Om mani padme hum

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Über den Autor

Wilhelm Filchner

(1877-1957) schlug zunächst die Offizierslaufbahn ein. Mit 23 Jahren führte er auf eigene Faust und mit dürftigen finanziellen Mitteln versehen einen spektakulären Ritt über Das Dach der Welt durch. 1911-1912 leitete er während der heroischen Ära der Polarforschung die zweite deutsche Antarktisexpedition zum Weddell-Meer, bei der er das Filchner-Schelfeis entdeckte.

Über seine Expeditionen veröffentlichte er zahlreiche Bücher und Reiseberichte.

Dr. habil. Cornelia Liidecke

(geb. 1954) ist korrespondierendes Mitglied der Académie International d‘Historie des Sciences in Paris und leitet die Expertengruppe für Geschichte der Antarktisforschung des Scientific Committee on Antarctic Research. Als Privatdozentin der Universität Hamburg lehrt sie Geschichte der Geowissenschaften und hält zahlreiche Vorträge im In- und Ausland. Ihre Bücher beschäftigen sich hauptsächlich mit der Geschichte der Polarforschung.

Zum Buch

»Wer in Asien vorwärts kommen will, muss sich zu ganz anderer Denkungsart bequemen, als sie dem Europäer geläufig ist. In Asien heißt die Parole sonderbar genug: ›Schnell, aber langsam!‹ Das erste und wichtigste für mich war, mich innerlich darauf umzustellen.«Wilhelm Filchner

Auf seiner zweijährigen Reise durch Zentralasien 1926-1928 durchquert Filchner die Wüste Gobi und Tibet. Dabei legt er 6.000 km zurück und führt an 160 Stationen geophysikalische Messungen durch. Präzise beschreibt er seine Erfahrungen und Schwierigkeiten bei der Reise durch Sumpf, Steppe, Treibsand und über schnee-bedeckte Pässe im Hochgebirge. Beim Kontakt mit anderen Kulturen ist er immer auf eins bedacht: die Verständigung und Freundschaft unter den Völkern und Frieden in der Welt aufzubauen.

Der bayerische Offizier, Forschungsreisende und Reiseschriftsteller Wilhelm Filchner, wurde durch seine Antarktisexpedition von 1911-1912 bekannt, doch entwickelte er schon zuvor ein besonderes Interesse für die Gebiete Zentralasiens. So zieht es ihn 1926 nach seinem Ritt über den Pamir (1900) und der Reise durch China und Tibet (1903-1905) erneut in das Innere Asiens. Mit begrenzten finanziellen Mitteln – vonseiten der Regierung kam keine Unterstützung – erforscht Filchner das Gebiet um den Qinghai-See, führt unterwegs erdmagnetische Messungen durch und macht im tibetischen Kloster Kumbum zahlreiche Foto- und Filmaufnahmen. Zuhause hält man ihn bereits für tot – doch Filchner kehrt 1928 wohlbehalten von der Reise wieder zurück.

DIE 100 BEDEUTENDSTEN ENTDECKER


Wilhelm Filchner

Wilhelm Filchner

Om mani
padme hum

Meine China- und

Tibetexpedition

1926–1928

Eingeleitet von Cornelia Lüdecke

Mit 103 Abbildungen und Skizzen

sowie einer Übersichtskarte


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Es ist nicht gestattet, Abbildungen und Texte dieses Buches zu scannen, in PCs oder auf CDs zu speichern oder mit Computern zu verändern oder einzeln oder zusammen mit anderen Bildvorlagen zu manipulieren, es sei denn mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2014

