Czytaj książkę: «Lorettoberg», strona 5

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VI.

Dort oben reihten sich eine Reihe von Gemächern aneinander, die wohl alle nur für diesen Abend mit Klubmöbeln ausgestattet waren, Sitzgarnituren der bequemen Art in größerem Kreis arrangiert, jedoch nur ausgeliehen von einer Firma, die für solche Events oder Filmsets die nötige Ausstattung bereithielt. Von persönlichen Möbeln oder Einrichtungsgegenständen war nichts zu sehen, alles nur zweckmäßige Dekoration – mit Ausnahme der Bilder, die zwar sehr verschiedene Kunstrichtungen repräsentierten, aber kaum unter Gesichtspunkten allgemeiner Gefälligkeit ausgewählt waren. Es war ein Teil von Legrands Sammlung, die hier einen neuen Ort gefunden hatte. Und sie zeigte Vorlieben sehr individueller Art, war nicht nach repräsentativen Gesichtspunkten zusammengestellt und orientierte sich auch nicht an den Highlights des Kunstmarktes. Nicht, dass nicht auch einiges darunter gewesen wäre, um das ihn manches Museum zeitgenössischer Kunst beneidet hätte, aber es waren keine hochpreisigen Sensationsbilder darunter, die von den internationalen Auktionshäusern hochgepuscht wurden. Kein Polke, kein Baselitz oder Richter, obschon Legrand sich vielleicht einiges davon hätte leisten können, und was er von der heutigen Preisavantgarde besaß, hatte er sicher schon vor 20, 30 Jahren gekauft. Aber davon war hier nichts zu sehen, wahrscheinlich hingen solche Bilder noch in seiner Hamburger Villa.

In einem der Räume saß eine Runde zusammen, die vorwiegend aus Medizinern bestand, die sich gerade über das letzte Masur-Konzert beim Baden-Badener Festival unterhielten.

»Einfach Weltklasse.«

»Dieser Brahms, geradezu überwältigend.« Beim Gielen-Konzert in Freiburg mit Schreker, Bartok, Berg und Schönberg würde man sicher keinen dieser Begeisterten sehen können.

»Das ist mir einfach zu anstrengend. Nach einer Sectio ist mir nicht nach Schönberg.« Wieherndes Gelächter.

In diesem Moment kam Rolf Böhme herein und wurde respektvoll nachsichtig begrüßt. Man rückte zusammen, ein leerer Sessel wurde herbeigeschoben und bald hatte Böhme einen Zuhörer für sein Lieblingsthema gefunden, wie die Freiburger in der Nazizeit mit den Juden umgegangen waren. Die beiden setzten sich etwas abseits, direkt unter ein Gemälde von Peter Herrmann, aber sie beachteten es nicht. Im sehr schmalen Hochformat sah man vor türkisfarbenem Hintergrund, mit grobem Pinsel gemalt und doch äußerst effektvoll, ein Mädchen im schwarzen Kleid, die Träger verrutscht, mit breitem Grinsen. Der Clou war, dass nur der lachende Mund mit hässlichen Zähnen zu sehen war, schon in der Höhe der Nase war das Bild abgeschnitten, das nur Kleid, Dekolleté und die untere Gesichtshälfte zeigte.

Die anderen waren bald bei Themen aus der letzten Fakultätssitzung angelangt, opferten dies aber bald der sich ausbreitenden Fröhlichkeit. Einer, der vielleicht schon etwas angeschickert war, trällerte vor sich hin: »Pfingsten das liebliche Fest ist gekommen …« und wurde sogleich unterbrochen:

»Pfingsten noch nicht. Wir hatten ja gerade erst Ostern.«

»Aber mir ist so pfingstlich wohl bei diesem – wie nennen wir ihn? Eduard?«

»Legrand heißt er.«

»Ich nenne ihn Eduard.«

»Wovon redet der eigentlich?«

»Von Goethe. Heute ist doch Walpurgisnacht.« Und jetzt stimmten einige in die wiegende Melodie ein: »Wal-purgis-nacht, Wal-purgis-nacht«, die ihnen noch vom letzten Bayreuth-Besuch im Ohr war.

