliche Größe einer Frauengestalt überragte, so war Onkel Joseph doch so klein, daß er sich auf die Zehen heben mußte, um die eben angedeutete Begrüßungszeremonie zu bewerkstelligen.

»Mein Gott, also bist du endlich da!« rief er dann, indem er Sara auf einen Stuhl niederdrückte. »Nach so langen Jahren kommt Sara Leeson, um ihren Onkel Joseph wiederzusehen!«

Allerdings noch Sara, aber nicht Sara Leeson,« entgegnete Mistreß Jazeph, indem sie ihre magern, zitternden Hände fest zusammendrückte und, während sie sprach, ihre Blicke auf den Boden heftete.

»Ah, du bist wohl verheiratet!« rief Mr. Buschmann in heiterm Tone. »Natürlich bist du verheiratet. Erzähle mir von deinem Mann, Sara.«

»Er ist tot; er hat den Tod gefunden – Tod und Verzeihung.«

Diese letztern drei Worte murmelte sie flüsternd vor sich hin.

»Ach, da tust du mir leid! Ich fragte dich wohl zu hastig, nicht wahr, mein Kind?« sagte der alte Mann. »Na, laß das gut sein. Nein, nein, ich wollte nicht danach fragen – wir wollen von etwas anderm sprechen. Willst du vielleicht einen Bissen Brot und Marmelade genießen, Sara? Es ist köstliche Brombeermarmelade, die einem auf der Zunge zergeht. Und eine Tasse Tee, nicht wahr? Jawohl, eine Tasse Tee. Und wir wollen nicht von deinen Unannehmlichkeiten und Anfechtungen sprechen – wenigstens jetzt nicht. Du siehst sehr bleich aus, Sara – viel älter als du aussehen solltest – nein, das wollte ich auch nicht sagen – ich will dich durchaus nicht kränken. Ich erkannte dich an deiner Stimme, mein Kind – an deiner Stimme, die, wie dein armer Onkel Max immer sagte, dein Glück hätte machen können, wenn du singen gelernt hättest. Seine Spieluhr geht immer noch. Sieh nur nicht so niedergeschlagen aus! – Horche ein wenig auf die Musik. Kennst du noch diese Spieluhr? Es ist die meines Bruders Max, wie du weißt. Aber wie traurig du aussiehst! Hast du denn die Spieluhr vergessen, welche der göttliche Mozart meinem Bruder mit eigener Hand gab, als Max die Musikschule in Wien besuchte? Horch; ich habe sie wieder in Gang gesetzt. Es ist eine Arie aus einer Oper von Mozart. O wie schön! wie schön! Dein Onkel Max sagte, alle Musik sei in dieser einen Arie inbegriffen. Ich verstehe nichts von Musik, aber ich habe Herz und Ohren und diese sagen mir, daß Max recht hatte.«

Diese Worte mit einer Menge Gebärden und erstaunlicher Zungenfertigkeit sprechend, schenkte Mr. Buschmann seiner Nichte eine Tasse Tee ein, rührte sorgfältig um, klopfte Sara auf die Schulter und bat sie, ihm den Gefallen zu tun, die ganze Tasse sogleich auszutrinken. Als er ihr näher trat, um diese Bitte nochmals zu wiederholen, entdeckte er, daß ihr die Tränen in den Augen standen und daß sie versuchte, unbemerkt ihr Tuch aus der Tasche zu ziehen.

»Achte nicht auf mich,« sagte sie, als sie sah, wie das Gesicht des alten Mannes traurig ward. »Und halte mich nicht für leichtsinnig oder undankbar, Onkel Joseph. Ich kenne die Spieluhr noch recht wohl – ich besinne mich noch auf alles, woran du Interesse fandest, als ich jünger und glücklicher war als ich jetzt bin. Als ich dich das letzte Mal sah, war ich in Not, und heute wo ich wieder zu dir komme, bin ich abermals in Not. Es scheint nachlässig von mir zu sein, daß ich seit so vielen Jahren nicht an dich geschrieben habe, mein Leben ist aber ein sehr trauriges gewesen und ich hatte nicht das Recht, die Last meines Kummers andern Schultern aufzubürden als den meinigen.

Onkel Joseph schüttelte bei diesen letzten Worten den Kopf und berührte die Feder der Spieluhr.

