Gleichheit oder Freiheit?

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Gleichheit oder Freiheit?
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Dem Gedenken an die großen Schweizer

St. Nikolaus von Flüe


Rudolf I.


Henri Frédéric Amiel

Johann Jacob Bachofen

Johann Caspar Bluntschli

Carl J. Burckhardt

Johann Jacob Burckhardt

Benjamin Constant de Rebecque

Jeremias Gotthelf

Carl Ludwig von Haller

Friedrich Emanuel von Hurter

Gonzague de Reynold

Philipp von Segesser

Rudolf Toepffer

Alexandre Vinet

Erik v. Kuehnelt-Leddihn

GLEICHHEIT oder FREIHEIT?

DEMOKRATIE – EIN BABYLONISCHER

TURMBAU?

Umschlaggestaltung: DSR Werbeagentur Rypka GmbH, 8143 Dobl/Graz, www.rypka.at

Umschlagabb. Vorderseite: pxhere.com(CCO 1.0)

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Textnachweis: Es handelt sich bei diesem Buch um eine unveränderte Neuausgabe von Kuehnelt-Leddihns „Gleichheit oder Freiheit? Demokratie – ein babylonischer Turmbau?“ (Tübingen, Zürich u. Paris 1985). Beigegeben wurde eine Information „Über den Autor“ mit einem Auszug aus Kuehnelt-Leddihns „Die rechtgestellten Weichen. Irrwege, Abwege und Auswege“ (Wien 1989).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter https://www.dnb.de abrufbar.

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ISBN 978-3-99081-011-8

eISBN 978-3-99081-044-6

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Layout: DSR Werbeagentur Rypka GmbH

INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT

EINLEITUNG Gleichheit oder Freiheit: Klärung der Begriffe

DIE PROPHETEN DES TOTALITARISMUS

1.Die Denker des neunzehnten Jahrhunderts

2.Der Gleichheitswahn

3.Demokratie und Unfreiheit

4.Die Weissagungen der Jahrhundertmitte

5.Der Leviathan

6.Das Zeitalter des Kollektivismus

7.Die Propheten der russischen Gefahr

8.Das Zukunftsbild

EINE KRITIK DER DEMOKRATIE

1.Das Grundproblem

2.Demokratie und Ethik

3.Schwierigkeiten und Illusionen

4.»Self-Government«

5.Die Ethik der Volksvertretung

6.Wissen

7.Schatten der Tyrannis

8.Weitere Fragen

PROBLEMATIK DER GEGENWART

Ein Dialog über die Demokratie oder Die Demokratie vom Mars betrachtet

Demokratisierung – holder Wahn oder Verzweiflungsschrei?

Scita und Scienda

Prokrustes oder Der Versorgungsstaat

Die Sozialdemokratie: Sinn, Ursinn und Unsinn

Terrorismus heute

Die gesichtslose Geschichtslosigkeit

Die nützlichen Idioten

Der Anti-Ideologismus

EIN BLICK IN DIE ZUKUNFT

ANMERKUNGEN

PERSONENVERZEICHNIS

Vorwort

Das Wahre war schon längst erfunden,

Hat edle Geisterschaft verbunden:

das alte Wahre – faß’ es an!

Goethe.

Dieser Band beinhaltet wesentlich einen Teil meines 1952 in England, in den Vereinigten Staaten und 1953 deutsch erschienenen Werkes Freiheit oder Gleichheit? Andere Auswahlen erschienen in Spanien und Italien. Ungefähr die Hälfte dieses Buches enthält Aufsätze mit derselben Thematik, die für den Leser schwer greifbar sind. Zu einer Ausgabe dieser Schriften habe ich mich auch schon deswegen entschlossen, weil meine neueste große Studie, Die falsch gestellten Weichen. Der rote Faden 1789–1984 (H. Böhlau: Wien–Köln 1985), unsere Probleme eher historisch behandelt und dieser Ergänzung dringend bedarf. Zwar haben sich die Zeiten geändert, aber in den unmittelbaren Nachkriegsjahren erlebten wir im Herzen Europas wieder einmal ein Wunder der Dressur: die vor dem Ersten Weltkrieg noch der Monarchie sich verbunden fühlenden Völker unterwarfen sich unter dem Eindruck ihrer Niederlage widerstandslos der Ideologie der Siegermächte. Man praktizierte nach 1918 die Demokratie, doch wie Plato vorausgesagt hatte, verwandelte sich diese nach frühem Bankrott in eine blutrünstige, auf kriegerische Abenteuer erpichte Tyrannis. In Rußland wickelte sich dieser Prozeß sogar in acht Monaten ab.