Es dauerte nicht lange, als Dieter Salomon in die Tür schaute, sich aber gleich abwandte, als er seinen Vorgänger im Amt entdeckte, und weiterzog. Dass die beiden sich nicht viel zu sagen hatten – und wenn, dann zu viel zu sagen gehabt hätten –, war allgemein bekannt. Sie gingen sich besser aus dem Weg. Aber unbemerkt blieb es nicht. Ein gutaussehender, verschmitzter jüngerer Mann machte ihm eine lange Nase nach und einige lachten. Vor der Tür kamen jetzt junge Leute vorbei, ein reges Kommen und Gehen. Eine langbeinige Schönheit hatte die Verspottung des Bürgermeisters mitbekommen und erwiderte unwillkürlich mit einer ausgestreckten Hand vor ihrer Nase die Geste, wobei sie den Schalkhaften verführerisch anlächelte. Wenig später standen die beiden im Flur und turtelten miteinander.

Im nächsten Raum hing ein Bild in blau-beigen und rosa-hautfarbenen Tönen von Alexa Rudolph, das einen Engel im applizierten Kunststoff-Nachthemd zeigte, der nach einem bereits zerfetzten Regenschirm am Himmel griff, ein echter Schirm mit zerstörtem Gestänge war flach auf die Leinwand aufmontiert. Hier saß eine gänzlich andere Gesellschaft und der Oberbürgermeister war hochwillkommen. Es waren Unternehmer, Geschäftsleute, Vertreter der Industrie- und Handelskammer. Man flachste herum und fragte sich, warum denn der Unmüßig nicht da sei, ein allseits bekannter Bauunternehmer und Projektemacher, ob der etwa nicht eingeladen worden sei. Allerlei Spekulationen schlossen sich an, die bald bis zu ausgelassenen Vermutungen gingen. Salomon amüsierte sich köstlich, sagte aber nichts. Mit unbestimmbarem Interesse sah er schließlich auf andere Bilder an der Wand, lauter Original-Plakate von Jörg Immendorff aus der Mitte der 70er-Jahre. »Sofortiger und bedingungsloser Abzug aller USA- und Marionettentruppen aus Indochina«, las man da auf rotem Grund und ein ausgestrecktes Bein ragte ins Bild, das einen grünen kleinen Soldaten im Kampfanzug, der wie eine Kakerlake aussah, einfach wegkickte. Und auf einem anderen stand lediglich in gelben Lettern auf rotem Grund: »Das tun, was zu tun ist.«

Währenddessen war auf dem Flur ausgelassene Stimmung. Immer mehr standen dort, andere drängten vorbei. »Wo gibt’s denn hier was auf die Nase?« Lachen. Kichern. Mit Blicken wurde ein Weg gewiesen ans Ende des Ganges. Ein zartes Mädchen mit ausgehungerter Figur wedelte mit einer Scheckkarte herum und zog die Blicke auf sich. Ein dürres Weib voller Verführung, halb Kind, halb abgebrüht, dessen Faszination ein leeres Versprechen war und doch für Männer den Zauber der Vorhölle versprach. Einer rief aus: »Oh, gun-powder, wo gibt’s denn das?«

Man wurde weitergedrängt, zu einem kleinen hinteren Raum, in dem ein buntes Völkchen um einen Glastisch stand und sorgfältig ein kleines Häufchen weißen Mehls zu dünnen Strichen zog.

