Czytaj książkę: «Schöne Ungeheuer»
Wilfried Steiner
SCHÖNE UNGEHEUER
Roman
OTTO MÜLLER VERLAG
Die Drucklegung dieses Buches wurde gefördert vom Land Oberösterreich sowie von Stadt und Land Salzburg.
ISBN 978-3-7013-1292-4
eISBN 978-3-7013-6292-9
© 2022 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Media Design: Rizner.at
Druck und Bindung: Finidr s.r.o., Český Tĕšín
Covergestaltung: Leopold Fellinger
Covermotiv (Detektor CMS des Large Hadron Collider am CERN):
Wilfried Steiner
Das Firmament klafft entzwei, glühendes Rot sickert durch den Spalt. Ein hohes Pfeifen erfüllt die Luft, für menschliche Ohren kaum zu ertragen. Schlagartig wird es so heiß, dass manche Hirten sich die Kleider vom Leib reißen, weil sie denken, sie würden brennen. Eine von überirdischen Scheinwerfern erhellte Nacht, eine Flut aus lodernder Atmosphäre. Zwischen den versengten Fußsohlen schwappt die Hölle herauf.
Inhalt
ERSTER TEIL: HIMMEL IN FLAMMEN
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ZWEITER TEIL: DIE WELTMASCHINE
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
DRITTER TEIL: DAS GESCHÖPF
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
VIERTER TEIL: WÖLFE IM GOTTESDIENST
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
ERSTER TEIL
EINS
Ich war noch niemals in Sibirien.
Nun kann sich diese Gegend, was ihre Attraktivität betrifft, natürlich nicht mit New York messen, und die meisten Menschen, die das Land noch nie betreten haben, werden es auch nicht besonders vermissen.
Doch in meinem Fall ist das anders.
Jemand, der sich seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, mit einem Ereignis an einem bestimmten Ort beschäftigt, sogar das Ziel (oder den Traum) hat, darüber ein Buch zu verfassen, sollte doch alles daransetzen, diesen Ort aufzusuchen. Noch dazu, wenn es ein Werk werden soll, das wissenschaftlichen Kriterien standhält. Dann müsste doch die Recherche an der Stätte des Geschehenen unverzichtbar sein, nein, mehr als das, der Verfasser müsste einen unstillbaren Drang verspüren, dorthin zu reisen.
Aber nein.
Nicht nur, dass mich schon der Gedanke an die tagelange Anreise zurückschrecken lässt, ganz zu schweigen von der Vorstellung, allein durch die menschenleere Tundra zu streifen – ich habe auch gleich eine schöne Rationalisierung parat: Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass ausgerechnet ich dort etwas Neues herausfinden würde, nach all den professionellen Expeditionen der Vergangenheit. Das entbehrt nicht einer gewissen Logik. Doch dann höre ich meine innere Gegenstimme, und sie verkündet, dass mein geplantes Werk automatisch wertlos wäre, wenn ihm nicht bisher unbekannte, am Schauplatz entdeckte Erkenntnisse zugrunde lägen.
Keine Reise, kein Buch. Die Lähmung ist vollkommen. Und dennoch sammle ich weiter Informationen, die Ordner türmen sich in jeder Ecke meines Arbeitszimmers, keine noch so abseitige Nachricht über mein Thema, die nicht fein säuberlich abgeheftet und zusätzlich in einer von Hunderten Word-Dateien gespeichert wäre.