Nach dem Zweiten Weltkrieg restaurierte man die schon in den Zwanzigerjahren gescheiterte parlamentarische Demokratie, und wiederum war man Zeuge einer geradezu rührenden Sinnesänderung. Wer erinnert sich da nicht an die verzückten Volksmassen bei uns in der Zeitspanne 1914–1945? (In Frankreich, Spanien, Portugal, Italien, China, Iran war es auch nicht anders.) Bei uns aber kam es vor, daß in einer Familie der Großonkel den Kaiser, der Großvater die Erste Republik, der Onkel den Ständestaat und der Vater den »Führer« verraten hatte. Schwüre wurden am laufenden Band geleistet und gebrochen, Überzeugungen – nicht nur aus Opportunität, sondern oft in echtem Sinneswandel – wie die Hemden gewechselt.

Treue ist schließlich eine »feudale« Tugend, die man in einem demokratischen Zeitalter, das auf ewigem Wechsel und bei Wahlen auf wilden Überredungsorgien beruht, schon aus ideologischen Gründen nicht erwarten darf. (Wo käme man denn hin, wenn eine Wahl wie die andere ausfallen würde? Zur Abspenstigmachung werden jedesmal Millionen hinausgeworfen.) Geschwätzigkeit ohne Wissen und Erfahrung ist in unserer Epoche ebenso an der Tagesordnung wie die verschiedenen »Angleichungen« (früher »Gleichschaltungen« genannt), so daß der »moderne Mensch«, ein ebenso frecher wie von furchtbaren Ängsten geplagter Wicht, ein Papamäleon genannt werden könnte – eine Mischung von Papagei und Chamäleon.

Man kann sich also auch leicht vorstellen, daß meine Freiheit oder Gleichheit? es hier in den Besiegtenländern nicht leicht hatte. Das Herz trug man damals (wie zumal auch heute) in dem dafür geeigneten Kleidungsstück, also in der Hose. Der brave Rezensent des Buches bei einer führenden christlichen Wochenschrift hatte die Besprechung fünfmal zu schreiben, bis sie vor dem gestrengen Auge seines Chefs Gnade fand. Man durfte ja nicht den allergeringsten Verdacht hegen, daß da irgendeine These von den Herausgebern nur im Entferntesten geteilt wurde. In einer deutschen Großstadt mit geistiger Schlüsselstellung kamen die drei führenden Tageszeitungen – die schwarze, die blaue und die der Besatzungsmacht gehörige – einhellig zum Beschluß, das Buch ganz einfach mit Schweigen zu übergehen. Vielleicht hat sich das gebessert. Man täusche sich aber nicht, denn wir leben immer noch (bis auf weiteres) in der »Nachkriegszeit«, denn Demokratien bereiten sich nicht nur auf Kriege schlecht vor, sie haben auch ein einzigartiges Talent, es zu keinem wahren Frieden zu bringen.

 

