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Vera Nentwich

Wunschleben

Roman


Roman

Inhalt

1 I

2 II

3 III

4 IV

5 V

6 VI

7 VII

8 VIII

9 IX

10 X

11 XI

12 XII

13 XIII

14 XIV

15 XV

16 Impressum

I

Sie lächelt sich an und sieht einen Mann. Anja schüttelt den Kopf, doch der Mann dort im Spiegel verschwindet nicht. Fast vier Jahre ist es nun her, dass sie alles unternommen hat, damit ihr Körper die Merkmale einer Frau bekommt. Sie wollte diesen Mann nie wieder sehen, doch er verschwindet nicht. Sie greift zum Lippenstift und zieht ihre Lippen nach. Sie sind zu dünn. Dann zupft sie an den Haaren, die sorgsam frisiert sind, um die hohen Geheimratsecken zu verbergen. Wieder betrachtet sie das Spiegelbild. Der Mann ist weiblicher geworden, aber verschwunden ist er nicht. Sie verlässt das Bad, streift ihren Mantel über und nimmt die bereitliegende Einkaufstasche. »Käse«, denkt sie, während sie die Wohnungstür zuzieht. »Käse muss ich auch noch besorgen.«

Das Neubaugebiet, durch das sie geht, ist erst vor einigen Jahren entstanden. Hier, wo ordentliche Backsteinhäuschen mit akkurat gepflegten Vorgärten sich aneinanderreihen, wohnen zumeist Familien. Die Väter arbeiten in der nahen Großstadt und die Mütter hüten die Kinder. Am Tag stehen nur vereinzelt die Zweitwagen vor den Türen der Eigenheime. Abends füllen sich dann die Stellplätze und Garagen mit den größeren Karossen.

Anja nimmt gerne den Weg durch den Park mit dem unvermeidlichen Spielplatz, der aber heute leer und still daliegt. Im kleinen Teich gegenüber spiegelt sich die Sonne. Automatisch suchen ihre Augen nach dem Entenpärchen, das sonst immer auf sie zugeschwommen kommt. Aber nicht dieses Mal. Es scheint überhaupt kein Lebewesen hier zu sein. Lediglich der etwas frische Wind umspielt ihre nylonbestrumpften Beine. Eigentlich eher Hosenwetter. Aber sie hasst Hosen. Hosen sind männlich. »Allerdings auch warm«, denkt sie missmutig. Im Supermarkt nimmt sie sich einen Einkaufskorb, geht zum Gemüse- und Obststand und packt Äpfel fürs Frühstücksmüsli in eine Plastiktüte. An der Kühltheke fällt ihr der Käse wieder ein. Sie legt ein bereits abgepacktes Stück Emmentaler und mittelalten Gouda in Scheiben neben den Beutel mit den Äpfeln. Nachdem sie noch Joghurt und Butter in den Korb gelegt hat, denkt sie darüber nach, ob sie sich zum Abendessen etwas Besonderes gönnen sollte. Sie beantwortet diese Frage mit Ja und entscheidet sich für italienische Antipasti. Vor den beiden Kassen hat sich jeweils eine Schlange gebildet. Sie entscheidet sich für die rechte.

Vor Anja steht ein Mann mittleren Alters. Verstohlen betrachtet sie seine Einkäufe. Brot, Salami, Mettwurst, Bier und eine Dose Eintopf. Definitiv ein Single.

»Guten Tag«, sagt die Kassiererin, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Aber Anja versucht ohnehin, Blickkontakt zu vermeiden, während sie ihre Einkäufe gleich vom Band in der Tasche verstaut. Sie hasst dieses kurze Zucken im Blick des Gegenübers, das die Zweifel an ihrem Äußeren ausdrückt. Die Unsicherheit, mit der die Leute sie anschauen. Sie wissen nicht, ob sie wirklich eine Frau oder einen Mann vor sich haben.

»Du wirst nie die Frau sein, die du sein willst! Du wirst immer anders sein, immer ein Freak!«, sagen ihr die Blicke der Menschen. Deshalb hält sie sich lieber fern von ihnen und kann zumindest in ihrer Vorstellung die Frau sein, die sie sein möchte.

»11,58 €«

Anja hält das Portemonnaie schon in der Hand, kramt die Münzen heraus und legt den abgezählten Betrag auf das Band.

Wortlos nimmt die Kassiererin das Geld und händigt im Gegenzug den Bon aus. »Vielen Dank für Ihren Einkauf«, sagt sie noch mechanisch, während sie sich bereits der nächsten Kundin zuwendet.

»Tschüss«, erwidert Anja. Aber das ist nur für sie hörbar.