An Zeit mangelt es mir nicht. Ich arbeite beim Beobachter, einer mittelgroßen Wiener Zeitung, die jeden Tag aufs Neue an ihrem Anspruch scheitert, der österreichische Guardian zu werden. Dort hat man mir mit den Jahren eine gewisse Narrenfreiheit zugestanden. Mein Beruf wird mit einem von jenen zusammengesetzten Begriffen bezeichnet, deren erster Teil Erwartungen weckt, die der zweite nicht erfüllen kann. Wissenschaftsjournalist. Großer Auftakt, enttäuschender Abgang. Wie Theaterkritiker. Literaturredakteur. Oder Musiklehrerin. „Wenigstens“, pflegte Helga zu sagen, „kein Oxymoron wie katholische Frauenbewegung.“ Sie tröstete mich immer, wenn mich das Gefühl beschlich, ein Versager zu sein. „Wer es nicht zum Künstler oder Wissenschaftler bringt“, sagte sie gern, „wird eben Journalist. Daran ist nichts Ehrenrühriges.“ Ich bildete mir stets ein, in dieser Beschwichtigung eine Portion Verachtung mitschwingen zu hören. Dass sie mich schließlich verlassen hat, scheint diesen Verdacht zu bestätigen. Manchmal denke ich, wenn ich das Buch zu Ende geschrieben hätte, wäre sie vielleicht geblieben.
Mein Kollege Herbert Schiller, Ressortleiter für Politik und Wirtschaft, der von allen schlicht Herbert genannt werden möchte, war einst ein Journalist der alten Schule. In dieser Zeit waren wir beinahe Freunde. Doch dann geschah etwas mit ihm. Sei es, weil er plötzlich beschloss, Karriere zu machen, sei es, weil er schlechte Berater hatte: Er rutschte ab und tummelte sich plötzlich in jenem geistigen Biotop, dem heute alle modernen Führungskräfte entsprungen zu sein scheinen, die angetreten sind, dem Kultur- und Medienbetrieb dynamische Impulse zu geben: der fabelhaften Welt des Marketing.
Von dort kommen Menschen, die Worte wie Zielgruppe oder Synergieeffekt aussprechen können, ohne dabei auszusehen, als hätten sie in eine Zitrone gebissen. Sie sagen Sätze wie „leise ist das neue laut“, und der Spiegel, in den sie dabei blicken, zersplittert nicht. Erstaunlicherweise. Sie sitzen in den Vorstandsetagen von Theatern, Zeitungen und Kunstvereinen, erklären den dort vereinzelt noch vorkommenden Dinosauriern, die in Ideen vernarrt sind, dass Inhalt jetzt content heißt, wie man eine corporate identity entwickelt und dass man, sofern man nicht untergehen will, zur Marke werden muss.
Herberts Verhältnis zu mir ist mittlerweile gespalten. Er ist vor nicht allzu langer Zeit zum Feuilletonchef befördert worden und würde fast alles tun, um dem Chefredakteur zu gefallen, denn sein großes Ziel ist es, zumindest sein Stellvertreter zu werden. Dazu braucht er Verbündete, und ich hätte einer sein können. Es entgeht ihm jedoch nicht, dass ich bei manchen seiner Äußerungen während der Redaktionssitzungen den Eindruck erwecke, als müsse ich gerade eine Wurzelbehandlung über mich ergehen lassen, und er versteht nicht, warum ihn sein alter Freund mit einem Mal so viel Abneigung spüren lässt. Ich vermute, dass er sich manchmal wünscht, ich würde die Zeitung verlassen, doch der Chefredakteur ist der Ansicht, ein exzellentes Feuilleton (er spricht es immer aus wie Fauteuil) brauche eine gute Wissenschaftsseite. Ich nehme an, er kennt niemanden außer mir, der diese Arbeit für einen solchen Hungerlohn erledigen würde. Als kürzlich ein Artikel von mir über die zweifelhafte Beweislage der Inflationstheorie im Spektrum der Wissenschaft zitiert wurde, war es nicht einfach, seinen Gesten des Stolzes zu entrinnen. Also musste mir auch Herbert gratulieren.
Meine Beziehung zu Herbert ist getragen von der Wehmut, einen gleichgesinnten Mitkämpfer verloren zu haben, und dem Zorn, Zeuge seines Irrweges zu sein und hilflos zusehen zu müssen, wie er dem Moloch der Vermarktung huldigt.