Der Text wurde behutsam revidiert

nach der Ausgabe Leipzig, 1941, 20. Auflage

Lektorat: Dietmar Urmes, Bottrop

Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag GmbH

nach der Gestaltung von Nele Schütz Design, München

Bildnachweis: culture-images GmbH, Köln

eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0396-0

www.marixverlag.de

INHALT

Einleitung von Cornelia Lüdecke

Vorwort zur 12. Auflage

»Om mani padme hum«

1.Von Moskau bis Chorgos

2.Nach Kuldscha

3.Zum Sairam-nor. Mein wissenschaftliches Programm

4.Tihwa (Urumtschi), der Hauptstadt Sinkiangs entgegen

5.Der Kampf um den Reisepass

6.Zwischen feindlichen Brüdern

7.Lussar. Tage der Krankheit und Not

8.Unprogrammgemäßer Abstecher nach Lantschou

9.Und dennoch ... westwärts. Marsch durch Kriegsgebiet

10.Tankar. Junri-gomba

11.Zum Kuku-nor. Bei den Dogpas

12.Von Pass zu Pass

13.Verlust der Karawane. Nach Dsundja

14.In und um Dsundja

15.Durch das Räubergebiet

16.Zum Dri-tschü

17.Tibetische Vorposten. Über den Dang-la

18.Das Verhör

19.Nach Nga-tschu-ka befohlen

20.Botschaft vom Dalai-Lama

21.Aufregende Verhandlungen

22.Nga-tschu-ka

23.Der Freiheit entgegen

24.Westmarsch. Im Schnee versunken

25.Harte Tage

26.Nach Tschang-ling-körr

27.Hinüber zum Selling-tso

28.Eine kritische Nacht. Schen-tsa-Dsong

29.Im Gebiet der großen Seen

30.Auf Sven Hedins Spuren

31.Auf neuen Wegen zum Teri-nam-tso

32.Nach Se-li-pu

33.Unter Räubern

34.Im Quellgebiet des Indus

35.In Eilmärschen nach Gartok

36.Bange Stunden. In Leh

37.Kaschmir. Srinagar. Am Ziel

38.Über den Himalaja heimwärts

Mein Dank

Literaturverzeichnis

Register

EINLEITUNG

Ende des 19. Jahrhunderts konnte sich noch niemand vorstellen, dass Wilhelm Filchner einmal als Forschungsreisender bekannt würde, dessen Routenaufnahmen und erdmagnetische Vermessung einen bedeutenden Beitrag für die Erschließung noch weitgehend unbekannter Regionen Innerasiens lieferten. Wilhelm, der am 13. September 1877 in München auf die Welt kam, verlor im Alter von vier Jahren seinen Vater Eduard Filchner, einen Mitgründer des Bayerischen Roten Kreuzes. Nachdem sich der Halbwaise in der Schule als ausgesprochener Lausbub erwies und nicht mehr zu bändigen war, wurde Onkel Tambosi aus Südtirol zum Vormund des nunmehr zehnjährigen Knaben bestellt. Der schickte ihn zunächst in ein Pensionat und anschließend in das Bayerische Kadettenkorps. Diese Institution war dem Realgymnasium gleichgestellt und zeichnete sich durch eine straffe Erziehung aus. In dieser Zeit kümmerten sich Thomas Knorr, ein anderer Onkel und Inhaber der Münchner Neuesten Nachrichten (seit 1945 Süddeutsche Zeitung), und dessen Freund und Mitinhaber Georg Hirth um den Jungen. Damals waren das Knorrsche und das Hirthsche Haus beliebte Treffpunkte des Münchner Künstlerlebens, sodass Filchner schon früh mit den renommiertesten Kunstmalern wie Lenbach und Stuck in engen persönlichen Kontakt kam. Obwohl er sich für die Malerei begeisterte und ihm ein unverkennbares Talent attestiert wurde, folgte Filchner dem Wunsch seines Vormunds und schloss als Fünfzehnjähriger mit seinen künstlerischen Ambitionen vollständig ab. Stattdessen konzentrierte er sich nunmehr ganz auf die Militärlaufbahn. Mit dem Reifezeugnis des Kadettenkorps trat er in die Kriegsschule ein, wurde dem 1. bayerischen Infanterieregiment »König« zugeteilt und sechs Monate später zum Degenfähnrich befördert.

 

Neben dem Militärdrill gab es in München auch angenehme Zeiten, insbesondere den Fasching in der sechswöchigen Fastenzeit zwischen Heilige Drei Könige und Aschermittwoch. Da ging man verkleidet auf äußerst vergnügliche Tanzveranstaltungen in Bierhallen, Hotels oder Kunstmuseen. Auf einem solchen Münchner Faschingsball lernte er die russische Pianistin Pia Müller kennen, die ihn einlud, sie daheim im Kirchspieldorf Poelwe bei Dorpat (heute: Tartu) in Estland für ein Studium der russischen Sprache zu besuchen. Daraufhin belegte er in der Kriegsschule prompt einen Grundkurs in Russisch. Tatsächlich bekam er dann einige Wochen Urlaub, um in der russischen Ostseeprovinz seine Sprachkenntnisse zu vertiefen. Die Gelegenheit nutzend dehnte er seine Reise über St. Petersburg, Moskau, Nishni-Nowgorod, Kasan und die Wolga abwärts bis nach Samara aus. In Sewastopol auf der Krim war seine Reisekasse soweit reduziert, dass er über Konstantinopel (heute: Istanbul), Sofia, Belgrad und Warschau nach Berlin zurückkehren musste, wo er schließlich völlig mittellos ankam. Das während der Reise erlebte »sorgenarme Landfahrerleben« gefiel Filchner so gut, dass er künftig immer ausgedehntere Reisen unternehmen würde. Die damit verbundene Geldknappheit sollte ihn meistens dabei begleiten.