»Macht doch mal die Tür zu. Hier zieht es ja wie Hechtsuppe.«

»Geht nicht, da wollen noch mehr herein.«

Auf einmal drängte sich ein CDU-Stadtrat an all den Fröhlichen und Ausgelassenen vorbei, als suche er jemanden. Man machte ihm erstaunt, aber bereitwillig Platz, er blickte in jeden der kleineren Räume, sah sich kurz um und eilte weiter, schließlich fand er den Oberbürgermeister, ging auf ihn zu und flüsterte ihm etwas Dringliches ins Ohr. Salomon sah kurz auf, nickte und meinte dann:

»Danke, dass Sie mir das sagen.« Nach einigem Nachdenken fügte er an: »Sagen Sie auch dem OB-Ex Bescheid. Er sollte das gleichfalls wissen.«

Salomon sah sich in der Runde um, stand auf und meinte dann halblaut zu den anderen:

»Das läuft hier etwas aus dem Ruder. Ich werde jetzt gehen.«

Ein etwas betretenes Gemurmel setzte ein, verunsichert, fragend, und Salomon fügte hinzu:

»Ich jedenfalls möchte mich nicht gerne morgen in der Presse mit entsprechenden Fotos wiedersehen. Sie sollten sich das auch überlegen.«

Einige blickten irritiert umher, ein oder zwei lachten unbekümmert auf, schließlich gab einer das erlösende Stichwort:

»Koks.«

Sofort standen einige auf und verließen ebenfalls den Raum. Andere waren so in ihre Gespräche vertieft, dass sie zwar ein wenig Unruhe bemerkt hatten, sich aber nicht weiter darum kümmerten. Bei all dem Gedränge musste man doch froh sein, ein einigermaßen ruhiges Eckchen mit Sitzplätzen gefunden zu haben. Jemand beugte sich herüber und flüsterte:

»Nebenan scheint die Schnupfen-Fraktion zu sitzen. Da kriegt der OB natürlich kalte Füße.«

Schon längst etwas angeheitert, wunderte man sich über so viel Furcht vor Erkältungskrankheiten. Als einer, amüsiert vor sich hinglucksend, die Handkuhle zwischen Daumen und Zeigefinger zur Nase führte und dabei schniefte, hatte das Thema bereits eine neue Wendung bekommen, vollends, als jemand zu bekannter Melodie kollernd lossang:

»Ich schnupfe nicht, und wenn das Herz auch bricht …«

In einem anderen Raum wurde Rolf Böhme von hinten leise angesprochen:

»OB-Ex! Sie sollten das Fest besser jetzt verlassen.«

Böhme drehte sich verärgert um, denn ihn mit der Bezeichnung »OB-Ex« anzusprechen – ein Spitzname, der längst gebräuchlich war –, verstieß gegen jeden Respekt, auf den er großen Wert legte. Als ihm aber einige weitere erklärende Worte zugeflüstert worden waren, grummelte er nur:

»Gut, dass Sie mir das sagen, danke.«

Überall brachen jetzt einzelne Leute auf, anscheinend vor allem die mit höheren politischen Ämtern. In Windeseile musste sich die Nachricht herumgesprochen haben. Einige suchten noch nach ihren Frauen, die etwas überrascht vom plötzlichen Aufbruch waren, aber doch auch gewohnt, ohne Fragen, die im Augenblick vielleicht unangebracht waren, jederzeit höheren Notwendigkeiten zu folgen. Jeder versuchte sich den Anschein zu geben, unauffällig das Fest zu verlassen, doch in der Halle, wo noch immer lebhaft getanzt wurde, kam es fast zu einem Gänsemarsch zwischen den Tanzpaaren hindurch, der nicht ganz unbemerkt blieb. Andererseits ging es auf Mitternacht zu und so schien es keine völlig ungewöhnliche Zeit zu sein, dass die Honoratioren sich auf den Heimweg begaben. An der Garderobe gab es natürlich einigen Andrang, aber jeder behielt sein kleines, ihm zugeflüstertes Geheimnis für sich, warum er schon jetzt davonstrebte.

