Czytaj książkę: «Erstrebtes und Erlebtes»

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Verena Conzett

Erstrebtes und Erlebtes

Ein Stück Zeitgeschichte

E-Book 2013 der 3. Auflage von 1929

Conzett Verlag by Sunflower Foundation, Zürich

ISBN 978-03760-024-5

Alle Rechte vorbehalten • Druck Conzett & Huber, Zürich

Copyright 1929 by Morgarten Verlag, Zürich

Printed in Switzerland

Die Schreibweise entspricht, mit geringfügigen Anpassungen, der Ausgabe von 1929.

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de


Gemälde von Dora Hauth

Dem Andenken

meines verstorbenen Gatten

und meiner früh dahingeschiedenen

Söhne Hans und Simon

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

I. Teil. Meine Jugendzeit

Meine Kindheit

Eintritt ins Erwerbsleben

Fabrikarbeiterin

Krawattenmacherin

Modearbeiterin und Ladentochter

Verlobung

Conrad Conzetts Lebensgeschichte

II. Teil. Meine Ehe

Eintritt ins politische Leben

Schlosserstreik in Zürich

Auswirkung des deutschen Sozialistengesetzes

Internationaler Sozialistenkongress 1893 in Zürich

Drohende Wolken

Rücktritt des Bundeskomitees des Gewerkschaftsbundes

Conrads Unfall

Internationaler Arbeiterschutzkongress 1897 in Zürich

Schwere Schicksalsschläge

Nachrufe

III. Teil. Geschäftliches Ringen und Erfolg

Politische Tätigkeit

Geschäftliche Erfolge

Ein Traum

Ein Besuch in der einstigen Heimat

Frisch gewagt

Kranken- und Unfallversicherung

«In freien Stunden», Gründung und Entwicklung

Der internationale Friedenskongress

Erholungskuren

Die «Bugra»

Der Inselhof

Kriegsausbruch

Russische Revolution

Die Grippe

Nachkriegszeit

Mein Heim in Kilchberg

Vorwort

Es war im Spätherbst. Ich sass in meinem Heim in Kilchberg am Schreibtisch; sinnend schweifte mein Blick in die Weite, setzte sich am andern Ufer des Zürichsees fest, dessen herbstliche Färbung durch die Beleuchtung der scheidenden Sonne so tief, so kraftvoll glühte, dass ich ins Schauen versank. Wie ich so schaute und sann, traf vor mein geistiges Auge ein anderer, längst versunkener Herbsttag, und die Erinnerung tauchte auf an einen Wunsch, den letzten Wunsch meiner beiden, in der Blüte der Jahre dahingerafften Söhne.

Es war an einem Sonntag im Oktober 1918; ich verbrachte den Nachmittag in der Familie meines ältern Sohnes in Kilchberg. Das gegenüberliegende Ufer entfaltete seine ganze tiefklare, sonnendurchsprühte Herbstpracht. Es war, als wollten alle Farben noch einmal in schöner, grosser Harmonie aufleuchten, bevor Novemberstürme sie zerstörten und verwehten. In diesem Aufstrahlen der Natur vor ihrem Vergehen schien die Seele meines Sohnes unbewusst ihr eigenes baldiges Scheiden zu ahnen. Ins Schauen versunken, meinte Hans: «Mutter, du hast einmal davon gesprochen, deine Lebenserinnerungen zu schreiben.» «Ach ja», erwiderte ich, «man sagt manchmal etwas, das nicht so ernst gemeint ist.» «Du solltest sie aber doch schreiben, Mutter; denn die heutige Generation der mächtig herangewachsenen sozialdemokratischen Partei hat keine Ahnung davon, unter welch schwierigen Verhältnissen die alten Vorkämpfer des Proletariats, zu denen auch unser verstorbener Vater gezählt hat, gerungen und wie viel Selbstlosigkeit und Opfersinn dazu gehörte, die Fahne stets hochzuhalten. Es wäre gut, ihr das einmal vor Augen zu führen. Mutter, versprich mir, deine Lebenserinnerungen zu schreiben!» Während ich zum Gelöbnis meine Hand in die seine legte, kam Simon, mein jüngerer Sohn. Als er hörte, um was es sich handle, sprach er freudig bewegt: «Ja, Mutter, Hans hat recht! Das Buch deines Lebens wird ein Buch werden für die Mutlosen und Verzagten. Alle, die den Glauben an die menschliche Kraft verloren haben, werden aufs neue Mut fassen, wenn sie sehen, wie du dich durchgerungen hast!» Die verschiedenen Auffassungen meiner Söhne vereinigten sich im gleichen Wunsche. An jenem leuchtenden Herbsttag erhielten sie mein Versprechen – vierzehn Tage später hatte ich keine Söhne mehr. –