Die Lektüre der damals aktuellen Schrift von Graf Yorck von Wartenburg über »Rußlands Vordringen in Asien« anlässlich der Besetzung des japanischen Port Arthur im Gelben Meer und der Einrichtung eines Marinestützpunktes im Nordwestpazifik fesselten sein Interesse, sodass er sich ebenfalls auf eigene Kosten nach Osten wenden wollte. Als ihm im Jahr 1900 ein neuer Urlaub auf drei Monate gewährt wurde, nahm er sich die Überquerung des Pamirs bis zur russisch-indischen Grenze zum Ziel.

Im Alter von 23 Jahren brach er mit dreihundert Mark und Empfehlungsbriefen des russischen Gesandten an den russischen Kriegsminister zum »Dach der Welt« nach Zentralasien auf, das Sven Hedin im Reisebericht über seine erste Expedition (1893–1897) so plastisch beschrieben hatte. 1899 war Hedin zu seiner zweiten Expedition nach Zentralasien aufgebrochen. Zunächst hatte Filchner als junger Abenteurer noch keine wissenschaftlichen Ambitionen, sondern nur die Bewältigung der vorgegebenen Strecke vor Augen. Trotz der Belastung durch die Höhenkrankheit bei der Überquerung von drei bis über 4000 m hohen Pässen kämpfte sich Filchner bis nach Pamirski-Post und dann weiter zum chinesischen Grenzposten Chadariasch durch. Dort traf Filchner zufällig auf die Expedition des britischen Archäologen Auriel Stein, der von Indien kommend auf dem Weg nach Kaschgar war. Durch ihn erfuhr Filchner vom sogenannten Boxeraufstand, der von der chinesischen Provinz Schantung ausging und in der Ermordung des Gesandten der deutschen Reichsregierung, Clemens von Ketteler, am 20. Juli in Peking gipfelte. Spontan entschloss sich Filchner, seine geplante Weiterreise nach Indien abzubrechen, um sich stattdessen als Soldat zum chinesischen Kriegsschauplatz zu begeben. In Kaschgar hoffte er, vom russischen Generalkonsul die benötigten Reisepapiere zu bekommen. Auf abenteuerlichem Weg langte er dort an, musste aber dann erfahren, dass er keinerlei Unterstützung für seine Weiterreise auf dem Landweg erhalten würde. Stattdessen wurde ihm geraten, sich nach Konstantinopel zu begeben, um von dort auf dem Seeweg zum Kriegsschauplatz zu gelangen. Nachdem ihn der dortige deutsche Gesandtschaftsarzt für tropendiensttauglich befunden hatte und er an Bord der »Maria Theresia« gegangen war, wurde er kurz nach dem Ablegen ohnmächtig. Der erste Arzt diagnostizierte Typhus, ein zweiter Malaria und Schwarzfieber, weshalb das Schiff in Quarantäne genommen wurde. Schließlich konnte Filchner über Venedig mit der Bahn nach München zurückkehren, wo er als körperlich völlig gebrochener Mensch ankam. Er brauchte sieben Monaten zur Erholung, und erst nach fünfzehn Monaten traten auch keine Schwächezustände mehr auf.

Kaum genesen bewarb sich Filchner zur Teilnahme an der ersten deutschen Südpolarexpedition (1901–1903), die unter der Leitung des Geographen Erich von Drygalski auf dem Schiff »Gauß« über die Inselgruppe der Kerguelen im Südindischen Ozean zum Südpolarkreis vordringen wollte. Sein Ritt über den Pamir bezeugte zwar, dass er zu sportlichen Höchstleistungen fähig war und sich durchbeißen konnte, seine bisherigen Erfahrungen qualifizierten ihn jedoch keineswegs zum Expeditionswissenschaftler, sodass Drygalski ihn zusammen mit vielen anderen Bewerbern ablehnte.