Zurück geht sie nicht durch den Park, sondern bleibt auf der Straße. Das Haus, in dem sie lebt, ist bereits von Weitem sichtbar. Es ist das einzige Mehrfamilienhaus unter lauter Eigenheimen und Doppelhaushälften. Zwölf Parteien, aufgeteilt auf vier Etagen, die meisten sind Eigentümer. Anja wohnt nur zur Miete und muss somit nicht an Eigentümerversammlungen teilnehmen oder sich um irgendwelche Modernisierungen kümmern. Außer den gelegentlichen Begegnungen im Hausflur, bei denen sie ein neutrales »Guten Tag« haucht, hat sie keinen Kontakt zu ihren Nachbarn. Einmal hatte der alleinstehende Herr im Parterre ein Paket für sie angenommen und ihr einen Zettel in den Briefkasten gelegt. Als sie vom Einkaufen zurückgekommen war, hatte sie bei ihm geklingelt und war überrascht gewesen, dass er sie gleich mit Namen begrüßte. »Hallo, Frau Köhler, hier ist Ihr Paket. Ist hoffentlich etwas Schönes«, hatte er gesagt.

Sie hatte das Paket genommen, sich kurz bedankt und war rasch die Treppe nach oben gelaufen.

Anjas Leben verläuft in geschützten Bahnen. Alle Brücken zum Bisherigen hat sie gekappt. Sie wollte die Vergangenheit vergessen, ihr falsches Leben. Stattdessen wartete ein neues Leben auf sie. Eins, das sie sich immer gewünscht hat. Sie war jetzt Anja, nur Anja. Nichts und niemand sollte daran zweifeln oder es gar infrage stellen.

Zuerst war jeder Schritt ein Abenteuer gewesen. Wie ein zartes Rinnsal, das sich über den Sand schlängelt, hatte sie zaghafte Schritte gemacht und das Leben ertastet. Mit der Zeit hatte dieses Rinnsal ein kleines Bachbett gegraben, das ihr Halt bietet. Sie kann in diesem Graben aus Bewährtem bleiben und das Risiko, dass jemand kommt und ihren Traum zerstört, ist gering.

Anja wohnt auf der zweiten Etage. In die rechte Wohnung ist vor Kurzem jemand neu eingezogen. Sie hat die Bewohner aber noch nie gesehen. Bisher kennt sie nur das selbstgemachte Türschild, in das »Bettina Mertens« krakelig in den Ton gekratzt wurde. Auf der linken Seite wohnt eine ältere Dame, die nur noch selten ihre Wohnung verlässt und samstags immer Besuch von ihren Enkeln bekommt, die auf der Treppe jede Menge Lärm verursachen. Einen Aufzug gibt es nicht. Anja hat sich oft gefragt, wie man ein modernes Haus ohne Aufzug bauen konnte. Wo doch alle älter werden, und eine Treppe im Alter zu einem unüberwindbaren Hindernis werden kann.

Heute denkt sie mehr an die Antipasti, die sie sich gönnen möchte. Dazu ein Glas Rotwein und dann den Krimi weiterlesen, der gerade eine so spannende Wendung nimmt. Sie greift in das Seitenfach ihrer Tasche, in dem sich normalerweise der Wohnungsschlüssel befindet. Es ist leer. Sie langt tiefer hinein, spreizt den Reißverschluss, aber der Schlüssel ist nicht da.

Das konnte doch nicht sein. Sie hatte ihn hier reingelegt. Also musste sie ihn irgendwo verloren haben. Anja geht in Gedanken den Weg, den sie zurückgelegt hat, noch einmal ab. Nein, sie kann den Schlüssel nicht verloren haben. Der Reißverschluss war ja geschlossen. Wie hätte der Schlüssel da herausfallen können? Es gibt nur eine Erklärung. Sie muss ihn vergessen haben. Er liegt wahrscheinlich auf dem Sideboard, auf dem er immer liegt.

Fassungslos starrt Anja die verschlossene Tür an. Langsam steigt Panik in ihr auf. Ihr Herz pocht. Solche Ereignisse sind in dem Bach ihres Lebens nicht vorgesehen. Überraschungen mag sie nicht. Mehr noch, sie machen ihr Angst. Jetzt hier zu stehen, im Wind vor dem Haus, und nicht zu wissen, wie sie in ihre Wohnung kommen soll, ist eine Herausforderung. Sie fühlt sich ungeschützt, angreifbar und ihres sicheren Hafens beraubt. Zu allem Überfluss reißt der Wind an ihrem dünnen, kunstvoll drapierten Haaransatz und droht, sie noch angreifbarer zu machen.