Dem Leser möchte ich aber hier auch gleich zwei Dinge gestehen: ich bin ein Erzfeind aller Kollektivismen, mögen diese rot oder braun sein: seit 1789 gingen wir alle einen Irrweg, der trotz seiner Windungen und gelegentlichen Kehrtwendungen uns schließlich in einen Abgrund führt. Die Französische, die Russische und die Deutsche Revolution sind Kreuzwegstationen auf dieser leidvollen Wanderschaft. Ich stehe auf der Rechten, lehne aber das Etikett »konservativ« bewußt ab, weil darin keine konkrete Aussage steckt. (Bewahren? Gut! Aber doch wohl nicht alles?) Sicherlich aber bin ich ein Liberaler, also ein »Freiheitlicher«, der einer Tradition angehört, die von de Tocqueville und Montalembert bis zu Müller-Armack und Röpke reicht. In der Form einer echt gemischten Staatsform ist mein Ideal der freiheitliche Rechtsstaat, der aber gerade durch die Demokratie mit ihrer Herrschaft bloßer Ziffern nicht zu verwirklichen ist, auch nicht von der liberalen Demokratie, die an ihrer inneren Antithese von Gleichheit und Freiheit scheitern muß. Wenn Parlamente mit Mehrheitsbeschluß Ungeborene zu Nichtmenschen erklären können, hat alle Rechtssicherheit ein Ende genommen. Morgen könnten es zum Beispiel Achtzigjährige sein, die wie einst »Andersrassige« als »ungewolltes Leben« zum Freiwild werden. Auf dem krummen Weg der letzten 200 Jahre über Höhen und Tiefen hatten wir wahrscheinlich am Ende der Kaiserreiche noch ein Optimum an Freiheit und Sicherheit gehabt, wenn auch als Folge einer noch relativ jungen Technologie einen im Vergleich zu heute niedrigen Lebensstandard, der allerdings in der sozialistischen Welt wenig Fortschritt gezeigt hat. (Darum bin ich als Freund der Arbeiterschaft und Feind der halbgebildeten »Intellektuellen« ein Gegner des Sozialismus.) Doch bloßen Restaurationen soll hier nicht das Wort geredet werden. Es gilt Ordnungen zu schaffen, die an Ewigkeitsnormen organisch anknüpfen. Das Kopieren und Sentimentalisieren sollen wir in diesem wissenschaftlichen Zeitalter anderen überlassen.

Und hier kommt mein anderes Geständnis. In mehr als dreißig Jahren können Ansichten und Einsichten eines Autors nicht restlos unverändert bleiben. Zumindestens erleiden sie Akzentverschiebungen. Mit den Weltreisen begann ich erst im Jahre 1957. So ist, um nur ein Beispiel zu nennen, mein Lutherbild heute nicht ganz dasselbe wie im Jahre 1952–3. Dieser Reformator war keineswegs ein Vorläufer der Französischen Revolution, auch war sein Judenhaß (von den Nationalsozialisten weidlich ausgenützt) kein Rassismus, sondern rein religiöser Natur. Seine Auflehnung gegen Rom war ein Stück »konservativer Revolution«, ist es doch auch bezeichnend, daß es heute in den katholischen Ländern der Alten Welt keine einzige Partei gibt, die sich »konservativ« nennt. Die katholische Kirche ist ebensowenig formverharrend wie ein lebender Baum, der zwar nie wandert, aber stets wächst und neue Früchte trägt. Kein Christ kann glauben, daß durch »Konstruktionen« das Paradies auf Erden utopisch erbaut werden kann. Die Linke hat die biblische Mahnung des Turms von Babel nie verstanden. Auch sie wurde schließlich Opfer einer großen Sprachverwirrung.

Viel verdanke ich meinem langen Aufenthalt und 35 Besuchen in den Vereinigten Staaten, die – als aristokratische Republik geschaffen – das große Unglück hatten, im zweiten Viertel des vorigen Jahrhunderts zum Bannerträger einer völlig unamerikanischen, französischen Ideologie zu werden. Das Resultat waren wahre »Kreuzzüge«, um diese fremde politische Doktrin unter großen Opfern naiv weltweit zu verbreiten. Auf lange Sicht war dies nach einigen Augenblickserfolgen vergebliche Mühe. Katastrophen waren die Folgen. Auch für die Vereinigten Staaten selbst.

Einige der brillantesten Kritiker der Demokratie kamen deshalb gerade aus den Vereinigten Staaten und auch – wie zu erwarten – aus der Schweiz. Diese helvetischen Denker wußten genau, daß ihre lokalen Ideale auf andere Länder unübertragbar waren. Ihrem Angedenken widme ich auch dieses Buch. Das Vereinigte Königreich, die Union und die Schweiz waren tragischerweise auf dem weiten Erdenrund politische Irrlichter, die Völker mit ganz anderen Wellenlängen zu ihrem Verderben bezauberten und in den Bann zogen. Von Bolivien über Berlin bis zur Beringstraße endeten diese unheiligen Experimente stets mit der Tyrannis. Doch muß man es auch den Schweizern lassen, daß sie, anders als die Briten und Amerikaner, ihre Nachahmer nie ermuntert oder gar gedrängt hatten. Und dafür soll man ihnen herzlich dankbar sein.