»Mozart muß ein wenig warten,« sagte er ernst, »bis ich dir etwas erzählt habe. Sara, höre, was ich sage, trinke deinen Tee und erkläre mir offen, ob ich die Wahrheit spreche oder nicht. Was sagte ich, Joseph Buschmann, zu dir, als du vor vierzehn, fünfzehn, ach es sind sechzehn Jahre! In deiner Bedrängnis zu mir in diese Stadt und in dieses selbe Haus kamst? Ich sagte damals, was ich auch jetzt wieder sage: Saras Kummer ist mein Kummer und Saras Freude ist meine Freude und wenn jemand Gründe von mir zu wissen wünscht, so kann ich ihm deren drei nennen.«

Er schwieg, um seiner Nichte den Tee zum zweiten Male umzurühren und ihre Aufmerksamkeit darauf zu lenken, indem er mit dem Löffel auf den Rand der Tasse schlug.

»Drei Gründe,« hob er dann wieder an. »Erstens bist du meiner Schwester Kind – von ihrem Fleisch und Blut und folglich auch von dem meinigen. Zweitens haben wir, meine Schwester, mein Bruder und endlich ich selbst, deinem guten englischen Vater alles zu danken. Es ist dies ein kleines Wort, aber es bedeutet viel und kann immer und immer wieder erwähnt werden – alles. Die Freunde deines Vaters riefen: »Pfui! Agathe Buschmann ist arm, Agathe Buschmann ist eine Ausländerin!« Aber dein Vater liebte das arme deutsche Mädchen und heiratete sie trotz dieses Pfui ! Pfui! Die Freunde deines Vaters riefen abermals »Pfui! Agathe Buschmann hat einen Bruder, der Musikant ist, uns allerhand von Mozart vorschwatzt und nicht das Salz in die Suppe verdient.« Dein Vater sagte: »Gut! Sein Geschwätz gefällt mir; ich höre ihn gern spielen; ich werde ihm Schüler verschaffen und so lange ich noch ein Körnchen Salz in meiner Küche habe, soll er auch welches zu seiner Suppe haben.« Die Freunde deines Vaters riefen zum dritten Mal »Pfui ! Agathe Buschmann hat noch einen Bruder, einen kleinen Dummkopf, der bei dem Geschwätz des andern bloß zuhorchen und Amen sagen kann. Schick ihn fort ums Himmels willen, schließ alle Türen zu und schicke wenigstens diesen Dummkopf fort!« – Aber dein Vater sagte wieder: »Nein, dieser Dummkopf hat den Witz in den Händen; er kann schneiden und schnitzen und polieren; man helfe ihm etwas anfangen und dann wird er sich schon selbst helfen.« Nun sind sie alle tot bis auf mich! Dein Vater, deine Mutter, Onkel Max – alle sind sie tot. Nur der Dummkopf ist noch da, um in der Erinnerung zu leben und dankbar zu sein – um Saras Leid als sein Leid und Saras Freude als seine Freude zu betrachten.«

Er hielt wieder inne, um einen Staubflecken von der Spieluhr hinwegzublasen. Seine Nichte wollte sprechen, aber er hielt die Hand empor und drohte ihr scherzhaft mit dem Zeigefinger.

»Nein,« sagte er, »jetzt ist das Sprechen an mir und an dir ist das Teetrinken. Habe ich nicht noch meinen dritten Grund zu nennen? Ach, du wendest deinen Blick von mir ab. Du kennst meinen dritten Grund, ehe ich noch ein Wort sage. Als ich meinerseits heiratete und mein Weib starb und mich mit dem kleinen Joseph allein ließ und als der Knabe krank ward, wer kam da so still, so sauber, so hübsch mit den hellen, jungen Augen und den so zarten, leichten Händen? Wer saß Tag und Nacht bei meinem kleinen Joseph? Wer nahm ihn auf den Arm, wenn sein Kopf müde war auf dem Bett zu liegen? Wer hielt ihm diese Uhr geduldig ans Ohr – ja, diese Uhr, welche Mozarts Hand berührt hat – wer hält sie ihm immer dichter und dichter ans Ohr, während das Gehör des kleinen Joseph stumpf wird und er nach der freundlichen Musik stöhnt, die er von seiner früheren Kindheit an gekannt, der freundlichen Musik, die er jetzt kaum noch hören kann? Wer kniete neben Onkel Joseph, als ihm das Herz zu brechen drohte, nieder und sagte: »O, still, still! Der Knabe ist dahin gegangen, wo eine schönere Musik ertönt, wo keine Krankheit ihn mehr peinigt und kein Gram ihn mehr anrührt.« Wer war dies? Ach, Sara, du kannst diese Tage nicht vergessen. Wenn deine Not bitter und deine Last schwer ist, dann ist es grausam von dir an Onkel Joseph gehandelt, wenn du ihm fern bleibst; aber Freundlichkeit und Güte, wenn du zu ihm kommst.«

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Ograniczenie wiekowe:
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Data wydania na Litres:
06 grudnia 2019
Objętość:
570 str. 1 ilustracja
Właściciel praw:
Public Domain

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