Anja sieht wieder zu ihrer Tasche, durchsucht sie erneut, kramt alle Einkäufe heraus und legt sie auf die Treppenstufen. Ihr Handy hat sie natürlich auch nicht dabei. Früher gab es wenigstens noch Telefonzellen. Aber wen hätte sie schon anrufen sollen?

»Hallo, Frau Köhler.«

Die Dame aus dem ersten Stock steht in der Haustür.

»Wollen Sie herein?«

»Oh ja, danke.« Hastig packt Anja die Einkäufe wieder in die Tasche und schlüpft in den Hausflur, während die Dame das Haus verlässt. Anja läuft die Treppen hoch und steht schließlich vor ihrer Wohnungstür. Nun muss sie noch irgendwie hineinkommen.

Plötzlich verabschiedet sich das Licht im Treppenhaus und sie erschrickt. Ihre Augen brauchen eine gefühlte Ewigkeit, bis sie wieder Konturen wahrnehmen können. Das schwache rote Lämpchen am Lichtschalter erscheint ihr wie ein rettender Leuchtturm bei tobender See. Wieder Licht. Was tun? Sie muss einen Schlüsseldienst rufen, aber das Handy liegt wahrscheinlich friedlich neben dem vermissten Schlüsselbund.

»Da liegt’s ja gut«, knurrt sie. Es bleibt ihr nichts anderes übrig, sie muss bei einem ihrer Nachbarn klingeln und darum bitten, den Schlüsseldienst rufen zu dürfen.

Der Bach in ihrem Inneren trifft auf ein Hindernis. Eine Mauer. Er weiß, es gibt kein Durchkommen, dennoch drückt er verzweifelt gegen sie, bis er sich schließlich aufbäumt und den Vorsprung überwindet. Sie entscheidet sich, bei der älteren Dame zu klingeln. Aus ihrer Wohnung hört sie Stimmen. Als sie näher an die Tür kommt, bemerkt sie, dass die Gespräche aus dem Fernsehen stammen. Die nachmittägliche Seifenoper.

Sie klingelt. Es tut sich nichts. Sie klingelt noch einmal. Immer noch nichts. Anscheinend hört die Dame nicht mehr gut, und das Klingeln erhält keine Chance, die Schicksale der Seifenoper zu übertönen. Also muss Anja es bei den Unbekannten versuchen. Wieder drückt sie einen Klingelknopf. Kurz darauf vernimmt sie Schritte und eine Stimme, die in die Sprechanlage spricht. Anja klopft, um deutlich zu machen, dass sie direkt vor der Wohnungstür steht. Eine Bewegung am Türspion, und dann öffnet sie sich.

 

Grüne Augen schauen sie fragend an. Sie gehören zu einer Frau, Mitte dreißig, kurzes rotblondes Haar, ein paar Sommersprossen. Sie hält ein Geschirrhandtuch in der Hand.

»Entschuldigen Sie die Störung. Mein Name ist Anja Köhler und ich bin Ihre Nachbarin«, beginnt Anja zögerlich, dabei zeigt sie auf ihre verschlossene Wohnungstür. Die grünen Augen schauen sie weiter fragend an. »Ich habe mich ausgesperrt und wollte fragen, ob ich bei Ihnen kurz einen Schlüsseldienst anrufen dürfte.«

»Mama, wer ist das?«, tönt es aus einem Zimmer und ein kleiner, ebenfalls rothaariger Junge kommt angerannt, hält sich am Bein der Mutter fest und starrt Anja an.

»Oh, entschuldigen Sie, das ist mein Sohn. Jonas, sag höflich guten Tag.« Jonas reagiert nicht und starrt weiter.

»Ach, kommen Sie doch herein. Natürlich können Sie den Schlüsseldienst anrufen. Entschuldigen Sie die Unordnung. Jonas, ich habe dir doch gesagt, du sollst deine Figuren nicht im Flur aufstellen. Das Telefon ist dort und das Telefonbuch liegt daneben. Nun komm, wir räumen die Figuren weg.«

Sie verschwindet mit Jonas in einem Nebenraum. Anja sucht im Telefonbuch nach einem Schlüsseldienst und wählt die Nummer. Ein etwas brummiger Mann mit Akzent meldet sich am anderen Ende. Nachdem sie ihm die Situation erklärt und die Adresse durchgegeben hat, versichert er, dass er in einer Stunde da sein wird. Anja legt auf und will gerade die Wohnung verlassen, als die Frau wieder in den Flur kommt.

»Haben Sie einen Schlüsseldienst erreicht?«

»Ja, er kommt in einer Stunde«, antwortet Anja.