Gleichheit oder Freiheit: Klärung der Begriffe

Die Sklaverei läßt sich bedeutend steigern, indem man ihr den Anschein der Freiheit gewährt.

Ernst Jünger, Blätter und Steine.

Diese Studien sollen Essays im engsten Sinne des Wortes sein, Versuche also, gewisse Phasen und Aspekte des ewigen Gegensatzes zwischen der Freiheit und Gleichheit, den Grundforderungen des Liberalismus und der Demokratie im klassischen Sinn, von verschiedenen Seiten zu beleuchten. Es versteht sich von selbst, daß diese Studien ein so weitgestecktes Thema nicht erschöpfen können, jedoch haben wir die einzelnen Objekte unserer Untersuchung nicht zufällig, sondern aus ganz bestimmten Gründen ausgewählt.

Bevor wir uns aber noch über die so wichtige Terminologie auseinandersetzen, wollen wir über unseren weltanschaulichen Standpunkt einige Vorbemerkungen machen. Es ist klar, daß ein Autor, der politische und soziologische Erscheinungen kritisch betrachtet, von einer zumindest lose zusammenhängenden philosophischen Schau geleitet wird. Da der Verfasser dieser Schrift ein katholischer Christ ist, steht seine Philosophie in einem engen Verhältnis zur Theologie seiner Kirche, ein Verhältnis, das am besten als Koordination bezeichnet werden kann. Obwohl er vorwiegend thomistisch eingestellt ist, steht er auch stark unter dem Einfluß eines theistischen Existentialismus.

Wir hoffen, daß der nicht-katholische Leser durch dieses Geständnis nicht entmutigt oder abgeschreckt wird. Wir möchten ihn daran erinnern, daß der Thomismus nicht ein fremdartiger, esoterischer oder gar hermetischer Glaube voll geheimnisvoller Andeutungen ist, sondern, im Gegenteil, eine Philosophie, die in ihrem Streben nach objektiver Realität durch die größte Achtung für die menschliche Vernunft charakterisiert ist. Der Thomismus ist eine Philosophie des common sense, die mit solipsistischen Spielereien, einem nihilistischen Relativismus, der Leugnung der Realität aller sensorischer Wahrnehmungen und mit der krankhaften Verwerfung der Gesetze der Logik keine Geduld hat. Der thomistische Realismus wird immer darauf bestehen, daß zweimal zwei vier sind und daß zwei entgegengesetzte Behauptungen nicht zugleich richtig sein können. Insofern der Thomismus der Philosophie dieser Seiten unterliegt, birgt er nichts Magisches und Mystisches in seinen Behauptungen, sondern lediglich gesunden Menschenverstand. Gleichzeitig aber beschäftigen wir uns eingehend mit den psychologischen Reaktionen des Menschen, mit Mythen und Aberglauben. Jedoch werden wir selbstverständlich das Psychologische dem Philosophischen und bloße Gefühle der objektiven Wirklichkeit unterordnen, ohne aber das Bestehen der erstgenannten zu vergessen.

Wenn wir nun über Gleichheit und Freiheit sprechen, muß es uns vorerst klar sein, daß es sich hier für unsere Zwecke um relative und nicht um absolute Begriffe handelt, um Richtungen und Neigungen eher denn um reine Abstraktionen. In unseren Studien verstehen wir unter »Freiheit« das größte Maß an Freiheit, das in einer gegebenen Situation erreichbar, billig und möglich ist, wobei freilich diese Begriffe noch einer weiteren Erklärung bedürfen. Als ein Mittel zur Wahrung menschlichen Glücks sowie menschlicher Persönlichkeit ist die Freiheit ein mittelbares Ziel und bildet so einen Teil des bonum commune, des Allgemeinwohls. Unter diesen Umständen ist es einleuchtend, daß die Freiheit nicht brutal den Forderungen einer absoluten Leistungsfähigkeit oder den schrankenlosen Bestrebungen für materielles Wohlbefinden geopfert werden kann. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. In dieser wie in manch anderer grundlegenden Hinsicht werden die meisten unserer Leser wohl mit uns übereinstimmen, denn wenn sie auch nicht der katholischen Kirche angehören, so sind sie entweder Christen oder doch zumindest in geistig-kultureller Hinsicht Produkte der jüdisch-griechisch-christlichen Tradition, deren Allgegenwart niemand im Abendland völlig entraten kann. Wiewohl dies manche mit wechselndem Erfolg versuchen.