Filchner hatte die Zeit der Rekonvaleszenz indes genutzt, um die überstandenen Abenteuer in seinem Erstlingsreisewerk »Ritt über den Pamir« niederzuschreiben, das 1903 in Berlin herauskam. Sven Hedin, den Filchner im Hause des Geographen Ferdinand von Richthofen in Berlin anlässlich einer Abendeinladung seiner Studenten kennengelernt hatte, verfasste ein Vorwort. Hedin, der auf seiner ersten Expedition vom Pamir aus durch die Wüste Takla-makan nach Tibet gezogen war, hatte auf seiner zweiten Expedition nach Zentralasien (1899–1902) 2000 km auf dem Fluss Tarim bis zum See Lop-nor zurückgelegt. Den anschließenden Versuch, bis nach Lhasa vorzudringen, musste er jedoch aufgeben. Hedin wurde Filchners großes Vorbild, was seine künftigen Expeditionen, Reisebücher und Selbstdarstellung im Allgemeinen anging.

Nicht nur die übliche Leserschaft von Abenteuerromanen und Reiseberichten lobte Filchners Werk, sondern auch der Chef des Großen Generalstabs der Armee, Graf von Schlieffen, gratulierte ihm zu seinem »hochbedeutenden Buch«, das in militärischen Kreisen sehr beachtet wurde. Bei einer persönlichen Begegnung mit Graf von Schlieffen antwortete Filchner auf die Frage, welche Disziplin in der militärischen Laufbahn ihn am ehesten reizen würde: »Das Vermessungswesen und das Studium fremder Völker!« Der Soldatenberuf und die wissenschaftliche Spezialausbildung sah er als die sich glücklich ergänzende Grundlage an, »vermöge derer ein Forschungsreisender seine Aufgabe erfüllen kann.« (Filchner 1950a, S. 41). Auch Prinzregent Luitpold von Bayern fand Gefallen an Filchners Pamirbericht, sodass er ihn mehrfach zu verschiedenen Geselligkeiten wie auch Tafelrunden zu viert in das Nymphenburger Schloss in München einlud.

Um seinen künftigen Lebensplan ausführen zu können, erweiterte Filchner zunächst seine Ausbildung und hörte sowohl 1901 als auch 1903 als Hospitant an der Technischen Hochschule (heute: Technische Universität München) Vermessungskunde bei Prof. Max Schmidt und Geographie bei Prof. Sigmund Günther. 1902 heiratete Filchner die Münchner Apothekertochter Ilse Ostermaier. Dieser Ehe entstammte die Tochter Erika (später verheiratete Schneider).

Als ihm ein längerer Urlaub von achtzehn Monaten in Aussicht gestellt wurde, begann Filchner mit der Planung einer neuen und diesmal wissenschaftlich ausgerichteten Expedition, die in den Jahren 1903 bis 1905 nach China und Osttibet führen sollte. Er ging nach Berlin, wo ihm sowohl Prof. Richthofen als auch Prof. Gustav Hellmann vom Preußischen Meteorologischen Institut bei den systematischen Vorbereitungen halfen. Deren Empfehlungen ermöglichten es, dass er in der Kartographischen Anstalt von Moisel und Sprigade arbeiten konnte und von Prof. Oswald Venske am Erdmagnetischen Observatorium in der Durchführung von magnetischen Messungen geschult wurde. Außerdem führte ihn Ernst Kohlschütter vom Reichsmarineamt in die astronomische Ortsbestimmung ein.

Für die Expedition stellte sich Filchner drei Aufgaben: »Erstens: erdmagnetische Erforschung von Nordosttibet, zweitens: Auslotung des bislang nur in groben Umrissen bekannten Sees Koko-nor (Qinghai-See, eines der größten Salzseen der Erde), und drittens: Durchquerung eines Gebietes, das sich vom Oring-nor, eines der Zwillingsseen des Matschu (Oberlauf des Gelben Flusses), in Ostrichtung den Matschu abwärts bis zur chinesischen Grenzstadt Sung-p’an-t’ing erstreckt.« (Filchner 1950a, S. 48). Die Anreise bis hin zur Basisstation, unterteilte sich in vier Abschnitte:

1. Fahrt im Hausboot auf dem Han-Fluss,

2. Überschreiten des Ts’in-ling-Gebirges


Filchners Reiseroute zu den Ngoloken durch Zentralasien (1903–1905), Quelle Filchner 1950a, S. 55 (vgl. Literaturangabe)