Acht Jahre waren vergangen, ohne dass es mir möglich gewesen wäre, mein Lebensbuch zu beginnen. Der Verlust meiner beiden Söhne zwang mich wieder ganz in den Geschäftsbetrieb hinein; galt es doch, das grosse Unternehmen meinen Enkeln zu erhalten. Endlich mit 65 Jahren, nachdem ich die Redaktion unserer Zeitschrift meiner Nichte und bisherigen Gehilfin übertragen und mein Geschäftsteilhaber zum Verlag der Zeitung auch die Leitung des Druckereibetriebes übernommen hatte, durfte ich an die Niederschrift meiner Lebenserinnerungen denken. Leicht wurde es mir nicht; 65 Jahre sind eine lange Zeit, und ich besass keinerlei Aufzeichnungen, sondern war nur auf mein Gedächtnis angewiesen. Die Kinder- und Jugendzeit haftete noch so klar in meiner Erinnerung, dass es mir nicht schwer wurde, die hellen und dunklen Geschehnisse aneinanderzureihen. Schwerer wurde mir die Beschreibung meiner Ehejahre. Nachdem ich die Erinnerungen an das politisch Erlebte niedergeschrieben hatte, suchte Herr Bloch, Verwalter der Zentralstelle für soziale Literatur, mit verdankenswerter Zuvorkommenheit alle Schriften und Bücher, die ich zur Nachprüfung meiner Aufzeichnungen benötigte, unter den Tausenden von Bänden und Schriften heraus.

Es war für mich unsagbar schwer, die Schicksalsschläge zu schildern, und die endgültige Niederschrift dieses Teils wurde überdies durch schwere Krankheiten zeitweise unterbrochen. Auch der dritte Teil, das geschäftliche und finanzielle Ringen, brachte mich in manchen seelischen Zwiespalt. Aber der Gedanke an das meinen Söhnen gegebene Versprechen überwand alle Schwierigkeiten und gab mir die Kraft, ihren Wunsch zu erfüllen und das Buch zu vollenden.

Verena Conzett

I. Teil

Meine Jugendzeit

Meine Kindheit

Es war im Hochsommer 1867 und Ende der Schulferien, die Strassen der Stadt Zürich verödet, wie ausgestorben. Nur die Kinder mit ihren rosigen Wangen und frisch gestärkten Schürzen trippelten, eifrig erzählend, wieder der Schule zu. Oberhalb der Predigerkirche standen die Kleinkinderschüler vor ihrem Schullokal, aber anders als sonst. Kein Hüpfen, kein Springen, Fangen und Lachen war zu sehen; eng beisammen standen sie, wie eine Koppel junger Pferde, die Köpfe gesenkt, und redeten aufgeregt gegeneinander. Händchen fuhren in der Luft herum, etwas Besonderes musste passiert sein.

Neugierig eilte ich die Anhöhe hinauf und sah, wie alle die Buben und Mädchen kleine, weisse Beutelchen unter den Kleidern hervorholten, die einen hastig, die andern mit grosser Umständlichkeit. Dann wurden sie verglichen auf Form und Feinheit der Leinwand. Helen Müller sagte stolz: «Seht, mein Säcklein hängt an einem Seidenband.» Und Hansruedeli, der kleinste unserer Schüler rief: «Und meines hat eine schöne, blaue Schnur!» Ich konnte nicht verstehen, dass diese plumpen Anhänger mit solcher Wichtigkeit behandelt und von so vielen Kindern getragen wurden. Das sagte ich ihnen auch; da war das Erstaunen gross.

«Ja – aber – das sind doch Amulette, und wir tragen sie wegen der Cholera!»

«Amulette – Cholera?», wiederholte ich kopfschüttelnd.

«Nein, aber nein! Jetzt weiss Vreneli nicht einmal, dass die Cholera nach Zürich gekommen ist!» Und alle miteinander wollten es mir erklären. Aus dem Durcheinander der Stimmen hörte ich, dass die Cholera ein furchtbar böses Weib sei – eine gruselige, schwarze Frau, welche die Menschen tötet, sie erwürgt, und nur wer ein solches Amulett trägt, dem kann das Choleraweib nichts antun.