Was in ihren Köpfen vorging, konnte man sich nur denken, ausgesprochen hätte es sicher keiner: Für die Notabeln gab es nichts Unangenehmeres, als mit den falschen Leuten oder auf einer falschen Party gesehen zu werden. Nicht, dass sie immer ein funktionierendes Gespür für das Richtige und Angemessene hätten und vor Entgleisungen und moralischen Fragwürdigkeiten gefeit wären, aber auf das öffentliche Bild pflegten sie zu achten. Der Schnappschuss, der eine peinliche Situation festhielt und immer wieder gezeigt werden konnte, der sich einprägte und zur Bekräftigung immer wieder herbeizitiert wurde, war unauslöschlich als ewiger Makel. Was nur mit Worten berichtet wird, lässt sich mit Worten auch entkräften, zerreden, umwölken und irgendwann unwirksam machen. Ein Bild hingegen scheint sich zu einem unverfälschbaren Muster einbrennen zu können und ist deshalb so gefürchtet. Auf einem Foto in einer Kokainhöhle festgehalten zu werden, womöglich im Hintergrund mit einem schniefenden Süchtigen, der den Strohhalm zur Nase führte, das konnte noch am selben Tag, an dem es verbreitet wurde, das Amt kosten. Dass man nichts davon bemerkt habe, würde keiner verstehen, dafür würde man noch zusätzlich verhöhnt. Und jeder konnte glauben, man selbst sei ein Kokser und gehöre in die Heilanstalt. Man konnte deshalb annehmen, dass die Flüchtenden dem aufmerksamen Kollegen aus dem Stadtrat, selbst wenn er der falschen Fraktion angehörte, überaus dankbar für seine Warnung waren. Ein besonderes Verdienst bestand ja gerade darin, dass er nicht nur seine Parteifreunde, sondern die ganze politische Kaste vor einem Super-GAU bewahrt hatte, einem Politikersturz quer durch die Reihen, mit unabsehbaren Folgen. Gerade noch einmal gut gegangen, danke!, musste sich mancher gesagt haben.

Das Fest ging umso fröhlicher und unbeschwerter weiter. Der Getränkenachschub schien unerschöpflich, dafür sorgten die glatzköpfigen jungen Männer in ihren schwarzen Anzügen, die Musik gönnte sich kaum eine Pause und wurde immer aufreizender, sowohl im Keller als auch in der Halle. Kaum einer, der jetzt nicht tanzte oder den Tänzern vom Rande her zusah, die Gesprächsrunden hatten sich nahezu aufgelöst. Völlig Betrunkene gab es nicht, nüchtern war keiner. Alle stimulierten sich in einem Rausch aus motorischen Rhythmen, ekstatischen Bewegungen und Vi­brationen, eine Wachheit der Körperreflexe, ein gesteigertes Sein ohne Bewusstheit. Das konnte so weitergehen bis in den frühen Morgen, an Ausdauer würde es nicht mangeln, alle waren aufgeputscht genug, die ganze Nacht durchzuhalten. In den Morgenstunden des 1. Mai würde sich das Fest dann langsam vertröpfeln, einige dösten noch in den Ecken herum oder knutschten, während sich die Brigade der Caterer bereits ans Aufräumen machte, Gläser einsammelte und die Musiker müde ihre Instrumente zusammenpackten.

VII

»Ihr könnt ja oben schon mal anfangen, wir räumen die Bar auf. Mit der Zeit werden die restlichen Gäste sich dann wohl davonmachen. Viele sind es nicht mehr.«

»Hast du die beiden da hinten gesehen, im letzten Raum? Voll in Aktion.«

»Lass gut sein. Wo ist eigentlich der Chef?«

»Wen meinst du denn?«

»Den Chef vom Ganzen, Legrand.«

»Keine Ahnung. Der wird schon lange fort sein. Ich glaube nicht, dass der hier im Hause schläft.«

»Sicher nicht, so, wie es hier aussieht. Komm, lass uns anfangen, dass wir fertig werden.«