3. Wagenfahrt auf der großen Straße Si-an-fu – Lan-tschou-fu und

4. Marsch von Lan-tschou-fu nach Si-ning-fu.

Ursprünglich plante Filchner, die Expedition zusammen mit zwei befreundeten Offizierskameraden aus Berlin durchzuführen. Aber seine abenteuerlustige Frau wollte ihn nicht ohne sie ziehen lassen, sondern ihn selbstverständlich bis zur Basisstation an der tibetischen Grenze begleiten. Außerdem riet ihm Prof. Richthofen, die Expedition um seinen Schüler Albert Tafel, einen hervorragenden Geographen und Mediziner zu erweitern, der zusätzlich auch dem Schutze von Filchners Frau dienen könne. Fünf Expeditionsmitglieder würden jedoch die vorgesehene Minimalausstattung der Expedition erheblich erweitern, was die Kosten unnötig erhöhen und aus Filchners Sicht dem wissenschaftlichen Programm keineswegs nützen würde. So war er gezwungen, seinen Freunden schweren Herzens die Teilnahme aufzukündigen, obwohl sie ihn sehr gerne in das zum Teil noch völlig unbekannte Tibet begleitet hätten. Die Expedition wäre sicherlich anders verlaufen, hätte Filchner seine beiden Kameraden als ihm dienstlich untergeordnete Teilnehmer dabei gehabt anstelle des völlig unmilitärisch agierenden Tafel, der als Wissenschaftler Probleme lieber ausdiskutierte, anstatt Befehle ohne zu hinterfragen blind auszuführen. Wie der Geographiehistoriker Hanno Beck treffend bemerkte, waren beide »grundverschiedene Persönlichkeiten, die nicht zueinanderpassten, höchstens getrennt marschieren, aber kaum vereint schlagen könnten. Es wäre besser gewesen, sie wäre nicht gemeinsam gereist.« (Beck 1971, S. 38). Hier zeigt sich ein grundsätzliches Problem, das Filchner auch auf seiner nächsten Expedition begegnen sollte.

Richthofen, der zwischen 1868 und 1872 ganz auf sich gestellt in China sieben ausgedehnte Forschungsreisen durchgeführt hatte, erreichte mit seinem aus eigener Erfahrung sicherlich gutgemeinten Ratschlag allerdings das Gegenteil, denn Filchner (Sternzeichen Jungfrau) verkrachte sich mit dem um nur zwei Monate jüngeren Tafel (geb. 6. November 1877, Sternzeichen Skorpion) zutiefst. Ob Tafel während der Expedition mit Filchners Frau angebandelt hatte – Filchner spricht von einem Bruch des »gentlemen agreement« – sei dahingestellt. Jedenfalls war Filchner bis zu Tafels Tod im Jahr 1935 der Ansicht, dass dieser nie aufgehört habe, gegen ihn zu intrigieren und einen »Hetzfeldzug« zu führen. Aus Filchners kurz vor seinem Tod zusammengetragenen und von Kirschmer 1985 veröffentlichten »Feststellungen« geht hervor, dass das Verhältnis zwischen beiden Tibetforschern aus Todfeindschaft und Rachsucht bestand. Demnach hätte der von krankhaftem Ehrgeiz getriebene Tafel Filchners Fleiß und Ausdauer bei den täglichen Vermessungsarbeiten untergraben wollen und vieles getan, um die wissenschaftliche Ausbeute zu verringern. Dabei berichtete Filchner im Vorwort zu seinem Reisebericht »Rätsel des Matschu« (1907) noch recht positiv über seinen Begleiter, dessen Schneid und Tapferkeit er das Gelingen seines Unternehmens verdanke. Sie hatten in Tibet nicht nur Gefechte mit den räuberischen Ngoloken überstanden, sondern auch Schneefälle, schlechte Wege, schwierige Sumpfstrecken und Zeiten, die von Mutlosigkeit geprägt waren. Tafel erwies sich sogar als treibende Kraft und Seele der Unternehmung, wie es Filchner in seinem ursprünglichen Bericht auch nicht verleugnete. In der zweiten, gekürzten Buchfassung von 1925 (»Quer durch Ost-Tibet«) verschwieg er jedoch Tafels Anteil am Erfolg der Expedition völlig. In den dazwischenliegenden Jahren hatte sich die Feindschaft zwischen beiden Forschern extrem verschärft. Ähnliches kann man auch in seinem Buch »Tschung-Kue (1925) feststellen, in dem Filchner den ersten Teil der Expedition von Shanghai quer durch China zur nordwestlichen Grenzstadt Si-ning-fu beschrieb, wo er die Operationsbasis für die Expedition nach Osttibet einrichten wollte. Unter Mithilfe des noch zu Beginn seiner Karriere stehenden Schriftstellers Paul Gerhard Zeidler publizierte er in diesem Buch neben seinem Reisebericht zusätzlich noch einen auf persönlichen Erlebnissen und gedruckten Quellen basierten Einblick in das alte China, das aus damaliger Sicht kurz vor dem Zusammenbruch stand. Hier widmete Filchner mehrere Kapitel der Grenzstadt Si-ning-fu und der weiblichen Stellung im chinesischen Familienleben in Bezug auf Erziehung, Vermählung, Scheidung und Freitod. Allerdings veränderte er auch hier den Reisebericht dahingehend, dass er seine vom ihm kurz nach der Expedition geschiedene Frau nur sehr nebulös als »eine mir sehr nahestehende Dame« als Begleitung erwähnte, während er nicht umhin kam, Tafel zumindest an einigen Stellen namentlich aufzuführen.