»Oh, wo wollen Sie denn so lange hin? Bleiben Sie doch! Ich mache uns einen Kaffee. Es ist schön, dass ich eine Nachbarin kennenlerne.«

Anja liegt bereits eine Ausrede auf der Zunge, um nicht hierbleiben zu müssen, aber der Gedanke, eine Stunde im Treppenhaus zu warten, ist nicht wirklich einladend. Also folgt sie der Handbewegung der Frau und gelangt ins Wohnzimmer.

»Ach, legen Sie doch Ihren Mantel ab.«

Stimmt, sie trägt ja immer noch den Mantel. Nun fallen ihr auch noch die Einkäufe ein, die vor ihrer Wohnungstür stehen.

»Ach, ich habe auch noch meine Lebensmittel im Treppenhaus stehen.«

»Wie, bitte?«

Die grünen Augen schauen wieder fragend. »Ich war einkaufen, die Tasche steht noch im Treppenhaus«, erklärt Anja.

»Hoffentlich verdirbt da nichts. Holen Sie doch die Taschen herein, und ich lege die frischen Sachen in meinen Kühlschrank, solange sie warten.«

Anja gibt ihr den Mantel, holt die Einkaufstasche und überreicht der Frau den Käse und den Joghurt.

»Ah, Antipasti«, sagte die Frau, als ihr Blick auf die eingekaufte Auswahl fällt. Schnell macht Anja die Einkaufstasche zu und stellt sie in die Diele.

»Wie mögen Sie Ihren Kaffee?«

»Nur Milch, bitte.«

Anja fühlt sich unwohl. Unsicher blickt sie durch die offene Tür ins Wohnzimmer. Die Einrichtung ist schlicht und modern. Einige Spielzeuge liegen auf dem Boden, Zeitschriften bedecken den Couchtisch, in der Ecke stehen ein Bügelbrett und ein Wäschekorb.

»Setzen Sie sich doch.«

Die Frau weist auf die Couch. Anja setzt sich auf die Kante und versucht, die Knie zusammenzupressen. Ihre Gedanken kreisen darum, wie sie sich wohl benehmen muss und ob sie die Sitzhaltung länger durchhalten kann.

Die Frau bringt den Kaffee, stellt die Tasse vor Anja ab und gießt ein. »Ach, ich bin ja so unhöflich!«

Die Frau streckt ihr die Hand entgegen. »Ich heiße Bettina Mertens.«

Sie lächelt und Anja gibt ihr kurz die Hand.

»Es ist wirklich schön, dass wir uns mal treffen. Jonas und ich sind ja gerade erst eingezogen, und ich kenne hier noch niemanden. Wie lange wohnen Sie schon hier?«

»Seit vier Jahren«, antwortet Anja und da beginnt die Nachbarin auch schon zu erzählen, dass sie sich von Jonas’ Vater getrennt hat, weil der Schwiegervater Besseres für seinen Sohn wollte, und der sich nicht eindeutig für sie und Jonas entscheiden konnte. Dass die Familie ihr dann eine großzügige Unterhaltszahlung angeboten hat, wenn sie wegziehen würde, und man ihr auch diese Wohnung gekauft hätte.

Anja ist erstaunt, dass Bettina einem fremden Menschen gleich bei der ersten Begegnung so viel Persönliches von sich erzählt. Wie reagiert man darauf? Unsicher nippt sie gelegentlich an ihrem Kaffee, der mittlerweile schon kalt ist. Aber sie wagt es auch nicht, sich nachzuschenken oder darum zu bitten, deshalb sitzt sie still auf der Couchkante und hofft, dass der Schlüsseldienst endlich klingelt.

»Und was hat Sie in diese Stadt getrieben?« Frau Mertens schaut sie fragend an.

Ich wollte weit weg von zuhause, sollte sie sagen. Aber diese Antwort würde weitere Fragen auslösen, und das will sie auf jeden Fall vermeiden.

Gebrüll erlöst sie. Jonas stürmt herein und klettert auf Bettinas Schoß. Wieder starrt er Anja an.

»Wer bist du?«

»Eure Nachbarin, Anja«

Kinder machen ihr Angst. Sie sind unberechenbar und sagen, was sie denken. Anja sieht Jonas an, dass ihn etwas beschäftigt.

»Bist du ein Junge oder ein Mädchen?«, platzt es aus ihm heraus.

»Was stellst du für Fragen?«, ermahnt ihn seine Mutter. »Entschuldigen Sie! Kinder ...«

Anja sitzt immer noch bewegungslos da. Eine quälende Pause entsteht, bis es endlich klingelt.

Bettina geht zur Tür. »Der Schlüsseldienst«, ruft sie.

Anja steht erleichtert auf.