In die Aufklärungen hinein ertönte das Händeklatschen der Lehrerin und wir gingen an unsere Plätze. So unaufmerksam war ich wohl noch nie gewesen; immer musste ich an die schreckliche Frau Cholera denken. Ja, ja, ich kannte sie schon. Ganz in der Nähe unsrer Wohnung war das alte Spital, darin die Irren untergebracht waren. In dem geräumigen Hof hielten sich die ruhigen Kranken auf und oft waren wir Kinder bei ihnen, da das grosse eiserne Tor tagsüber offenstand. Diese Ärmsten hatten Freude an uns Kindern und erzählten uns viel Merkwürdiges.

Da war im Hof ein Mann, gar bärtig und struppig, der gebrauchte stets Hände und Füsse zur Fortbewegung. Der sei, so flüsterten sie uns geheimnisvoll zu, einst als kleines Kind von seiner bösen Stiefmutter im Sihlwald ausgesetzt worden. Aufgewachsen mit den Tieren des Waldes, habe er gelebt und sich genährt wie sie und gehe darum auf allen Vieren. Reden könne der Mann nicht, nur heulen und knurren und wenn man in seine Nähe komme, sei er böse und bissig. Ängstlich gingen wir dem armen Menschen aus dem Wege.

Eine der Frauen hatte mich besonders ins Herz geschlossen. Sie erwartete mich immer sehnsüchtig, um mir von ihrem Schatz zu erzählen, der in der Sonne wohne und dort auf sie warte. «Siehst du, wie er mir winkt?», fragte sie mich jedesmal. Ich mochte mich noch so sehr anstrengen, den Mann erblickte ich nie, dafür wurde es mir schwarz vor den Augen und sie schmerzten mich, während die Frau die längste Zeit verklärt in die Sonne schauen und ihrem Schatz mit der Hand zuwinken konnte.

Eines Tages, als ich im Hofe war, kam eine Frau mit flatternden Haaren gerannt; sie schrie furchtbar und wollte sich auf die Anwesenden stürzen. Nacheilende Wärter und Wärterinnen versuchten sie zu halten, aber sie tobte und schlug um sich und erst nach langem Kampfe war es möglich, die arme Irre zurückzuführen. Bleich und zitternd kam ich heim und erzählte meiner Mutter das schreckliche Erlebnis. Es hätte ihres strengen Verbotes nicht bedurft, ich ging von nun an in grossem Bogen um das Tor. Meine rege Kinderphantasie brachte natürlich sofort jene Irrsinnige mit der Cholerafrau in Zusammenhang, und die Folge dieser Vorstellung war Angst und Grauen vor ihr.

An jenem Morgen waren wir alle unaufmerksam und darum wurde ausnahmsweise schon am Vormittag ein Spaziergang gemacht, ein Greuel für mich. Wir mussten ständig an einem Strick gehen, für lebhafte Kinder, wie ich eines war, eine rechte Plage. In den Strick war in Abständen von je dreissig Zentimeter ein rundes Stück Holz, ebenfalls dreissig Zentimeter lang, eingeknotet, an dem sich an jeder Seite des Seiles ein Kind halten musste. Hatte ich sonst schon Mühe, in Reih und Glied zu gehen, an jenem Morgen wollte es gar nicht gelingen. Mir brannte der Boden unter den Füssen vor Aufregung und Verlangen, meiner Mutter erzählen zu können, dass die Frau Cholera da sei. Das wusste sie ganz sicher noch nicht; wie würde sie staunen! In meiner Ungeduld geriet ich wieder einmal nebenaus und wurde, wie schon oftmals vorher, dafür bestraft. Trotzdem habe ich in meinem langen Leben nicht gelernt, stets in den Fussstapfen anderer zu gehen.