Es war schon lange hell, jetzt mochte es etwa acht Uhr sein. Die schwarzen Jacketts und die lästigen Krawatten hatten die glatzköpfigen Jungs längst ausgezogen und wurstelten träge und übermüdet in ihren weißen durchgeschwitzten Hemden herum. Mit großen Geschirrwagen fuhren sie die einzelnen Räume ab, leerten angewidert die abgestandenen, übel riechenden Reste von Gläsern und Tellern in einen Eimer und stapelten das schmutzige Geschirr und die Gläser in grüne Kunststoffkästen. Andere sammelten Papierservietten in einen blauen Plastiksack, räumten die leeren Platten zusammen, die wenigen Kanapees, die noch übrig geblieben waren zwischen Dekorationsfrüchten und Grünzeug, schoben sie auf einer Platte zusammen. Einer ging von Raum zu Raum und riss die Fenster auf, dass endlich der ganze säuerliche und widerwärtige Gestank aus Schweiß und Alkohol und anderen Ingredienzien der längst verendeten Party allmählich abzöge. Auch in den oberen Räumen waren sie in gleicher Weise zugange, einige trugen bereits volle Geschirrkästen in die Halle und türmten sie in einer Ecke aufeinander.

Plötzlich rief einer von oben, der auch dort die Fenster geöffnet hatte, die Treppe herunter:

»Da liegt doch tatsächlich einer im Garten und schläft.«

»Wird seinen Rausch ausschlafen. Das geht uns nichts an.«

Immer wieder fanden sich unvermutet in Nischen und Winkeln noch halbvolle Gläser und Flaschen, achtlos abgestellt und vergessen.

»Wann werden denn die Sitze und die Tische abgeholt?«

»Weiß nicht. Stapelt das alles erst einmal in einer Ecke zusammen, damit wir ausfegen können, alles andere ist nicht unser Bier. Wir ziehen dann ab.«

Der im Garten Liegende ging ihm nicht aus dem Sinn. Verstohlen sah er immer wieder aus dem Fenster, er lag so eigentümlich da, die eine Hand am Hals, die Füße verdreht, als wenn er gestolpert wäre. Genau war es nicht zu erkennen, weil die Äste eines Baumes teilweise die Sicht versperrten.

Die wenigen Gäste, die noch im Hause waren, darauf aufmerksam zu machen, wäre verlorene Liebesmüh, denn sie waren entweder kaum noch ansprechbar oder so mit sich selbst beschäftigt, dass sie nur abgewunken hätten. So beschloss der junge Mann, selbst nachzusehen. Vielleicht brauchte hier jemand Hilfe. Er ging durch die Veranda auf die Terrasse und die wenigen Steinstufen in den Garten hinunter, dann zwischen den Bäumen einige Schritte den Hang hinauf zu dem Mann im malvenfarbenen Anzug, der noch verdrehter, als es aus dem Fenster ausgesehen hatte, neben dem Weg im noch spärlichen Gras lag. Erst als er vor ihm stand, erkannte er ihn und sah zugleich, dass die Hand, die den Hals umklammerte, ganz blutig war. Er beugte sich zu ihm hinunter, sah die weit aufgerissenen, leblosen Augen, in denen noch das Entsetzen zu lesen war, und wusste sofort, dass er tot war. Zitternd richtete er sich wieder auf und stand da, sah nichts, dachte nichts, fühlte nichts, zweifellos im Schock, es war das erste Mal, dass er einem Toten begegnete.

Er mochte schon eine Weile so dagestanden haben, das Zeitgefühl hatte er verloren, als drüben vom Haus jemand aus dem Fenster des oberen Stockwerkes rief:

»Hey, was ist denn los? Was machst du denn da? Wir wollen fertig werden.«

Er war nicht in der Lage zu antworten. Stumm und mit hilfloser Geste deutete er auf den vor ihm Liegenden. Es dauerte nicht lange, bis erst einer, dann weitere seiner Kumpels angetröpfelt kamen und schweigend um den Toten standen, der in einer Blutlache lag, die sich unter dem Körper ausgebreitet hatte und im Boden versickert war. Als der Letzte aus ihrer Brigade eintraf, blickte er in die betroffenen Gesichter und stammelte:

»Mann, oh Mann, das ist doch Legrand!«, ein Satz von banaler Nichtigkeit und doch vermochte er es, die Starre zu lösen, um endlich das Naheliegende zu tun.