»Danke für den Kaffee«, haucht sie beim Hinausgehen.

»War schön Sie kennenzulernen«, erwidert Bettina. »Kommen Sie doch mal wieder auf einen Kaffee vorbei. Jonas und ich freuen uns immer über Besuch.«

Anja versucht sich an einem Lächeln, ist sich aber nicht sicher, ob ihr dieses gelungen ist, als sie die Wohnungstür hinter sich schließt.

Der Mitarbeiter vom Schlüsseldienst ist ein junger Mann, türkischer Herkunft, der schwungvoll die Treppe hinauf stürmt.

»Hallo, um welche Tür geht es?«

Anja zeigt auf ihre Wohnungstür.

»Ich brauche aber vorher Ihren Ausweis. Könnte ja sonst jeder kommen.«

Während Anja ihren Ausweis aus der Tasche fischt, beobachtet er sie genau. Das Foto auf dem Ausweis, den Anja ihm reicht, sieht merkwürdig aus, findet sie. Anja sieht immer nur einen Mann mit Perücke, wenn sie es betrachtet, und wenn man es genau nimmt, ist es das auch.

»Okay, dann wollen wir mal«, sagt der Mann, als er den Ausweis zurückgibt und sich der Tür zuwendet. Er holt ein einfaches gebogenes Stück Blech aus seinem Arbeitskoffer, schiebt es in den Spalt zwischen Tür und Rahmen, schlägt einmal mit einem Gummihammer auf das Endstück des Blechs, und schon ist die Sache erledigt. Die Tür lässt sich viel zu leicht ohne Schlüssel öffnen.

Der junge Mann holt einen Quittungsblock aus der Tasche.

»Das macht 115 €.«

»Wow, das ist aber ein hoher Stundenlohn«, kann sich Anja nicht verkneifen.

Der Schlüsselmann reagiert gereizt. »Das ist noch günstig! Rufen sie doch mal die anderen Dienste im Telefonbuch an. Das sind die Abzocker. Ich muss schließlich hier anfahren, habe die Kosten für die Werbung und die Ausbildung.«

»Nun beruhigen Sie sich doch!« Anja muss ihre Stimme anheben, damit er sie überhaupt wahrnimmt. »Ist doch gut!«

Der Mann mustert sie von oben bis unten, während sie das Geld abzählt. Anja nimmt jeden seiner Blicke wahr. Das Herz pocht ihr bis zum Hals. Sie gibt ihm das Geld. Er nimmt es, reicht ihr die Quittung und lässt sie nicht aus den Augen.

»Was bist du? Ne Tunte?«

Anjas Herz stockt.

»Nein«, murmelt sie, packt die Einkaufstasche und verschwindet schnell in ihrer Wohnung. Hier steht sie nun, mit pochendem Herzen, und versucht, ihren Atem zu beruhigen. Erst als ihr dies gelingt, schaut sie durch den Türspion. Der Mann ist weg.

Fast schon mechanisch bringt sie die Einkäufe in die Küche. Beim Auspacken fällt ihr ein, dass der Käse und der Joghurt noch bei der Nachbarin im Kühlschrank stehen. Und ihr Mantel ist auch noch dort. Ihre Augen werden feucht, Tränen bahnen sich ihren Weg. Sie schafft es noch gerade bis zu ihrer Couch, bis sie aus ihr herausbrechen. Die Tränen strömen. Der Magen verkrampft sich, als wolle er einen mächtigen Tumor herauspressen. Wann wird sie je eine Frau sein? Sie will schreien und kann es nicht.

II

Schwarze Augen starren sie an. Sie kann nicht erkennen, wer es ist. Alles ist verschwommen. Und dieses Geräusch lenkt sie ab. Es wird immer lauter. Drohender. Drängt sich in den Vordergrund und die schwarzen Augen verschwinden im Nebel. Ganz langsam realisiert sie, dass dieses Geräusch ihr Wecker ist. Sie öffnet die Augen und schaut auf eine weiße Schlafzimmerwand. Mit einer kurzen Bewegung bringt sie den Wecker zum Schweigen und versucht, sich zu orientieren.

Sie war irgendwann in der Nacht auf ihrer Couch aufgewacht. Ihre Augen hatten sich verklebt angefühlt und im Bad hatte sie eine Fratze aus roten Augen und quer über das ganze Gesicht verwischtem Mascara erwartet. Sie hatte sich ordentlich abgeschminkt, wie sie das jeden Abend machte, und war ins Bett gegangen, um in einen unruhigen Schlaf mit wirren Träumen zu fallen. Erinnern konnte Anja sich aber selten an sie. Sie hätte gerne gewusst, was ihr die Träume über sie und ihr Leben verraten. Sie hatte sogar schon mal einen Block und einen Stift auf den Nachttisch gelegt, um sich schnell Notizen machen zu können. Aber es hatte nie etwas genutzt.