 

Von den persönlichen Querelen einmal abgesehen, durchquerte Filchners Expedition erfolgreich das größte damals noch unbekannte Gebiet Zentralasiens. Mit großer Ausdauer und Beharrlichkeit führte er unterwegs umfangreiche Messungen der magnetischen Deklination, Inklination und Horizontalintensität durch, die selbst durch extreme Witterungsbedingungen nicht unterbrochen wurden. Manchmal zogen sich die Beobachtungen an einer magnetischen Station bis zu zwölf Stunden hin. Dazu kam noch die astronomische Ortsbestimmung mit Hilfe von Stern- und Sonnenhöhenbeobachtungen oder der Messung von Monddistanzen, die fünf bis sieben Stunden in Anspruch nahmen, sowie die Feststellung der Ortshöhe mit dem Siedethermometer und weitere meteorologische Messungen. Daneben wurden auch botanische und zoologische Sammlungen angelegt. Zu den herausragendsten Ergebnissen gehörte die erstmalige Kartenaufnahme des Han-Flusses von einem fahrenden Hausboot aus.


Han-Kiang, in der Stromschnelle nördlich Tsou-ma-t’an (1905), Quelle: Filchner 1925, Tsung-Kue, Bild 7

So konnte die Strecke zwischen Scharakuto und Sung-p’an-t’ing lückenlos aufgenommen werden. Nach allen überstandenen Abenteuern brachte Filchner reichhaltige Messdaten, Sammlungen und tibetische Ethnographica mit nach Deutschland, wo er in Berlin seine Routenaufnahmen der Kartographischen Anstalt von Moisel und Sprigade und die magnetischen und meteorologischen Daten Prof. Georg von Elsner vom Meteorologischen Institut zur Auswertung übergab.

Zentralasien und Tibet blieben weiterhin im Fokus der Forschung. Kaum nach Berlin zurückgekehrt brach Tafel noch Ende 1905 auf eigene Kosten und nur in Begleitung von Einheimischen zu einer dreijährigen Expedition in das chinesisch-tibetische Grenzgebiet auf, die an Filchners Route anschloss. Dabei besuchte er während der Butterfestwoche das nahe Si-ning-fu gelegene Kloster Kumbum, über dessen Geschichte Filchner 1906 den ersten Band seiner wissenschaftlichen Ergebnisse veröffentlicht hatte.

Neben Tafel zog auch Sven Hedin 1905 erneut nach Tibet, durchquerte die Wüste Kewir und überschritt bis 1909 den Transhimalaja zur Erforschung des Quellgebiets von Brahmaputra und Indus acht Mal. August Hermann Francke, ein Herrnhuter Missionar und Tibetologe, der zwischen 1896 bis 1910 Missionsstationen in Leh, Khalatse und Kyelang unterhielt, erforschte 1909 auf einer 2000 km langen Reise noch völlig unbekannte Regionen im westlichen Himalaja und setzte 1910 seine Forschungen weiter fort.