„Warum kündigst du nicht einfach?“, fragte Helga oft. Ja, warum? Für mich selbst habe ich zwei Antworten: Erstens, mein Kollege kann nichts dafür, dass ich ihn nicht mag. Zweitens, alles wird sich ändern, wenn mein Buch endlich fertig ist.
Helgas guter Freund Manfred, der seinen Lebensunterhalt mit populärwissenschaftlichen Büchern über Psychologie bestreitet (und ja, er beendet sie, eins nach dem anderen), hatte für mein Leiden einen Namen: Prokrastination. Da ich nicht verhindern konnte, dass wir ihn öfters zum Essen zu uns nach Hause einluden, durfte er mir seine Diagnose an meinem eigenen Küchentisch servieren.
„Das unnötige Aufschieben von Projekten, die man sich vorgenommen hat, die ständige Unterbrechung, das Sich-Verzetteln“, dozierte er einmal, „ist weit verbreitet. Und das häufig trotz vorhandener Gelegenheiten und Fähigkeiten, wie bei dir!“ Mir war nicht ganz klar, ob er Wikipedia zitierte oder einen seiner eigenen Psycho-Ratgeber. Ich senkte den Kopf, aber nicht wie ein ertappter Klient, eher wie ein Stier, bevor das Gatter geöffnet wird, und umklammerte die Stoffserviette, um meine Hände von anderen, gesellschaftlich weniger akzeptierten Tätigkeiten abzuhalten.
„Siehst du?“ Helga schaute mich triumphierend an.
Diese Frage fällt mir auch immer ein, wenn ich über Helga und Manfred nachdenke. Ich glaube nicht, dass sie in ihn verliebt war. In meiner Deutung war er genau das: ein Siehst-du-Freund, der immer dann herhalten musste, wenn Helga wieder einmal an meiner Therapieresistenz verzweifelte. Siehst-du-Freunde oder -Freundinnen sind in Beziehungen von enormer Wichtigkeit, man kann sich nach ihren verständnisinnigen Worten zurücklehnen, den Partner schweigend betrachten und hoffen, dass der unabhängige Blick von außen einen Veränderungsprozess in Gang setzt. Solche Zeilen würde ich schreiben, sollte ich jemals einen Ratgeber publizieren müssen, wovor mich das Schicksal bewahren möge.
Am 30. Juni 1908 gegen 7:15 Uhr Ortszeit fand im sibirischen Jenisseisk in der Nähe des Flusses Steinige Tunguska ein Ereignis statt, das die Welt so noch nicht gesehen hatte. Augenzeugen berichteten von mehreren hellen Lichtblitzen, einem blauweiß leuchtenden Objekt, das vom Himmel fiel, einem Sternschnuppenregen bei Tag, mehreren (bis zu vierzehn) Explosionen, die noch in fünfhundert Kilometern Entfernung wahrgenommen werden konnten, ebenso wie gleißende Feuersäulen. Ein alter Mann erzählte von einem steten Brummen, das immer lauter geworden und schließlich zu einem Grollen und Scheppern angeschwollen sei. Der Sternregen wurde immer intensiver und ließ die Sonne verblassen. Dann folgten die Blitze, so hell, dass nichts mehr sichtbar war außer dem Licht, gefolgt von einem ungeheuren Knall und einem Beben, das die Erde durchlief. In einem Umkreis von tausend Kilometern hörte man die Explosion, seismologische Stationen in Irkutsk, Tiflis, Jena und sogar in Washington und Potsdam zeichneten Erschütterungen auf. Es zeigte sich, dass die Druckwelle den Globus einmal umrundete. Ein ähnliches Phänomen gab es nur 1883 bei der Eruption des Krakatau. Über die Stärke der Detonation scheiden sich die Geister. Russische Wissenschaftler errechneten, dass sie der Energie von tausend Atombomben des Hiroshima-Typs entsprochen haben müsste.