Sie schaut auf die Uhr. Schon kurz vor acht. Sie ist spät dran. Einige ihrer Kunden rufen gerne früh an. Sie wissen, dass Anja von zuhause aus arbeitet und eigentlich immer da ist. Glücklicherweise kann sie so auch im Morgenmantel ans Telefon gehen und den Eindruck der Geschäftigkeit erwecken.

Sie steht auf, geht ins Bad und beginnt ihr morgendliches Programm. Der erste Schritt führt sie immer auf die Waage. Ein Blick auf die Zahlen auf dem Display. Kein Zuwachs. Sie ist zufrieden. Dann dreht sie die Dusche auf, legt das Handtuch bereit und steigt in die Kabine. Das warme Wasser tut gut. Minutenlang steht sie nur so da und lässt das Wasser am Körper hinunterlaufen. Erst dann greift sie zum Duschgel und seift sich langsam ein. Sie mag es, ihre weiche Haut zu spüren. Vorsichtig streicht sie über ihre Brüste. Nachgiebig und zart fühlen sie sich an. Sie könnten sogar etwas gewachsen sein. Ein wohliges Gefühl steigt in ihr auf. Vielleicht ist es sogar den Bruchteil einer Sekunde lang eine Art Glücksgefühl. Sie hat Brüste.

Schöne Brüste. Ja, das ist Glück. Sie streicht an ihrem Körper weiter hinunter und erreicht die Stelle, wo ihren Wünschen nach ein dichtes Dreieck aus Haaren sein sollte. Doch bei ihr sprießen nur vereinzelt ein paar Härchen, die darüber hinaus auch noch recht hell und somit fast nicht zu sehen sind. Die Operationsnarbe ist kaum noch zu fühlen. Beherzt duscht sie die Seife ab, stellt das Wasser aus und greift zum Handtuch.

Vor dem Badezimmerspiegel überprüft sie ihr Gesicht. Es ist nicht sehr kantig. Glücklicherweise hat sie keinen erkennbaren Adamsapfel. Sie streicht über die Wangen und spürt die Bartstoppeln. Fast drei Jahre Epilation konnten den Bartwuchs nicht vollends stoppen, und so hat sie sich damit abgefunden, sich doch mehr oder weniger regelmäßig rasieren zu müssen. Aber auch diese Härchen sind hell, sodass sie nicht auffallen. Ein Vorteil, wenn man blond ist. Straßenköterblond hat ihre Mutter immer gesagt. Irgendwie eine undefinierbare Farbe. Eigentlich gar keine Farbe. Sie trägt ihr Haar zu einem kurzen Bob geschnitten. Vorsichtig darauf bedacht, dass die Geheimratsecken verborgen bleiben. Es ist noch nicht so lange her, da trug sie jeden Tag eine Perücke. Irgendwann hatte sie sich getraut, war in einen Friseursalon gegangen und hatte gefragt, ob man nicht etwas aus ihrem Haar machen könne. Die Friseurin war sehr nett gewesen und hatte sich gleich ans Werk gemacht. Als Anja sich dann zum ersten Mal mit eigenen frisierten Haaren im Spiegel gesehen hatte, war es, als ob sie zu neuem Leben erwacht sei. Und niemand hatte unangenehme Fragen gestellt oder gar hinter ihrem Rücken getuschelt. Seitdem ist sie Stammkundin in diesem Salon.

Das Make-up geht ihr leicht von der Hand. Da hat sie schließlich schon jahrelange Übung. Schon als Jugendliche hatte sie sich heimlich geschminkt und später gab es ihre geheimen Exkursionen. Kurze Ausbrüche aus dem Leben als Mann, in denen sie sich schminkte, Frauenkleider anzog und nachts durch einsame Straßen ging.

 

Anja lächelt beim Gedanken, dass diese Zeit endlich vorüber war, und verteilt sorgfältig die Grundierung auf das Gesicht. Nicht, dass sie besonders viele Unebenheiten kaschieren müsste. Ihre Haut ist eben und feinporig. Die Augen werden gekonnt mit unterschiedlichen Lidschattentönen akzentuiert und die Wimpern mit Mascara hervorgehoben. Sie betrachtet das Werk im Spiegel und ist zufrieden. Ihr nächster Schritt führt sie zum Kleiderschrank. Sie greift zur Jeans und dem flauschigen Pullover. Beides würde sie draußen nie anziehen. Sieht viel zu männlich aus. Aber heute ist es egal. Heute will sie auf gar keinen Fall aus dem Haus gehen.