Der diplomatische Vertreter des Klosters Kumbum (1905), Quelle: Filchner 1927, S. 128 rechts

Filchner hingegen pausierte nun mit seinen Reisen. Auf Anregung von Richthofen wurde er vom Truppendienst befreit und bis 1909 für drei Jahre der Trigonometrischen Abteilung der Preußischen Landesaufnahme nach Berlin abkommandiert, damit er an der Auswertung seiner Messungen und Beobachtungen von Land und Leuten mitarbeiten konnte. Neben seinem Reisebericht veröffentlichte Filchner bis 1913 die wissenschaftlichen Ergebnisse in zehn Bänden und fünf Kartenwerken. An seine Zeit in der Trigonometrischen Abteilung schloss Filchner dann eine einjährige Ausbildung als Trigonometer und Topograph im Preußischen Generalstab an.

Statt für die Fortsetzung seiner erdmagnetischen Landesaufnahme wieder nach Zentralasien zu reisen, wechselte Filchner jetzt sein Arbeitsgebiet völlig – vielleicht um einer möglichen Kollision mit Tafel aus dem Weg zu gehen. Das nächstes Ziel sollte die Südpolarregion sein, wohin der Brite Robert Falcon Scott 1910 bekanntermaßen für einen zweiten Vorstoß zum Südpol aufbrechen würde. Damals war noch völlig unklar, ob die Antarktis ein von Gebirgen durchzogener Kontinent war oder ein mit Eis gefüllter Meeresarm, der vom Weddellmeer zum Rossmeer reichte und den Kontinent in einen kleineren Westteil und einen größeren Ostteil trennte. Daraus ergaben sich Filchners Hauptaufgaben, die sich aus ozeanographischen Messungen im Südatlantik während der Anreise, meteorologischen und magnetischen Messungen während der Überwinterung in der Antarktis und geologischen Untersuchungen auf Schlittenreisen zusammensetzten. Um die Finanzierung der Expedition zu sichern, wurde der Verein Deutsche Antarktische Expedition gegründet, der das Expeditionsschiff »Deutschland« kaufte und Filchner als Expeditionsleiter anstellte. Diese Konstellation war sehr ungewöhnlich und auf einem Expeditionsschiff wenig Erfolg versprechend. Außerdem folgte Filchner Drygalskis Rat, Richard Vahsel, den erfahrenen 2. Offizier seiner Südpolarexpedition als Kapitän zu nehmen.

Eine im Sommer 1910 durchgeführte Vorexpedition nach Spitzbergen diente Filchner und seinen fünf Kameraden dazu, während der Überquerung und Kartierung der Hauptinsel von der Advent-Bay bis zur Wiche-Bay die Ausrüstung zu testen und Erfahrungen im polaren Gelände zu sammeln. Nachdem sie aus Platzgründen an Bord des Schiffes, das sie von Tromsø nach Spitzbergen brachte, ihre Ponys nicht mitnehmen konnten, mussten sie sich selber vor ihre schweren Schlitten spannen. Sie plagten sich sehr, als es über das steile und von Spalten überzogene Gletschergebiet ging, denn ihre Ausrüstung war nicht auf Gewichtsersparnis ausgelegt. Dennoch konnten sie unterwegs wie vorgesehen eine Routenaufnahme der noch nicht kartierten Region durchführen und deutsche Namen auf ihrer Karte verewigen.

Schließlich verließ die zweite deutsche Antarktisexpedition auf der »Deutschland« unter großer Anteilnahme der Bevölkerung am 6. Mai 1911 den Kaiserhafen von Bremerhaven. Auf der Reise nach Süden traten schon die ersten Probleme zwischen den Expeditionsteilnehmern auf, sodass einige von ihnen in Buenos Aires das Schiff verlassen mussten. Erst hier kam Filchner selbst an Bord, was sich als sehr ungünstig erweisen sollte. Am 21. Oktober erreichte die Expedition die Walfangstation Grytviken auf Südgeorgien, wo sich Filchner mit dem norwegischen Stationsleiter Carl Anton Larsen anfreundete. Während ihres Aufenthalts führte die Expedition an der ehemaligen deutschen Station des ersten Internationalen Polarjahres (1882-1883) in der Royal Bay magnetische Vergleichsmessungen durch. Außerdem wurden dort mehrere Wochen lang meteorologische Daten aufgezeichnet. Am 11. Dezember brach die Expedition schließlich in Richtung Weddellmeer auf, wo sie am 30. Januar 1912 bei 78° S auf eine etwa 30 m hohe Eisbarriere stieß und das Prinzregent Luitpold-Land entdeckte. Zur selben Zeit hatte Scotts norwegischer Konkurrent Roald Amundsen bereits den Südpol als Erster erreicht. Auch die Expedition des Japaners Nobu Shirase hatte dieses Ziel, gelangte jedoch mangels Erfahrung und geeigneter Ausrüstung auf dem Ross-Schelfeis nur bis 80° 5' S und erforschte die Alexandra Mountains in König-Edward-VII-Land westlich von Amundsens Winterlager. Amundsen kehrte als Sieger heim, während Scott und seine vier Kameraden auf dem Rückweg kurz vor dem letzten rettenden Depot entkräftet starben.