Auf einer Fläche von über zweitausend Quadratkilometern wurden Schätzungen zufolge sechzig bis achtzig Millionen Bäume entwurzelt. Überraschenderweise waren im Epizentrum die Bäume zwar verkohlt, aber nicht umgeknickt. Aufrecht und schwarz hatten sie dem Feuersturm widerstanden, während ihre Zweige und Blätter binnen Sekunden verglüht waren.
Da die Region dünn besiedelt war, gibt es keine verlässlichen Opferzahlen. Manche sprechen von Hunderten verbrannten Rentieren, von Hirten, die samt ihren Zelten durch die Luft geschleudert wurden. Eine Quelle berichtet von zwei getöteten Menschen. An anderer Stelle heißt es: „Jemand brach sich den Arm, es gab einige blaue Flecken, und ein alter Mann starb vor Schreck. Ein günstigeres Verhältnis von Ausmaß der Katastrophe zu Anzahl der Verletzten wird man lange suchen müssen.“
In den folgenden drei Nächten war der Himmel hell erleuchtet, nicht nur am Ort des Geschehens, sondern weit darüber hinaus. Im fernen London konnte man mitten in der Nacht Zeitung lesen, im schottischen St. Andrews absolvierten einige stoische Golfspieler um drei Uhr früh ohne zusätzliche Beleuchtung ihre Runden.
Die naheliegende Erklärung für all diese Phänomene wäre der Aufprall eines schweren Meteoriten oder Asteroiden. Doch das musste man erst beweisen.
Manfred vertrat die Meinung, meine Fixierung auf den alten Knall, wie er das Ereignis nannte, hänge mit einem verdrängten Erlebnis in meiner Kindheit zusammen. Irgendetwas ganz Frühes, Schreckliches, das sich der kleine Bub nicht erklären konnte und das sein Vertrauen in die Welt quadratkilometerweit einknicken ließ. „Die plötzliche Abwendung der Mutter“, sagte er leise, als könnte mich die unerbittliche Wahrheit seiner Worte aus der Bahn werfen, „kann bei einem Kleinkind zu einer Todeserfahrung werden. Als Erwachsener suchst du nun auf einer verschobenen Ebene nach einer Erklärung für diesen Schock.“ Er lehnte sich zurück und legte die Fingerkuppen aneinander. Mein Blick suchte das scharfe Steakmesser, es lag in Reichweite, doch am Ende siegte wie immer die Vernunft und Manfred behielt seine Finger.
Helga betrachtete mich in solchen Momenten mit einer Mischung aus Empathie und Ungeduld. Einerseits war ich der bemitleidenswerte, schon als Baby traumatisierte Neurotiker, andererseits der renitente Starrkopf, der sich weigerte, Hilfe anzunehmen. Helga durfte auf eine wohlbehütete Kindheit zurückblicken, stets war sie von verständnisvollen Eltern verhätschelt und gefördert worden, und das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Selbstbewusst, bildschön und klug, wie sie war, wurde sie von allen auf Händen durchs Leben getragen. Schon mit dreißig war sie leitende Chemikerin in einem angesehenen Konzern. Durch ihre regelmäßigen Besuche in allen möglichen Fitnesszentren sah sie fünfzehn Jahre jünger aus als ich, obwohl der Altersunterschied nur fünf Jahre betrug. Einzig bei der Partnerwahl hatte sie danebengegriffen.
Was genau der Grund war, warum sie mich letztlich verließ, darüber kann ich nur spekulieren. Ich hätte es in unserem sogenannten letzten Gespräch gerne herausgefunden, doch für Helga war alles so klar gewesen, dass sie es für unnötig gehalten hatte, ihre Motive im Detail vor mir auszubreiten.
„Aber du weißt es doch, Georg“, hatte sie gesagt.
Nachdem sie ausgezogen war, wartete ich auf den großen emotionalen Einbruch. Doch er kam nicht. Zwar vermisste ich sie in manchen Momenten; der tiefe Abgrund jedoch, in den ich zu stürzen fürchtete, tat sich nicht auf. Vielleicht ein weiterer Beweis für meine mangelnde Gefühlstiefe.