Kaum waren wir entlassen, stürmte ich heim und flog gleich mit der Türe in die Stube hinein: «Mutter, Mutter, die Cholera ist da!» In meiner Aufregung habe ich wohl ein krauses Durcheinander erzählt, denn meine Mutter schüttelte den Kopf, nahm mich in den Arm und suchte mich durch Streicheln zu beruhigen, was sonst nicht ihre Art war. Dann sagte sie liebreich: «Aber Vreneli, was erzählst du für Schauergeschichten; das ist doch alles nicht wahr! Es gibt ja keine Frau Cholera! Denke, wenn es eine so schreckliche Frau gäbe, so müsste sie die Polizei längst eingesperrt haben. Eine Cholera gibt es wohl; das ist aber eine Krankheit, gewiss eine schreckliche, an der schon viele Väter und Mütter gestorben sind. Das ist furchtbar traurig für die Kinder, die dann keine Eltern mehr haben. Denke einmal, wenn du so ganz allein und hilflos auf der Welt wärest! Bete nur jeden Abend zum lieben Gott, dass er uns gnädig vor dieser Krankheit bewahre!»

«Aber das Amulett, Mutter?», bemerkte ich zaghaft, «bekomme ich auch eines? Weisst du, sonst erwürgt mich die Frau Cholera.»

«Kind, Kind», sprach die Mutter mit ernster Besorgnis, «ich habe dir doch soeben gesagt, dass es keine Frau Cholera gibt, dass die Cholera eine Krankheit ist. Hast du’s denn nicht gehört?» Die Stimme der Mutter wurde strenger. «Überhaupt macht die Cholera so kleinen, dummen Kindern nichts. Bete, bete jeden Abend und bitte den lieben Gott, dass er uns alle gesund bleiben lässt; das hilft mehr als alle Amulette zusammen!» Gebetet habe ich auch jede Nacht und wie! Vor dem Einschlafen sagte ich nicht bloss alle meine Gebetlein her, nein, noch eine Menge Gedichte und Verse dazu, die ich in der Schule gelernt hatte, immer schneller und lauter, im festen Glauben, der liebe Gott höre mich dann besser als jene Kinder, die nicht so schnell und laut beten konnten. Und – verschont von der Krankheit blieben wir alle.

Wir wohnten in einer der engen, steilen Gassen, die das Niederdorf mit dem Limmatquai verbinden. Überall am Limmatquai und am Sonnenquai waren die hinteren Häuserreihen zweier Gassen durch einen schmalen Graben, «Ehgraben» genannt, getrennt. In diesen Graben entleerte sich damals aller Unrat der angrenzenden Häuser und bewegte sich langsam der Limmat zu. Nach einem solchen Ehgraben hinaus lagen der Abort, die Küche und ein Schlafzimmer der Wohnungen. Wir Kinder beider Häuserreihen sahen oft stundenlang den mächtigen Ratten zu, die im Graben ihr Unwesen trieben. Hin und wieder versuchten wir, mit Besenstielen Brücken zu bauen oder zogen an einer Schnur Gegenstände von einem Fenster zum gegenüberliegenden.

Unsere Gasse hiess «Schmalzgrube» und ihre Häuser waren schmal und hoch. Nie erhellte ein Sonnenstrahl unsere Wohnung oder auch nur einen kleinen Teil davon. Jeden Morgen ging meine Mutter mit einer Schaufel voll glühender Kohlen, darauf Wacholderbeeren lagen, mehrere Male durch sämtliche Räume, um die stinkige, muffige Luft zu vertreiben. Ähnlich oder noch schlimmer wohnten die meisten Leute in den schmalen Gassen des damaligen Zürichs. Kein Wunder, dass sich die Cholera unter solch ungesunden Zuständen überall einnisten konnte.

An jedes Haus, in dem Cholerakranke lagen, wurde ein gelber Zettel geklebt mit der Aufschrift: «Hier herrscht die Cholera!» Auch unser Haus bekam eine solche Warnungstafel, denn in den Wohnungen über und unter uns lagen Cholerakranke. Trotz allem Zureden meiner Eltern und grössern Schwestern konnte ich das Grauen vor der «Frau» Cholera nicht überwinden. Wenn ich unsere dunkeln Treppen hinauf- oder hinunterstieg, spürte ich ihre Nähe, sogar ihren Atem und fühlte ihre Knochenhand, die nach mir griff. Wie oft bin ich vor Schrecken die steile Treppe hinuntergestürzt. Wenn dann die Mutter mir das Blut abwusch oder die Beulen mit einem Wasserglas plattdrückte und dringend mahnte, vorsichtiger zu sein und mich am Geländer festzuhalten, klagte ich unter Schluchzen: «Ich bin doch nicht schuld; sobald ich auf der Treppe bin, ist die Frau Cholera hinter mir her, packt mich und wirft mich die Treppe hinunter.» Die Mutter wurde ernstlich böse: «Wie oft muss ich dir noch erklären, dass es keine Frau Cholera gibt! Warum glaubst du solchen Unsinn?» Von nun an sprach ich nicht mehr darüber, mochte ich noch so oft fallen; aber die Frau Cholera war immer um mich, sie war täglich mein erster und letzter Gedanke. Manchmal hörte ich meine Mutter in traurigem Tone sagen: «Das arme Vreneli, es wird sich noch dumm fallen. Es ist aber auch ein Elend mit diesen ausgetretenen, steilen Treppen.» Eine Beule an der Stirne ist mir zur Erinnerung an jene Schreckenszeit bis heute geblieben.