Filchners Expedition war keine triumphale Heimkehr nach seiner Expedition vergönnt. Unglücklicherweise verhinderte eine Springflut die Fertigstellung seiner Überwinterungsstation auf dem sogenannten Stationseisberg in der Vahsel-Bucht. Kurz darauf beobachtete Filchner den Abbruch einer gigantischen Eisscholle, deren Zerbrechen und Abdriften er akribisch in mehreren Skizzen festhielt. Aufgrund seiner topografischen Ausbildung war er der richtige Mann zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort, denn seine Kartierung war einzigartig. Erst durch die Einführung von Satelliten konnten weitere Abbrüche von gigantischen Eisschollen beobachtet werden. Anstelle der Scholle entstand 1912 eine Bucht, die Filchner nach seinem Gönner Herzog Ernst-Bucht nannte. Da nun keine Station mehr eingerichtet werden konnte, wollte Filchner nach Südgeorgien zurückkehren. Allerdings wurde die »Deutschland« schon bald von einer sich rasch bildenden Eisdecke festgesetzt. Am 15. März 1912 begann eine rund neunmonatige Drift durch das Weddellmeer, die durch den sogenannten Weddell-Wirbel hervorgerufen wurde, dem 1915 Shackletons »Endurance« zum Opfer fallen sollte. Während der Drift richteten die Wissenschaftler für das Messprogramm während der Überwinterung auf der Eisscholle neben der »Deutschland« meteorologische und magnetische Stationen ein.

Außerdem wurden durch ein Loch im Eis Meerestiefen gelotet und ozeanographische Messungen durchgeführt. Am 8. August 1912 starb überraschend Kapitän Vahsel, wobei die Todesursache Syphilis allerdings geheim gehalten wurde. Nun rückte der 1. Offizier Wilhelm Lorenzen zum Kapitän auf, mit dem Filchner gar nicht zurechtkam. Dadurch nahmen die Spannungen an Bord erheblich zu. Dann ereignete sich auf dem Eis in der Nähe des Schiffes eine merkwürdige Schießerei, bei der eine Kugel fast das österreichische Expeditionsmitglied Felix König getroffen hätte.

Schließlich löste sich am 26. November die »Deutschland« aus der Eisumklammerung, und Filchner ließ Südgeorgien ansteuern, wo sie am 19. Dezember vor Anker gingen. Hier eskalierten die bereits schon länger bestehenden Feindseligkeiten gegen Filchner und seinen wenigen Getreuen in einer Meuterei. Durch die umgehende offizielle Beendigung der Expedition in Grytviken konnte erreicht werden, dass über diesen Vorfall nichts an die Öffentlichkeit ging. Eine weitere Folge war, dass die wissenschaftlichen Ergebnisse nicht gemeinsam herausgegeben wurden, sondern in verschiedenen Fachzeitschriften erschienen. Filchner selbst veröffentlichte nur sein Reisewerk »Zum sechsten Erdteil«. Die Expedition konnte zeigen, dass zwischen der West- und Ostantarktis kein Meeresarm existierte und dass das Weddellmeer von einer Eisbarriere, dem später nach ihrem Entdecker benannten Filchner Schelfeis, begrenzt wurde. Der Meteorologe Erich Barkow hatte Pionierarbeit geleistet und während der Drift im Eis mit seinen aerologischen Aufstiegen bis in 2500 m Höhe die meteorologischen Bedingungen in höheren Luftschichten über dem Weddellmeer kontinuierlich untersucht. Auch diese Messungen sind einzigartig, denn sie wurden nie mehr über einen so langen Zeitraum wiederholt. Wilhelm Brenneckes ozeanographische Untersuchungen entdeckten im Südatlantik eine vierfache Strömungsschichtung, die am Äquator von einer Oberflächenströmung nach Süden ausgehend mit zunehmender Tiefe jeweils abwechselnd warmes Wasser nach Süden und kaltes Wasser von der Antarktis nach Norden transportiert.