Möglicherweise hing es damit zusammen, dass meine innere Grundhaltung, für den Rest der Welt – aber besonders für Helga – eine Zumutung zu sein, sich allmählich auflöste. Oder nein, das stimmt nicht ganz. Ich saß abends auf dem Balkon, eine Zigarette in der Hand, ein Glas Wein vor mir auf dem Campingtisch, und empfand mich immer noch als Zumutung. Aber nur für mich selbst.
Manfred hätte das sicher als eine besonders perfide Form des Narzissmus interpretiert. Doch er war weg. Nie wieder musste ich ein Steak vor ihn hinstellen, mit dem gequälten Lächeln des Gastgebers wider Willen.
Nur Helgas Parfum in den Polstern hielt sich lange, gegen alle Naturgesetze.
Eine Art zerbrechliche Selbstgenügsamkeit stellte sich ein. Sollten die Tage doch hingehen, wie sie wollten.
Die große Veränderung stellte sich erst ein, als Herbert mich mit verschwörerischer Miene in sein Büro bat. Das war unüblich. Ging es etwa um so lebenswichtige Angelegenheiten wie einen Relaunch des Layouts?
Weit gefehlt.
Alles fing an.
ZWEI
Die ersten Forschungen am Schauplatz begannen erst neunzehn Jahre später.
In einer alten sibirischen Zeitung, die ihm 1921 zufällig in die Hände fiel, entdeckte der Meteorologe und Meteoritenforscher Leonid Alexejewitsch Kulik einen Bericht, der seine Neugier entfachte: Er las über eine rätselhafte Himmelserscheinung. Im Jahr 1908 sei in der Nähe der Ortschaft Kansk in Ostsibirien ein riesiger Brocken auf die Erde gestürzt. Es gebe zahlreiche Zeugen. Sogar Passagiere der Transsibirischen Eisenbahn, deren Trasse Hunderte Kilometer vom Einschlagsort entfernt verlief, hätten ein Zittern der Schienen und ein Schlingern der Waggons wahrgenommen. Einige sprachen von einem rotglühenden Objekt, das aus dem Boden der Taiga ragte. Professor Kulik wusste sofort, was geschehen war.
Im Herbst 1921 brach er auf, die Zeitung im Gepäck. Mit der Transsibirischen Eisenbahn reiste er durch den Ural und über Krasnojarsk 4800 Kilometer weit bis nach Kansk. Was er fieberhaft suchte, waren ein Einschlagkrater und Spuren des Meteoriten in der Erde. Er sprach mit zahllosen Einheimischen, notierte jeden noch so geringen Hinweis, verteilte Fragebögen und untersuchte den Boden Quadratmeter für Quadratmeter.
Doch da war nichts. Hatte er sich geirrt? Davon wollte er nichts wissen.
Er stöberte in Archiven und fand weitere Zeitungsberichte. Daraus schloss er, dass er sich am falschen Platz befand. Sechshundert Kilometer zu weit südlich. Der Himmelskörper musste woanders eingeschlagen sein, in der Nähe des Flusses Steinige Tunguska.
Nach seiner Rückkehr in die Hauptstadt sprühte er vor Enthusiasmus. Nichts auf der Welt würde ihn davon abhalten, eine Expedition zu diesem Ort auszurichten.
Außer den Behörden.
Obwohl er einen angesehenen Posten am Mineralogischen Museum in Petrograd bekleidete und wegen seiner revolutionären Aktivitäten gegen den Zar über einen guten Ruf im Sowjetstaat verfügte, schlug seinem Vorhaben Misstrauen entgegen. Die Akademie der Wissenschaften reagierte zurückhaltend. Was sollte das sein, ein Meteoriteneinschlag in der Taiga, von dem man in Moskau oder Petrograd noch nie etwas gehört hatte? Außerdem misstrauten die Professoren den rückständigen Naturvölkern in der Region, ihren seltsamen Schamanen, die mit Hilfe von Fliegenpilzen durch die Zeit reisten und ihre Ahnen besuchten, ihren Naturreligionen, die sie auch in der atheistischen UdSSR weiter pflegten. Mit amanita muscaria im Blut ist es nicht so abwegig, Feuerbälle durch die Luft fliegen und rotglühende Trümmer in der Erde stecken zu sehen.