Jetzt nur noch das übliche Müsli zum Frühstück zubereiten, Tee aufsetzen, und dann kann sie sich ihrem aktuellen Projekt am PC widmen.

Als sie die Zutaten für das Müsli zusammenstellt, zuckt sie zusammen. Der Joghurt fehlt. Der steht noch bei der Nachbarin im Kühlschrank. In Gedanken flucht sie vor sich hin und untersucht den Kühlschrank, ob sich nicht andere Frühstücksmöglichkeiten bieten. Aber es herrscht gähnende Leere. Es bleiben nur zwei Möglichkeiten: Den Tag ohne Frühstück beginnen oder bei der Nachbarin klingeln. Wie um die Entscheidung zu forcieren, knurrt auch noch ihr Magen. Sie wird wohl klingeln müssen. Ihr Herz schlägt schneller. Sie überlegt kurz, ob sie sich noch umziehen sollte, aber dann kommt sie sich blöd vor. Umziehen, um bei der Nachbarin zu klingeln? Das ist doch hirnrissig, schimpft sie mit sich. Doch bevor sie die Wohnung verlässt, schaut sie noch einmal prüfend in den Spiegel.

»Wird schon nichts passieren«, murmelt sie, öffnet die Wohnungstür und klingelt nebenan. Schritte ertönen und die Tür öffnet sich.

»Ach hallo, Frau Köhler«, begrüßt Bettina sie, »Sie möchten bestimmt Ihre Einkäufe abholen. Kommen Sie doch rein.«

Anja macht einen zaghaften Schritt in die Wohnung.

»Jonas ist im Kindergarten«, ruft die Nachbarin und kommt damit einer Nachfrage zuvor.

Anja folgt ihr in die Küche. Eine Kaffeetasse steht auf dem Küchentisch, neben der aufgeschlagenen Tageszeitung liegt ein angebissenes Brot.

»Bin gerade beim Frühstück. Ich habe ja erst Ruhe, wenn Jonas im Kindergarten ist. Möchten Sie auch einen Kaffee?«

Nein, danke, möchte Anja erwidern, tut es aber aus einem unerfindlichen Grund nicht. Sie steht nur da, was die Nachbarin als Zustimmung deutet.

»Mit Milch, nicht wahr?«

Anja nickt.

»Setzen Sie sich doch.«

Anja folgt der Aufforderung. Bettina stellt ihr eine große Tasse mit dampfendem Kaffee hin. Anjas Magen knurrt aufdringlich.

»Soll ich Ihnen auch ein Brot machen?« Eine Antwort wartet Bettina nicht ab, sondern steht gleich auf und sucht Brot und Aufschnitt zusammen.

»Haben Sie Urlaub?«

»Nein, ich arbeite zu Hause«, erwidert Anja.

»Oh, das ist ja angenehm. Was machen Sie denn genau?«

»Ich mache Webseiten für Firmen.«

»Das ist bestimmt ein interessanter Beruf. Ich habe ja nur den PC, um mal ins Internet zu gehen und E-Mails zu schreiben. Mehr kann ich damit nicht. So, guten Appetit!«

Sie stellt das Brot und die anderen Utensilien vor Anja auf den Küchentisch.

»Sollen wir uns nicht duzen? Ich heiße Bettina.«

»Anja.«

Sie geben sich förmlich die Hand.

»Es ist schön, dass ich hier mal jemanden kennenlerne.«

Anja nickt wieder und beginnt, sich ein Brot zu schmieren, wobei Bettina erneut das Wort ergreift. »In den ersten Wochen in der Stadt hatte ich es schwer, mich zu orientieren. Ich fand mich nur schlecht zurecht und musste ständig suchen.«

Anja kann nur gelegentlich nicken.

»Am Wochenende ist hier doch Schützenfest, nicht wahr? Das soll ja ganz schön sein. Gehst du hin?«

Anja schüttelt heftig den Kopf, während sie in ihr Brot beißt.

»Och, schade. Jonas ist am Wochenende bei meinen Eltern, und ich würde gerne mal unter Leute gehen. Aber allein? Oder ist das Fest nicht zu empfehlen?«

Anjas Gedanken rattern. »Das ist nichts für mich.«

»Hast du einen Partner?«

Wieder kann Anja nur kräftig den Kopf schütteln.

»Aber dann musst du erst recht hingehen. Wäre doch schön, sich mal wieder in der Männerwelt umzuschauen.«

Am liebsten würde Anja aufspringen und wegrennen, und ist doch wie gelähmt. Panik kommt in ihr auf. Die ganze Situation überfordert sie. Alle möglichen Ausreden schwirren durch ihren Kopf, werden bewertet und auf ihre Folgen hin beurteilt.