Erst als die Seuche verschwand und mir alle versicherten, dass die Cholera geflohen und auf Nimmerwiedersehen fort sei, wurde ich ruhiger und lebte wieder auf; eine gewisse Bangigkeit und ein Furchtgefühl blieben aber für lange Zeit zurück. Noch Jahrzehnte später konnte ich kein dunkles Treppenhaus, kein dunkles Zimmer betreten ohne inneres Grauen, so tief hatten sich mir jene Ereignisse meiner frühesten Kindheit eingeprägt.

Aus Dank, dass unsere Familie von der Cholera verschont geblieben, gingen meine grossen Schwestern jeden Sonntag in die Kirche und nahmen mich mit. Ich verstand nichts von der Predigt und das Stillsitzen wurde mir unendlich schwer; es kribbelte mir in allen Gliedern. Meine Unruhe störte die Andacht meiner Schwestern und bald bekam ich von der einen, bald von der andern Seite einen heimlichen Stoss. Auf dem Heimweg schimpften sie mit mir, und zu Hause musste ich erst recht hören, welch ein schreckliches Kind ich sei. «Nie mehr werden wir dich in die Kirche mitnehmen», sprachen sie in nachhaltendem Ärger. Da hätte ich am liebsten aufgejauchzt, wagte es aber nicht, doch wie eine reuige Sünderin sah ich sicher nicht aus.

Im folgenden Frühjahr hatte mein Vater, der Aufseher in einer Papierfabrik war, öfters Nachtdienst und ich durfte ihm das Nachtessen bringen. Stolz und behutsam trug ich den grossen Deckelkorb, der Kartoffelsalat und eine heisse Wurst enthielt, in die Fabrik. Wie sehnsüchtig sah ich jedem Bissen nach, den der Vater in den Mund steckte, denn Kartoffelsalat und heisse Wurst schien mir der höchste aller Genüsse. Mein Vater sah die begehrlichen Blicke wohl, tat aber, als bemerkte er sie nicht; er ging vom Standpunkte aus, Gelüste der Kinder müssten unterdrückt werden, damit sie das Entbehren im spätern Leben nicht so hart ankomme. Den Rest seines Nachtessens – er ass nie alles auf – packte er wieder in den Korb und ermahnte mich, sofort nach Hause zu gehen. Der gute Vater rechnete aber nicht mit der Stärke des kindlichen Begehrens; ein blosser Blick auf den Deckel des Korbes genügte, dass mir das Wasser im Munde zusammenlief.

Kaum ausserhalb der Fabrik, stellte ich den Korb in eine Ecke des «gedeckten Brüggli» und verschlang mit Hochgenuss den Wurstzipfel und das Restchen Kartoffelsalat. Sehnsüchtig dachte ich: «Werde ich wohl in meinem Leben noch einmal genug Wurst und Kartoffelsalat bekommen, so recht genug, vier oder gar fünf Würste und eine grosse Schüssel voll Salat dazu?» Aber etwas so Feines musste auf lange Zeit blosser Wunsch bleiben. Verdiente doch damals unser Vater als Aufseher etwa zwanzig Franken in der Woche. Wenn der Lebensunterhalt auch billig war, und wir äusserst sparsam lebten, reichte der Verdienst doch kaum für eine sechsköpfige Familie. Die Mutter half mit Heimarbeit nach. Neben der Besorgung der Hausgeschäfte nähte sie Herrenhemden. Nähmaschinen gab es damals in den Haushaltungen noch nicht, nicht einmal in allen Geschäften. Wie emsig musste die gute Mutter sticheln, am dämmrigen Fenster oder beim flackernden Öllicht, bis sie das Notwendigste an Wäsche und Kleidern für uns Kinder verdient hatte.