Doch Leonid Kulik war kein Mann, der leicht aufgab. Als leidenschaftlicher Lyriker wusste er, dass man seinen Inspirationen trauen musste. Seine Besessenheit ebnete ihm schließlich den Weg. Einige einflussreiche Wissenschaftler, angesteckt von seiner Begeisterung, setzten sich für ihn ein, und die Akademie bewilligte das Projekt doch noch.
Im März 1927 startet die Expedition. Es ist die Zeit der Schneestürme, nur mühsam kommen die Pferdeschlitten voran. Erst Wochen später erreichen sie ihre erste Station: das Handelsdorf Wanawara. Hier sollen die Druckwellen Häuser abgedeckt, Fenster und Türen eingedrückt haben. Entfernung vom geschätzten Epizentrum: fünfundsechzig Kilometer. Wieder beginnt er mit seinen Befragungen. Die Menschen erweisen sich als wenig hilfsbereit, fast als hätten sie Angst, dass sie das Unglück erneut heraufbeschwören könnten, wenn sie darüber sprächen. Sie erzählen vom Feuergott Agdy oder Ogdy, der vom Himmel herabsteigt, wenn man ihn verärgert.
Doch immerhin erfährt Kulik, dass der Hauptort der Verwüstung weiter nördlich liegt. Rentierhirten vom Volk der Tungusen hätten die Explosion aus nächster Nähe beobachten können. Kulik und sein Tross ziehen weiter nach Norden. Auch die Tungusen sind misstrauisch und halten sich bedeckt. Mit viel Verhandlungsgeschick schafft es Kulik, einen alten Hirten als Vertrauten und Führer zu gewinnen. Der erzählt ihm, was er erlebt hat:
„Ich stand“, sagt er, „in einer grell erleuchteten heißen Nacht.“ Später habe er die blauweiß leuchtenden Fäden am Himmel gesehen, wie Leuchtspurraketen, nur viel, viel heller. Es sei wie ein langsamer Sternregen, ein Sternschnuppenregen bei Tag gewesen. In einem Moment sei es ihm erschienen, als husche ein ungeheures Licht über die Sonne, das sie für einen Augenblick überblendete. Am Ende seien Blitze aufgeflammt, gefolgt von hellem Donnern, das ihm beinahe das Trommelfell zerrissen hätte.
Gemeinsam erreichen sie den Flusslauf der Steinigen Tunguska, zäh geht es voran, stromabwärts. Mit jedem Tag wird Leonid Kulik unruhiger. Sie müssen dem Zentrum der Katastrophe nun ziemlich nahe sein. Doch weit und breit ist nicht die winzigste Spur eines Kraters zu sehen. Im April entdeckt er in einem Seitental an die tausend umgeknickte Bäume, ihre Spitzen zeigen alle in dieselbe Richtung. Kein Zweifel, die Druckwelle des Meteoriten hatte sie niedergemäht. Mit ihren Packpferden kämpfen sie sich nordwärts. Mittlerweile ist es so kalt, dass Vögel im Flug erfrieren und vom Himmel fallen. Kulik findet eine Stelle, an der Hunderte Lärchen und Birken entwurzelt worden sind. Diesmal zeigen ihre Stämme in alle Richtungen. Doch auch hier gibt es keinen Krater.