Wenn wir von der Gleichheit (aequalitas) sprechen, meinen wir nicht Billigkeit oder Unparteilichkeit (aequitas), die der Gerechtigkeit zugeordnet sind. Auch die sogenannte »christliche Gleichheit« ist nicht »mechanisch«, sondern lediglich Unterwerfung unter dasselbe Gesetz – also Isonomie. Wir wollen hier auch nicht auf die psychologischen Ursachen für die egalitären und »identitären« Neigungen unserer Zeit eingehen, da wir dies an anderem Orte ausführlich getan haben1; was aber das Verhältnis zwischen der Freiheit und der Gleichheit betrifft, so genügt vielleicht hier die Feststellung, daß ein Erzwingen menschlicher Gleichheit mit der Forderung nach Freiheit unvereinbar ist. Vom ethischen Standpunkt aus gesehen sind ja Neid, Eifersucht und Angst die treibenden Kräfte hinter den gleichmacherischen und »identitären« Bestrebungen unserer Zeit2; die »Natur« aber ohne menschliche Eingriffe ist alles eher denn egalitär. Wenn wir eine echte Ebene schaffen wollen, müssen wir die Bergspitzen wegsprengen, um damit die Täler auszufüllen; die mechanische Gleichheit setzt daher ein System von äußeren Gewalteingriffen voraus, die natürlich grundsätzlich der Freiheit widersprechen. Freiheit und Gleichheit stehen also wesenhaft zueinander im Widerspruch, eine Tatsache, die sich aber erst teleologisch in ihrer ganzen Schwere auswirkt.

Von allen politischen Ausdrücken, die tagtäglich mißbraucht werden, haben die Worte »Liberalismus« und »Demokratie« am allermeisten zu leiden. Der echte Liberalismus strebt das größtmögliche Ausmaß an Freiheit für alle Menschen an3 – und dies ganz unabhängig von der Struktur der Regierungsform, unter der sie leben mögen. Es muß aber zugestanden werden, daß die Affinität zwischen der Freiheit einerseits und den verschiedenen Regierungsformen anderseits sehr ungleichmäßig ist; auch darf man nicht vergessen, daß gewisse politische Einrichtungen mit betont liberaler Zielsetzung durch dialektische Prozesse die Gefahr weitgehender Versklavung bergen. Der wahre Liberale ist aus diesen wie aus anderen Gründen nicht an eine bestimmte Regierungsform gebunden; seine Wahl bleibt lediglich dem Wunsch untergeordnet, sich und seine Mitbürger im Genuß größtmöglicher Freiheit zu wissen. Wenn er glaubt, daß ein Monarch größere Freiheit gewähren kann als eine Republik, wird er für den ersten einstehen; ja, unter gewissen Umständen könnte er sogar die tatsächlichen Einschränkungen einer Militärdiktatur den potentiellen Evolutionen einer wirklichen Demokratie vorziehen4.

Wie jeder Kenner der Alten Welt es erwarten kann, ist die Bezeichnung »liberal« im politischen Sinn spanischen Ursprungs. Auf der Iberischen Halbinsel wird sie zum ersten Male im Jahre 1814 gebraucht und wurde bald von den Franzosen übernommen. Southey schrieb im Jahre 1816 (in der »Quarterly Review«) über die British Liberales (also in der spanischen Form!), und zehn Jahre später benützte Scott den französischen Ausdruck Libéraux. Von ihm aber wurde diese Bezeichnung für den radikalen Flügel der Whigs gebraucht, was natürlich nicht unserem Sinn dieses Wortes entspricht. In den Vereinigten Staaten hat der Mißbrauch dieses Terminus technicus einen Höchstgrad erreicht; in der Neuen Welt nennen sich »Liberale« all jene, die Neuerungen nicht abhold sind und besonders oft linkstotalitäre Bestrebungen gutheißen. Ein echter amerikanischer Liberaler wie Oswald Garrison Villard nannte sich daher »an old-fashioned liberal«. Auf dem europäischen Kontinent waren die Dinge oft nicht viel anders; hier verfolgten die »Liberalen« nur zu oft ihre Gesinnungsgegner mit unerbittlicher Feindseligkeit. Diese Parteiliberalen nennt Professor Carlton J. H. Hayes sectarian liberals, die »Anhänger der liberalen Sekte«5.