»Ich… Ich habe keine Zeit.«

Welch blöde Ausrede, Anja rollt innerlich mit den Augen. Und wirkungslos noch dazu, wie sie sogleich an Bettinas Antwort merkt.

»Keine Zeit gibt es nicht. Komm! Gib dir einen Ruck! Ich hole dich um acht Uhr ab!«

Starre. Anja ist zu keiner Regung fähig. Es könnte ja die Falsche sein.

»Ich muss jetzt dringend arbeiten. Kunden rufen an.«

Nur schnell raus. Sie greift ihre Einkäufe und nimmt nur noch verschwommen wahr, wie Bettina ihr etwas nachruft, das wie ›Bis Freitag‹ klingt.

Der Tag verläuft wie im Nebel. Sie spricht mit Kunden, arbeitet an ihrem aktuellen Projekt und schreibt ein paar Rechnungen, aber am Abend kann sie nicht mehr sagen, was genau sie getan hat. Ständig hallen Bettinas Worte in ihren Ohren.

›Bis Freitag!‹

Immer wieder war sie kurz davor gewesen, einfach zur ihr zu gehen, zu klingeln und ihr kurz und knapp mitzuteilen, dass sie am Freitag nicht ausgehen wolle. Sie stand sogar schon an ihrer Haustür, die Hand am Türgriff. Dann aber hatte sie innegehalten. So würde doch kein normaler Mensch reagieren. Dabei will Anja nichts mehr, als ein normaler Mensch sein. Besser noch: Eine normale Frau. Ein normaler Mensch hätte doch kein Problem, mit einer Freundin auszugehen. Freundin, wie das klingt.

Schon wieder schreckt Anja zusammen. Dieses Mal aber ist es dieses komische, wohlige Gefühl, das sich in ihr breitmacht und das sie erschreckt. Freundin! Bisher hat sie keine. Aber es wäre schön, eine zu haben.

Freundinnen sind etwas ganz Besonderes. In Büchern gibt es immer wieder Geschichten über das besondere Verhältnis unter Freundinnen. Freundinnen, die sich alles erzählen. Freundinnen, die ausgehen, sich über Männer unterhalten und über sexuelle Erlebnisse. Wieder ergreift sie die Panik. Da ist etwas, das unbeherrschbar zu sein scheint, aber dennoch einen unbeschreibbaren Reiz ausübt.

Ich muss mich ablenken! Das übliche Abendritual könnte helfen. Wasser kochen, Tee aufgießen und dann mit einem guten Buch auf die Couch legen. Vielleicht schaut sie heute noch die Tagesschau, um wieder auf dem Laufenden zu sein, was so in der Welt los ist. Und in dem Krimi, den sie gerade liest, kommen keine Freundinnen vor. Nur ein einsamer und wortkarger Detektiv.

Das Ritual hilft. Als sie später ins Bett geht, ist die Panik nicht mehr zu spüren. Morgen wird sie klarer sehen und die Verabredung absagen, da ist sie sich ganz sicher.

Das Aufwachen ist wie immer. Keine Erinnerung an einen Traum. Das Morgenprogramm läuft ebenso automatisch ab wie jeden Tag. Heute entscheidet Anja sich für den kurzen schwarzen Rock, der viel von ihren Beinen zeigt. Sie hat schlanke Beine. Einer der wenigen Vorteile, sagt sie sich immer. Sie braucht das gute Gefühl, das ihr dieser Rock und die Nylonstrümpfe geben. Gleich wird sie bei der Nachbarin klingeln und höflich aber bestimmt sagen, dass sie morgen nicht mit zum Schützenfest gehen wird. Ja, das wird sie tun. Nach dem Frühstück.

Heute ist immerhin Joghurt da, denkt sie und muss lachen.

Es ist so weit. Beherzt öffnet sie die Wohnungstür und geht auf den Flur zur Nachbarwohnung. Einmal tief durchatmen, dann klingelt sie. Schritte. Die Tür öffnet sich.

»Kommst du jetzt immer zum Frühstück?« Bettina lacht.

Wieso lacht sie denn? Verdammt! Die Szene im Kopf hatte anders ausgesehen.

»Komm herein. Kaffee steht bereit.«

Anja will nicht in die Wohnung. Sie will ganz bestimmt und nüchtern sagen, dass sie nicht mitkommen will. Sie will sich umdrehen und gehen und kein Lachen sehen, keinen Kaffee trinken und auch nicht in die Küche gehen. Aber nun macht sie es doch. Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als Bettina unsicher zu folgen.