Nach mehreren Wochen, gezeichnet von Schwäche und Krankheiten, stoßen die Forscher auf ein besonders stark zerstörtes Gebiet. Langsam bekommt Kulik eine Ahnung, welches Ausmaß das Ereignis neunzehn Jahre zuvor gehabt haben muss. Und er entdeckt etwas, das ihn verblüfft: Mitten im Kreis der Verwüstung stehen einige Bäume aufrecht. Ihre Äste und Blätter sind verschwunden, das Feuer hat ihre Rinde geschwärzt. Wie geteerte Telegrafenmasten ragen sie zum Himmel. Näher vermag man der Stätte des Einschlags nicht zu kommen.
Wie kann es sein, dass selbst hier keine Spuren eines Impaktors zu sehen waren?
Trotzdem ist Kulik davon überzeugt, dem Beweis für seine Meteoritentheorie ganz nahe zu sein. Doch er muss das Unternehmen vorerst beenden, die Vorräte werden knapp.
Im Herbst 1927 treffen Kulik und seine Mitreisenden in Leningrad ein. Er kommt mit leeren Händen und befürchtet ein Ende des Geldflusses der Akademie. Zu seiner großen Überraschung lösen seine Berichte aber nicht nur in Russland, sondern auch in London und New York ein gewaltiges Medieninteresse aus. Von Forschungsstationen der ganzen Welt treffen Messdaten und Aufzeichnungen von seismischen Wellen aus dem Jahr 1908 ein, die bisher niemand zuordnen konnte. Kulik hält Vorträge und fesselt sein Publikum mit einem apokalyptischen Szenario:
„Wäre der Meteorit um nur vier Stunden und achtundvierzig Minuten früher niedergegangen“, sagt er, „so hätte im Explosionszentrum das damalige St. Petersburg gelegen und niemand weiß, was dann davon übriggeblieben wäre.“
Die Akademie finanziert eine neue Expedition, sie dauert mehrere Monate, doch Kulik findet nichts Neues. Er weiß nun: Er muss es mit Tiefenbohrungen versuchen. Irgendwo unter der sibirischen Erde liegen Bruchstücke des Himmelskörpers, das weiß er ganz genau! Er kehrt nach Leningrad zurück; mit dem Mut der Verzweiflung rüstet er eine weitere Erkundungsreise in das Absturzgebiet aus. Mit den besten Bohrern, die die damalige Technik zu bieten hat. Es gelingt ihm, mit diesen Geräten bis zu vierunddreißig Metern Tiefe vorzudringen. Und er entdeckt: nichts. Nichts von dem, was er finden hätte müssen, wenn es schon keinen Krater gibt – vermehrte Eisen-, Nickel- und Iridium-Vorkommen. Die klassischen Bestandteile eines Geschoßes aus dem All.
So unermüdlich er auch gräbt: nichts.
Er bricht ab.
Niedergeschlagen und ausgezehrt trifft er in Moskau ein. Nun erheben die Kritiker ihre Stimmen: Man könne an der Meteoritentheorie nicht länger festhalten. Es müsse ein Komet gewesen sein, der einige Kilometer oberhalb des Bodens detoniert sei. Ein Komet würde sowohl die Beobachtungen des „Feuerballs“ erklären, als auch die Tatsache, dass keine Impaktorspuren auffindbar seien, da er ja vor dem Aufschlag explodiert sei. Kulik lässt sich davon nicht überzeugen. Die neue These, so findet er, ignoriere die Brandspuren an den Bäumen.
1938 beauftragt er ein Unternehmen, Luftbilder der Region aufzunehmen. Die Fotos sind wunderschön, die Zone der Verwüstung hat die Form eines Schmetterlings. Wissenschaftlich aussagekräftig sind die Ergebnisse nicht.
1941, nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion, meldet sich Leonid Alexejewitsch Kulik zu einer Reservetruppe. Er gerät in deutsche Kriegsgefangenschaft und wird in ein Lager bei Spas-Demensk deportiert.
Am 24. April 1942 stirbt er dort an Typhus.
Sein Rätsel ist noch immer nicht gelöst.