 

Die psychologischen und philosophischen Triebfedern und Grundlagen der liberalen Einstellung sind bei weitem nicht einheitlich. In einem christlichen Liberalismus werden stets Wohlwollen und Großmut, Generosität und Ehrfurcht vor der Persönlichkeit des Nächsten die Antriebskräfte sein. Es gibt aber auch einen »Liberalismus«, wie wir es in den letzten hundert Jahren erfahren mußten, der auf einem erkenntnistheoretischen Nihilismus fußt, ein »Liberalismus«, der rundweg erklärt, daß die objektive Wahrheit entweder nur ein Vorurteil, ein Stück geistiger Überheblichkeit, eine Sinnestäuschung ist, oder aber, daß sie menschlich ganz einfach nicht erfaßt werden kann und außerhalb unseres Erkenntnisvermögens steht. So wird dann entweder die Wahrheit selbst oder der Weg zur Wahrheit geleugnet. Es ist klar, daß eine derartige Philosophie der Verzweiflung nicht notwendigerweise zu einer liberalen Einstellung führt; gerade das Gegenteil kann eintreten, und daher hängen die Schlußfolgerungen, die von diesen nihilistischen Prämissen gezogen werden, vom persönlichen Geschmack und vom Temperament ab. »Liberalität« bedeutet ursprünglich Freigebigkeit, und es versteht sich von selbst, daß von einem Geben nur dann die Rede sein kann, wenn die Schenkung von einem Besitz kommt. Generosität ohne Überzeugung gibt es nicht. Toleranz, die dem Liberalismus wesensverwandt ist, darf mit Gleichgültigkeit nicht verwechselt werden. Sie ist ein opferbereites Ertragen anderer Meinungen in Hinsicht auf eine eigene, echte Überzeugung.

Der christliche, der wahre Liberale darf aber auch in seiner Haltung von Erwägungen geleitet werden, die nicht einen ethischen oder religiösen, sondern auch einen praktischen Charakter tragen. Zwar unterscheidet er genau zwischen Wahrheit und Unwahrheit, zwischen Recht und Unrecht, doch verwirft er die Häufung von Zwangsmaßnahmen, weil er weiß, daß sie nicht den gewünschten Erfolg erzielen, ja sogar zu noch größerem Übel führen können. Wir haben schon früher dem Gedanken Ausdruck verliehen6, daß das Mittelalter mit seiner faktischen Unmöglichkeit, sich offen von der Kirche loszusagen, an einer Art urämischen Vergiftung litt. Und es ist offensichtlich, daß eine Verfolgung Märtyrer erzeugt. Hier ist aber dann die Gefahr vorhanden, daß die Qualen und Leiden der Verfolgten die sadistischen Neigungen ihrer Schergen befriedigen. Schließlich kann einem einsichtigen Christen nichts als teuflischer erscheinen als die Verquickung von Wahrheit und Laster, die dann einer Verschmelzung von Heiligkeit und Irrtum gegenübersteht! Und hierzu sind nicht einmal Scheiterhaufen notwendig, auf denen verschrobene Sektierer zum Ergötzen rundlicher Dogmatikprofessoren verkohlt werden…

Die verhängnisvolle Neigung zum Gewaltverfahren, die sich auf Grund des staatlichen Beispiels in die Kirche eingeschlichen hatte, behauptete sich mehrere Jahrhunderte, bis dann intra muros der Gegenstoß einsetzte7. Schon Pius VII. kämpfte mit scharfen Worten gegen das Zwangsprinzip, weil es lediglich die Heuchelei förderte. So berichtet uns ein junger Amerikaner, der den Vater der Christenheit im Jahre 1818 besuchte:

»The Pope talked a good deal about our universal toleration, and praised it as much as if it were a doctrine of his own religion, adding that he thanked God continually for having at last driven all thoughts of persecution from the world, since persuasion was the only possible means of promoting piety, though violence might promote hypocrisy.«8