»Gib mal dein Handy. Wir müssen die Polizei anrufen.«

*

Das Polizeirevier Süd hatte sofort die Kriminalpolizei verständigt, dass ein Toter in einem Garten am Kapellenweg liege, wahrscheinlich Fremdverschulden, und war dann mit zwei Streifenwagen unter Blaulicht losgefahren. Auf die Polizeisirene hatte man verzichtet, weil der kurze Weg ohnehin keine Hauptstraßen berührte und wegen des Feiertages niemand in dieser Villengegend unterwegs war. Noch auf der Strecke gaben sie die wegen der Baustelle geänderte Wegführung durch, die von der Kripo kannten sich sicher hier nicht aus. Von der Kriminalpolizei war ein leitender Beamter mit einem Assistenten losgefahren, mehr konnte man nicht tun, bevor man Übersicht hatte.

Die Polizisten hatten nach einem flüchtigen Blick auf den Toten erst einmal die jungen Männer von der Catering-Firma nach den näheren Umständen befragt, ob sie den Toten kannten, wer ihn entdeckt habe, was sie hier zu tun hätten und Ähnliches. Ein Verhör war es nicht, eher der Versuch, die Zeit zu überbrücken, bis die Kripo käme, und dafür zu sorgen, dass niemand sich entferne. Als Kommissar Hopf endlich eintraf, wurde er kurz instruiert, dass gestern hier ein Fest stattgefunden habe mit fast 200 Gästen und heute Morgen der Hausbesitzer hier gefunden wurde. Hopf beugte sich über den toten Legrand, zog sich einen Gummihandschuh an und löste die Hand vom Hals. Man sah eine große Schusswunde, offenbar war die Halsschlagader zerfetzt. Hopf sagte zu seinem Assistenten:

»Hier darf nichts verändert werden. Ruf die Spurensicherung, volles Programm, das sieht nach Mord aus. Weiträumig absperren.«

Dann ließ er sich ins Haus führen und gleich ins obere Stockwerk. Zwei Polizisten wurden beauftragt, die Personalien sämtlicher noch anwesender Personen aufzunehmen.

»Und Sie haben ihn zuerst gesehen?«

»Ja, hier aus diesem Fenster, rein zufällig.«

»Wie heißen Sie?«

»Hamann.«

Niemandem war etwas Besonderes aufgefallen, keinerlei Streit oder Wortgefecht. Legrand war überall gesehen worden, mal da, mal dort, natürlich nicht lückenlos beobachtet, wann zuletzt, könne man nicht sagen. Er sei herumgelaufen, heiter, umschwärmt, überall der Mittelpunkt. Aber ein solches Fest sei natürlich auch ein großes Durcheinander, man schob und wurde geschoben, überall wurde getanzt, ein ziemlicher Lärm, allein schon wegen der Musik. Und sie hätten ja auch ihre Arbeit gehabt, seien nie zur Ruhe gekommen, pausenlos im Einsatz mit Nachschub an Essen und Trinken, leere Gläser abräumen, neue Gläser bringen … Wie es halt so zuginge bei so vielen Leuten. Und so anspruchsvollen zumal.

»Herr Hamann, dann erzählen Sie mir zunächst erst einmal, was das für ein Fest war.«

Das erwies sich als gar nicht so einfach. Denn Hopf hatte den Namen Legrand noch nie gehört und konnte sich deshalb auch keine Vorstellungen machen von den Dimensionen, in denen Legrand lebte. Dass das ganze Mobiliar dieses Hauses eigens für diesen Anlass von einer Ausstattungsfirma angeliefert worden war, dass dieser Modekönig noch gar nicht hier lebte, abgesehen von der Renovierung der Villa nur die Bilder hier hatte aufhängen lassen, dass alles andere von einer deutschlandweit tätigen Catering-Firma organisiert worden war, dies zusammengenommen erschien Hopf wie ein riesiger Bluff mindestens eines Mafia-Paten. Aber er kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, als er hörte, dass die ganze Hautevolee von Freiburg dabei gewesen war, nicht nur bekannte Geschäftsleute, Ärzte, Juristen, Professoren, sondern auch der Oberbürgermeister, Stadträte aller Fraktionen, die halbe politische Prominenz. Sie alle kannten diesen ominösen Legrand und hatten gestern noch mit ihm zusammen gefeiert, nur Hopf hatte den Namen noch nie gehört.

