Reiten ohne Gebiss

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Reiten ohne Gebiss
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ZUR AUTORIN


Ute Lehmann ist seit 1996 vollberuflich als Reitercoach und Pferdetrainerin tätig. Seit 1998 lebt und arbeitet sie in Dänemark. Ihr Fokus liegt darauf, einen freundlichen und gelassenen Umgang zwischen Mensch und Pferd zu fördern und mithilfe von durchdachter Vorbereitung Konflikte zu vermeiden oder zu lösen. Zusammen mit ihren eigenen Pferden arbeitet sie in den Bereichen der akademischen Dressur, mit Garrocha, Agility, Trail und Freiheitsdressur.

Utes Motto: Der Schlüssel zur erfolgreichen Ausbildung liegt in der Achtung vor dem Schüler.

REITEN OHNE GEBISS

Haftungsausschluss

Autorin und Verlag haben den Inhalt dieses Buches mit großer Sorgfalt und nach bestem Wissen und Gewissen zusammengestellt. Für eventuelle Schäden an Mensch und Tier, die als Folge von Handlungen und/oder gefassten Beschlüssen aufgrund der gegebenen Informationen entstehen, kann dennoch keine Haftung übernommen werden.

Copyright © 2015 by Crystal Verlag, Wentorf

Gestaltung und Satz: Crystal Design, Wentorf

Titelfoto: Dagmar Heller

Fotos im Innenteil: Dagmar Heller, wenn nicht separat benannt

Zeichnungen im Innenteil: Susanne Retsch-Amschler

Lektorat: Alessandra Kreibaum

Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.

Abdruck oder Speicherung in elektronischen Medien nur nach vorheriger schriftlicher

Genehmigung durch den Verlag.

ISBN: 978-3-95847-005-7

REITEN
OHNE GEBISS

Die große Freiheit?

UTE LEHMANN


Vorwort
Die große Freiheit
Aus Tradition
Das neue Wissen
Das Für und Wider
Möglichkeiten schaffen
Eine Bereicherung
Über den Tellerrand geschaut
Was bedeutet „pferdefreundlich“?
Was wählt das Pferd?
Achtung – Fallgrube!
Missverständnisse und Fakten
Der Fressreflex
Der Kontrollverlust
Wenn eine weiche Zäumung nicht funktioniert, gebrauche eine schärfere
Trainieren ohne Schmerzen
Wichtige Aspekte der Anatomie des Pferdekopfes
Gesichtsnerven
Gesichtsmuskeln
Knochen und Bindegewebe, Gelenke
Maul
Zähne
Sicheres Anpassen der Ausrüstung
Tipps und Daumenregeln
Gebräuchliche Zäumung
Verschiedene Wirkungsweisen
Mit Hebel- oder Flaschenzugeffekt
Direkte Übertragung des Zügelsignals
Mechanische Hackamore
Glücksrad, Blümchen, Flower
Merothisches Reithalfter/Bitless Bridle
Cavemore
Schnur- oder Knotenhalfter/Natural Hackamore
Bändele (Rai-Reiten)
Sidepull/Lindel
Kappzaum (Caveçon, Serreta, Pluvinel, englischer Kappzaum)
Bosal (Kalifornische Hackamore)
Kolumbianisches Bosal


Wo und wie wirken gebisslose Zäumungen?

Vorwort


Mit diesem Buch möchte ich gern alle Pferdefreunde unterstützen, die in ihrem Trainingsbereich nach neuen Möglichkeiten suchen.

Zu der Frage, ob mit oder ohne Gebiss geritten werden soll oder kann, gibt es einen großen Diskussionsbedarf, und ich möchte hier auf sachlicher Ebene zu dieser Diskussion beitragen. Mir ist es dabei ein besonderes Anliegen, Möglichkeiten anzubieten und Alternativen aufzuzeigen. Denn häufig ist ein Grund für die Unzufriedenheit der Mangel an Alternativen.

Ich glaube nicht, dass es uns dient, die „anderen“ zu beschimpfen und uns selbst auf die Schulter zu klopfen. Zu viel (Selbst-)Bestätigung kann mitunter auch zu einer Stagnation führen, einem Sich-nicht-Weiterentwickeln. Nur mit Verständnis gegenüber den Einsichten und Überzeugungen anderer können wir alle Alternativen sehen und uns verändern, wenn wir dafür bereit sind. Den anderen erleichtert diese Haltung, sich nicht ständig schützen oder Widerstand leisten zu müssen.