Und heute betont der Codex Iuris Canonici ausdrücklich, daß niemand (d. h. kein Erwachsener) gezwungen werden kann, den katholischen Glauben anzunehmen9. Es darf dabei allerdings nicht verschwiegen werden, daß in der mittelalterlichen Kirche lokal manchmal in diesem Punkte eine gewisse Verwirrung herrschte; es kamen Fälle vor, daß zwangsweise getaufte, erwachsene Juden der Gerichtsbarkeit der Kirche unterstellt wurden. Dies waren freilich nur Übergriffe des Klerus10, nie aber die Stellung des Heiligen Stuhles. Es konnte nur eine Frage der Zeit sein, bis die ganze Wirkungskraft der im Grunde genommen »personalistischen« Theologie der Kirche sich im Fragenkomplex von Gewissen, Freiheit, Gewalt und Zwang fühlbar machte11. Die katholische Lehre vom Primat des Gewissens über alle sichtbare Autorität, die selbst den Vikar Christi auf Erden einschließt, steht in grellem Gegensatz zu den koerziven Einrichtungen und Gebräuchen des Spätmittelalters; diese waren schließlich auch mit den Forderungen der christlichen Nächstenliebe unvereinbar. Zwar darf es nicht außer acht gelassen werden, daß die von der Inquisition schuldig befundenen Angeklagten den weltlichen Autoritäten mit einer feststehenden Formel übergeben wurden, in der die Bitte enthalten war, diese nicht hinzurichten. Diese Formel lautete:

»De nostro foro ecclesiastico te proiicimus et tradimus seu relinquimus bracchio seculari ac potestati curie secularis, dictam curiam secularem efficaciter deprecentes, quod circa et citra sanguinis effusionem et mortis periculum sententiam suam moderetur.«12

Dieser Wortlaut entschuldigt nicht eine Zusammenarbeit zwischen Kirche und Staat in einer höchst zweifelhaften Sache, aber sie erklärt doch die Grundeinstellung der Kirche. Kein katholischer Theologe wird heute die Möglichkeit eines ehrlichen und tragischen Konfliktes zwischen Gewissen und Wahrheit ableugnen; jedem Häretiker, jedem Glaubensfeind einfach schlechten Willen oder Bosheit zuzuschreiben, war allerdings eher der Ausfluß psychologischen Nichtwissens als philosophischen Unverstands.

Auch darf nicht vergessen werden, daß der Liberalismus – last, but not least — seine wirtschaftlichen Aspekte hat. In diesem Zusammenhang muß man darauf hinweisen, daß ein wahrer Liberalismus schwerlich dem Manchestertum oder einem unbegrenzten Kapitalismus gleichzusetzen ist. Neo-Liberale (»Dezentralisten«), wie z. B. Wilhelm Röpke, haben dies öfters betont. Da der Privatkapitalismus dazu neigt, Besitztum (ein wichtiger Schlüssel zur Freiheit!) in wenigen Händen zu konzentrieren, ist er von einem echt liberalen Gesichtspunkt dem Staatskapitalismus (Sozialismus) immer noch vorzuziehen13. Doch fragt es sich überhaupt, ob der »Kapitalismus«, ein marxistischer Ausdruck, eine Ideologie, ein »Ismus« ist. Wir bezweifeln das. Viel klüger ist es, den Ausdruck »freie Marktwirtschaft« zu verwenden, wobei das Wörtchen »frei« völlig überflüssig ist.

Die Bezeichnungen »Demokratie« und »demokratisch« sind rein politischer Natur. Demokratie bedeutet »Macht (Regierung) des Volkes«14 auf egalitärer Grundlage15; auf die verschiedenen soziologischen und sozialen Mißbräuche, die mit diesem Ausdruck getrieben werden, wollen wir nicht gesondert eingehen. Die bloße Sympathie für die unteren Klassen, zum Beispiel, ist nicht Demokratie, sondern Demophilie16. Der Leser sei daher gewarnt, daß wir uns in diesen Studien fast ausschließlich mit dem politischen Begriff der Demokratie befassen.