Im folgenden Jahre kam ich in die Primarschule. Wie lange schon hatte ich mich darauf gefreut! Mit einer Schiefertafel, an der ein schönes, weisses Läppchen an einer Schnur baumelte, einem Griffelrohr und zwei, mit Goldpapier umwickelten Griffeln trippelte ich glücklich an der Hand meiner Mutter zur Schule. Sie war eine grosse, feste Frau in Wehntalertracht, Hemdärmel und Göller schimmerten in blendendem Weiss, ich meinte mich mit meiner stattlichen Mutter. Sie hingegen fühlte sich nicht wohl unter all den städtisch gekleideten Frauen, die ihre Kinder zur Schule brachten. Sie verliess das Zimmer, bevor wir unsere Plätze eingenommen hatten.

Zwei Jahre später, man schrieb 1870, führte mich mein Schulweg über die Stüssihofstatt. Dort stand eines Tages, just wie wir aus der Schule heimgehen sollten, der städtische Ausrufer, schellte erst gewaltig und rief dann mit erhobener Stimme: «Ich muss euch die Mitteilung machen, dass heute der Krieg zwischen Deutschland und Frankreich erklärt worden ist.» Sofort sammelten sich die Leute mit erschrockenen Gesichtern um ihn, die Frauen schlugen die Hände zusammen und sagten mit ängstlicher Miene: «Herrje, herrje!» Wie interessant war mir das, viel interessanter, als wenn der Ausrufer frische Fische, einen entlaufenen Hund oder eine verlorene Katze ausrief. Ich zog dem Manne bis spät abends von Strasse zu Strasse nach. Inzwischen war meine Mutter in grosser Angst um mich, denn so lange war ich noch nie ausgeblieben. Bei meiner Heimkehr löste sich ihre Angst in Zorn auf. Es half nichts, dass ich die Neuigkeit über den Kriegsausbruch vorbrachte; ich bekam eine gehörige Tracht Prügel und wurde so das erste Opfer der Kriegserklärung.

Am folgenden Sonntagmorgen nahm mich der Vater mit auf den Exerzierplatz, der sich damals von der Kaserne am Talacker bis zum Schanzengraben ausdehnte. Der ganze Platz war voll Soldaten, und ringsum standen Leute in Zivil. Ein Offizier hielt eine Rede, von der ich natürlich nichts verstand. Als er fertig war, streckten die Soldaten drei Finger in die Höhe. Der Vater mag mir wohl alles erklärt haben, aber mein Kindersinn fasste es nicht oder ich vergass es. Doch das Gesamtbild blieb mir haften, um vierundvierzig Jahre später, als meine Söhne bei Ausbruch des Weltkrieges den Treueid leisteten, lebhaft und bedeutungsvoll wieder aus der Erinnerung aufzutauchen.

Gar bald spielte der Krieg auch in unser Schulleben hinein. Wie allerorts, wurden auch wir Kleinen aufgefordert, an freien Nachmittagen in den Schullokalen Charpie zu zupfen, die damals zur Wundbehandlung der deutschen und französischen Soldaten benötigt wurde. Die kleinen, oft unsauberen Kinderhände zupften und rissen mit grösstem Eifer die Fäden aus den zusammengetragenen, alten, weichen Leinwandlappen. Manches Häuflein Charpie sah aus, als ob vorher mit der Leinwand der Boden geputzt worden wäre. Die schmutzigen Häufchen werden wohl von den Lehrerinnen weggeschafft worden sein; aber trotzdem – arme Verwundete! – wieviel Schmerzen und verlängertes Leiden mögen wir in die Charpie hineingezupft haben. Und wir wollten doch so gerne mithelfen, den armen Verwundeten Gutes tun!