»Einige sind noch im Haus. Unten, in den hinteren Räumen. Ich nehme aber an, dass das keine von den Prominenten sind. Bei einem solchen Fest weiß niemand, wann es zu Ende ist. Wir haben schon mal angefangen aufzuräumen, und so langsam verschwinden dann auch die Letzten.«

Hopf wusste wirklich nicht mehr, was er als Dringendstes zu tun hatte. So ließ er sich von Hamann erst einmal das ganze Haus zeigen. Falls man noch jemanden antreffen würde, müsste man wenigstens die Personalien notieren. Und irgendwoher müsste man die Gästeliste beschaffen, darum sollte sich sein Assistent kümmern. Hoffentlich war die Spurenkommission inzwischen eingetroffen. Er sah in den Garten, aber da waren nur zwei Polizisten, die inzwischen einige Meter um die Leiche herum Absperrbänder angebracht hatten. So ein Quatsch, dachte Hopf, der ganze Garten muss gesperrt werden. Niemand soll da herumlaufen, auch nicht die Polizei. Er schickte gleich jemanden los, dafür zu sorgen. Warum musste er auch ausgerechnet heute Bereitschaftsdienst haben. An einem solchen Feiertag, wo kaum einer im Haus war. Und dann eine solche Geschichte. In der nächsten halben Stunde kämen sicher die ersten Presseleute. Als er länger darüber nachdachte, beschloss er, den Kripochef anzurufen, jetzt gleich, zu Hause oder wo immer er sich finden ließ. Der musste sofort informiert werden. Hopf wollte nun wirklich nicht allein verantworten, was da möglicherweise alles auf ihn zukäme. Und im Übrigen absolute Nachrichtensperre. Keinerlei Auskünfte.

Der Kripochef wurde im Kaiserstuhl gefunden, auf einer Fahrradtour zum Maiausflug mit Freunden. Das war eine schon traditionelle Verabredung, die jedes Jahr stattfand. Start morgens um halb zehn, ein Rundkurs von etwa drei Stunden mit kleinen Pausen, dann um halb eins würde man sich in einem der Landgasthöfe zum ausgedehnten Spargelessen zusammensetzen. Es hätte ihn nicht ungünstiger treffen können. Kurz vor elf klingelte das Handy, gerade nach dem steilen Anstieg hinter Bötzingen auf die Vogelsang-Höhe, er war schon einigermaßen durchgeschwitzt in seinem zünftigen Fahrrad-Dress. Wie sollte er von dort aus zurück ins Amt kommen? Selbst wenn man ihn im Auto abholte, müsste er erst nach Hause gebracht werden, um zu duschen und sich umzuziehen. In Sportkleidung konnte er schließlich nicht den Chef spielen, eine pausenlose Sitzung leiten und anschließend womöglich vor die Presse treten. Und dann auch noch ausgerechnet Hopf, sicher nicht sein stärkstes Pferd im Stall. Da musste man sehen, wen man ihm zur Seite stellen könnte. Nicht ganz einfach, denn einige Kollegen waren wegen des Brückentages ohnehin im vorgezogenen Wochenende, um aufgelaufene Überstunden abzufeiern. Vielleicht Grabowski? Aber der war die ganze Woche auf einem Lehrgang in Münster, fiel also auch aus. Da musste ihm noch etwas einfallen.

Die Spurentruppe, mit einiger Verzögerung eingetroffen, war inzwischen emsig bei der Arbeit. Während noch alle Einzelheiten, ohne die Lage des Toten zu verändern, fotografiert wurden, wurde das ganze Gartengelände nach weiteren Spuren abgesucht, selbst das Projektil hatte man erst nach einiger Zeit gefunden, es steckte in einem Baumstamm, wo man es erst einmal beließ, um es nicht weiter zu beschädigen. Erst gegen Mittag konnte man die Leiche abholen lassen, die Blutlache unter dem Toten fotografieren, später würde man mit der Bildauswertung am Computer beginnen.

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