Es muß hier betont werden, daß es eine klassische Auffassung der Demokratie gibt, die mit geringen Abweichungen von 500 vor Christi Geburt bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts überall gültig war. Manche Autoren halten sich immer noch an die klassische Auslegung, denn sie allein bietet eine gewisse Klarheit und Deutlichkeit. Deshalb haben auch wir diesen Weg beschritten. Plato, Aristoteles, St. Thomas von Aquin, St. Robert Bellarmin, Juan de Mariana S. J., Alexander Hamilton, John Marshall, James Madison, Gouverneur Morris, N.D. Fustel de Coulanges stimmten alle mehr oder weniger in ihrer Auslegung des Wortes »Demokratie« überein, obwohl man zugeben muß, daß bei einigen der »Gründerväter« Amerikas die Tendenz vorhanden schien, den Begriff der Demokratie zu verengen und ihn nur mit einer ihrer Erscheinungsformen gleichzusetzen, nämlich mit der direkten Demokratie, für welche Einschränkung zu einem Teil der Einfluß Rousseaus verantwortlich ist. Dies, zumindest, ist unser Eindruck, wenn wir Madisons Definition im »The Federalist« (Nr. 10 und 14)17 oder John Adams’ Angriff gegen die Demokratie in seiner A Defense of the Constitution of the United States of America lesen18. Jedoch ist der Fall John Adams’ nicht ganz klar; eine sorgfältige Studie der Werke dieses zweiten Präsidenten Amerikas, der noch konservativer als Madison war, liefert viele Beweise einer bewußten Ablehnung des Gleichheitsprinzips in allen seinen Formen19; auch ist es bekannt, daß er heftige Gewissensbisse wegen seiner Teilnahme am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg hatte, da dieser ideengeschichtlich, infolge der ersten großen europäischamerikanischen Mißverständnisse und Fehlinterpretationen zur Französischen Revolution und deren blutigem napoleonischen Nachspiel beigetragen hatte20. Alexander Hamilton, der konservativste in dieser Gruppe, kritisierte leidenschaftlich die Demokratie in seiner Ansprache vom 21. Juni 1788 (On the Compromise of the Constitution) und auch in der Bundeskonvention am 26. Juni 178721. Es sollte kein Zweifel mehr darüber herrschen, daß die überwiegende Mehrzahl der »Gründerväter«, der Founding Fathers, nicht nur die direkte Demokratie gehaßt und sich ihr entgegengestellt hat, sondern auch, daß sie als strenge Republicans selbst der indirekten Demokratie (dem egalitären Repräsentativsystem) zutiefst kritisch, ja ablehnend gegenüberstanden. Am schärfsten in seiner Kritik war vielleicht Gouverneur Morris, der Lafayette in Paris rundweg heraus erklärte: »I am opposed to the democracy from regard to liberty« – dieselben Worte, die später Bachofen gebrauchte22.

Während der Durchschnittsamerikaner gar nicht so sicher ist, ob die Gründerväter alle wirklich brave Demokraten waren, wird Thomas Jefferson, der dritte Präsident Amerikas, zumeist leichtfertig als Demokrat oder zumindest als Schöpfer der Jeffersonian Democracy (im Gegensatz zu der späteren und echteren Jacksonian Democracy) bezeichnet. Wenn wir jedoch die Demokratie in ihrer direkten sowie indirekten Form betrachten, müssen wir feststellen, daß sein politisches Glaubensbekenntnis alles andere denn demokratisch war. Welches sind aber nun in concreto die Forderungen der Demokratie? Es gibt deren nur zwei: 1. legale und politische Gleichheit für alle, die sich nicht nur vor den Gerichten (Isonomie), sondern besonders in den politischen Funktionen des Bürgers ausdrückt, und 2. »Selbstregierung« (self-government), die in der Herrschaft der Mehrheit (von Gleichberechtigten) besteht. Je nachdem diese »Selbstregierung« durch das Volk oder durch Abgeordnete ausgeübt wird, sprechen wir von direkter oder indirekter Demokratie. Selbstverständlich haben in einer indirekten Demokratie die Abgeordneten die Pflicht, die Ansichten ihrer Wählerschaft getreulich zu vertreten und zu wiederholen; ist dies nicht der Fall, handelt es sich schon eher um eine Republik als um eine Demokratie. Im übrigen haben die Achtung der Rechte der Minderheiten, Redefreiheit und die der Herrschaft der Mehrheit23 auferlegten Einschränkungen nichts mit der Demokratie als solcher zu tun. Dieses sind Forderungen des Liberalismus, und ihre Anwesenheit in einer Demokratie (oder auch in einer Republik) hängt lediglich von der Annahme des liberalen Prinzips ab.