Inzwischen hatten meine zehn und zwölf Jahre älteren Schwestern Albertine und Berta ihre Lehrzeit beendet. Sie verdienten und wollten nun den längst geäusserten Wunsch, unsere ungesunde, düstere Wohnung an eine freundlichere zu vertauschen, erfüllt sehen. Es ging an ein eifriges Wohnungssuchen. Am gemeinsamen Mittagstisch wurden dann Vor- und Nachteile jeder besichtigten Wohnung erörtert und abgewogen. Daraufhin unterliess ich es nie, mir das betreffende Haus genau anzusehen. Aber nicht eines davon hätte mir gefallen. Wenn ich dann beim Essen jeweils ungefragt meinen Befund zum Besten gab, erklärten die Schwestern lachend: «Auf dein Urteil haben wir gerade gewartet.» Endlich war eine Wohnung gefunden! Auf der andern Seite der Limmat, am Rennweg, wurde in einem hübschen, nach unseren Begriffen sogar vornehmen Haus eine Hinterwohnung frei, die für uns passte und unseren Mitteln entsprach. Mutter und Schwestern fanden, wir hätten wirklich Glück, wenn wir diese Wohnung erhielten, und wir bekamen sie.

Als ich am Tage des Umzuges aus der Schule in die neue Wohnung trat, stand ich wie gebannt an der offenen Türe, und es dauerte eine Weile, bis ich zu mir kam. Die ganze Stube war voller Sonne, und eine Stube mit so viel Sonnenschein hatte ich noch nie gesehen. Wohl war unser Schulzimmer auch sonnig, doch fand ich das bei den hohen Fenstern ganz selbstverständlich. Aber eine Stube so voller Sonnenschein, und dazu die unsrige, das machte mich überglücklich. Ich tanzte in der Stube umher, stieg auf einen Schemel und schaute durchs Fenster hinunter auf die grünumsponnenen Häuschen in kleinen Gärten, die an Stelle der heutigen Steinpaläste an der Bahnhofstrasse standen. Auch diese Häuschen waren in hellen Sonnenschein gebadet und jubelnd rief ich: «Mutter, Mutter, so komm doch und schau! Sieh die herzigen Häuschen, die Blumen, wie schön, wie wunderschön ist das!» Die Mutter hielt in der Arbeit inne, atmete tief auf und erwiderte: «Ja, Gott sei Dank haben auch wir wieder einmal Sonne!» Erst viel später verstand ich die aus dem tiefsten Innern kommenden Worte. War doch meine Mutter, als Tochter eines Kleinbauern, von Jugend auf an Licht und Sonne gewöhnt gewesen. Als junge Frau hatte sie ihr kleines Heimwesen in Mellikon, unserm Heimatsort, selbst bearbeitet, während der Vater in Zürich in Stellung war. Nach ihrer Übersiedelung nach Zürich musste sie jahrelang in einer Wohnung leben, aus deren Fenstern weder der Himmel noch die Sonne zu sehen waren und in deren schlechter, modriger Luft sie oft glaubte ersticken zu müssen. Arme Mutter!

Während sie das neue Heim fertig einräumte, ging ich, mein um vier Jahre jüngeres Schwesterchen Luise an der Hand, auf Entdeckungsreisen aus. Einige Häuser von uns entfernt stand quer über die Strasse das Rennwegtor, ein Überrest der alten Stadtbefestigung und damals nur noch eine Ruine. Mir erschien sie als eine herrliche Burg. Und Leute wohnten darin, und Kinder hatten sie auch, wie ich bald feststellte, und eine Holztreppe führte ausserhalb der Ruine hinauf zur Wohnung. «Was für schöne Spiele müssen sich da aufführen lassen», sagte ich mir und nahm daraufhin das alte Stadttor von allen Seiten in Augenschein.

Nachher ging die Reise weiter, die Bahnhofstrasse hinauf. Da bemerkte ich eine Anzahl Männer in hellkarierten, baumwollenen Anzügen, welche die Strasse reinigten. Ein Mann in dunkler Kleidung beaufsichtigte ihre Arbeit. Als er uns einmal den Rücken kehrte, sagte einer der Strassenwischer zu mir: «Ich sehe schon, du bist ein braves Kind. Schau, überall auf der Strasse liegen Zigarrenstummel umher; sammle sie und bringe sie mir. Wir sind immer hier in der Nähe: Musst nur aufpassen, dass dich der dort – und er zeigte mit dem Kopf gegen den Aufseher – nicht sieht.» Ich gab mein Versprechen und war hochbeglückt, den armen Menschen, denen so gar nichts gegönnt wurde, heimlich eine Freude bereiten zu können.

Beim Nachtessen erzählte ich mein Erlebnis mit den Karierten; da erklärten meine Schwestern: «Das sind Sträflinge aus dem Zuchthaus.» Der Vater fügte hinzu: «So geht es allen Menschen, die nicht brav sein können; die einen lügen und stehlen, andere kommen ins Zuchthaus, weil sie nicht gerne arbeiten, wieder andere haben im Zorn oder aus Habgier jemanden getötet.» Wie fühlte ich Erbarmen mit diesen armen Männern, die nicht hatten brav sein können. Denen wollte ich schon Zigarrenstummel sammeln, soviel als möglich. Ich musste im Bett noch lange an sie denken, denn ich hatte auch schon gelogen, arbeitete auch nicht gerne, denn der Strickstrumpf war mir grässlich. Aber fortan wollte ich immer, immer die Wahrheit sagen und fleissig stricken, auch wenn es mir noch so schwer wurde, damit ich ja nie ins Zuchthaus käme.

An den folgenden Tagen las ich eifrig die Zigarrenstummel von der Strasse auf und brachte sie dem Sträfling, der mir herzlich dankte. Nach einiger Zeit bemerkte mich der Aufseher, schimpfte mit dem Sträfling und zu mir sagte er in bösem Tone: «Wenn du den Männern noch einmal etwas gibst, nehme ich dich gleich mit und stecke dich ins Gefängnis.» Die Angst vor dem Gefängnis war so gross, dass ich keine Stummel mehr sammelte, mich überhaupt nicht mehr in die Nähe der Sträflinge wagte.

Mit Herzklopfen hörte ich oft beim Essen von den schweren Kämpfen und den für die Franzosen verlorenen Schlachten erzählen, und tiefes Mitleid ergriff mich. An einem bitterkalten Abend kam unser Vater niedergeschlagen nach Hause und berichtete: «Die Deutschen haben die Bourbaki-Armee, mehr als 80 000 Mann, über die Schweizergrenze getrieben. Die Franzosen haben unsern Soldaten alle Waffen abliefern müssen und werden nun in der ganzen Schweiz herum verteilt. In unserm Fabrikhof wimmelt es bereits von diesen armen Menschen, und dem Bahnhof gegenüber ist in aller Eile ein grosses Lager für sie bereitet worden. Es ist entsetzlich, in welchem Elend sich die Soldaten befinden. Die wenigsten haben Schuhe, ihre Füsse sind in Lumpen gewickelt, erfroren und voller Wunden; die Kleider hängen in Fetzen an ihren Körpern; dazu sind sie über und über voll Ungeziefer; wir werden ihre Kleidungsstücke alle verbrennen müssen. Menschen und Tiere leiden unsagbaren Hunger. Pferde und Maultiere haben einander die Schwänze abgefressen, darum sehen sie gar so elend aus. Oh, dieser entsetzliche Krieg!»

Am andern Tag ging ich zu den Lagern, um die armen, elenden Franzosen selbst zu sehen. Viele Frauen brachten den Soldaten Körbe voll Äpfel und Esswaren; ich sah, wie sie zuerst nach den Äpfeln langten. Nun sparte ich jeden Apfel und erbat bei Botengängen solche, um sie den Franzosen zu bringen. Wie war ich glücklich über ihr freundliches: «Merci ma petite!» Unser besonderes Interesse hatten die dunkeln, algerischen Soldaten mit den geschlungenen Kopftüchern. Sie schnitten uns Kindern allerlei Grimassen, bald zum Fürchten, bald wieder so lustig, dass wir hell auflachen mussten.

An einem Morgen – ich hatte kaum das Haus verlassen – kam ein Mädchen meiner Klasse in grosser Aufregung auf mich zugerannt und rief: «Hast du gestern nacht den Krawall gehört? Das war ein Rufen und Schreien!»

«Was du nicht sagst! Nein, davon habe ich gar nichts gehört. Wer hat denn krawallet und warum haben sie es getan?»

«Das weiss ich nicht, aber Krawall war.»

Kaum traten wir ins Schulzimmer, riefen die Kinder von allen Seiten: «Wisst ihr schon, dass die Franzosen gestern nacht Schiffchen gemietet und mit Steinen gefüllt haben und vor die Tonhalle gefahren sind? Dort haben sie mit Hilfe der Bevölkerung die Fenster eingeworfen. Sie waren wütend über die Deutschen, weil sie in der Tonhalle eine Siegesfeier abhielten und wollten sie mit den Steinen totwerfen. Viele Franzosen und andere Leute wurden von der Polizei verhaftet; da gab es Krawall.»

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