Viele Alternativen in unserer Trainings- und Kommunikationswerkzeugkiste zu sammeln ist sehr wichtig. Denn:

Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, für den sieht jedes Problem wie ein Nagel aus.

Abraham Harold Maslow (1908−1970)

Eines der Probleme in der Diskussion über das Reiten mit oder ohne Gebiss ist die sogenannte falsche Dichotomie. Dabei wird eine Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten als Notwendigkeit dargestellt, obwohl weitere Entscheidungsmöglichkeiten existieren. Ein paar kleine Beispiele dafür:

Person A zu Person B: „Dir gefällt es nicht, dass ich meine Pferde in der Box halte? Dann findest du es wohl in Ordnung, wenn Pferde auf sumpfigen Koppeln bis zum Bauch im Matsch stehen und dort, im kalten Wind frierend, verhungern müssen?“ Person C zu Person D: „Du findest es nicht richtig, dass ich mein Pferd mit Gebiss reite? Dann bist du wohl eine von diesen Hippiereiterinnen, die mit ihren Pferden nur gebisslos herumjuxen und sie damit kaputtreiten?“

Person E zu Person F: „Du magst meine gebisslose Zäumung nicht und reitest mit Gebiss? Dann zerrst du wohl die ganze Zeit deinem Pferd im Maul sägend den Kopf hinter die Senkrechte, sodass das Pferd weder atmen noch sehen kann?“

Diese unangemessenen Reaktionen zeugen von wenig hinterfragtem Wissen und hinterlassen den Betroffenen perplex. Es wird in diesem Fall kein Weg zur Verständigung gebahnt und der Graben zwischen den Fronten wird tiefer. Hintergrundwissen und Fakten sind nicht die einzigen Kriterien – wir können aber keine sachlichen Diskussionen führen, wenn wir keine fundierten Informationen haben.

Die Informationen und das fachliche Hintergrundwissen, das ich in diesem Buch mit den Lesern teilen möchte, basieren sowohl auf unzähligen individuellen Erfahrungen mit Pferden und deren Menschen als auch auf zahlreichen Kursen und Fortbildungen in allen Bereichen der Haltung und des Trainings von Pferden.

Im Lauf der letzten 20 Jahre, in meiner Tätigkeit als Vollzeittrainerin und Instrukteurin, habe ich jeden Tag etwas Neues gelernt. Einen kleinen Teil davon möchte ich hier wiedergeben.

 

Mit Respekt Ute Lehmann

Der Schlüssel zu jeder Form von Ausbildung liegt im Respekt vor dem Schüler.

Dies gilt sowohl für zwei- als auch für vierbeinige Schüler.

Ralph Waldo Emerson

Die grosse Freiheit


Für viele Reiter symbolisiert das Reiten ohne Gebiss mehr Freiheit − ein Loslassen von Kontrolle und Zwang. Die Traumvorstellung von einem entspannten Galopp über Wiesen und Felder oder am Strand entlang am losen Zügel beinhaltet oft auch das Idealbild, mit so wenig Ausrüstung wie möglich reiten zu können − vielleicht ganz ohne Sattel und Zaumzeug, auf jeden Fall ohne Gebiss.

https://www.youtube.com/watch?v=9TmValzoJwI

Gebisslos reiten macht Spaß und ist eine schöne Alternative für die meisten Pferde. Abwechslung im Training kann Pferd und Reiter mit neuen Herausforderungen wieder frische Energie geben. Oft erlebe ich, dass ein Wechsel der Ausrüstung das Pferd motiviert, wieder genauer hinzuhören, und den Reiter ermutigt, neue Wege auszuprobieren.

Schon lange hat auch mich diese Form des Reitens fasziniert. In besonderer Erinnerung steht ein Bild, das ich 1984 in einer Zeitschrift fand: Peter Kreinberg auf Indian Chief’s Smoke, einem seiner wunderbaren Araber-Pintos in wunderschöner Aufrichtung und Versammlung in einer kalifornischen Hackamore mit einer Mecate aus Pferdehaaren. Dieses Bild habe ich nie vergessen – es hing, aus einer Zeitschrift ausgeschnitten, jahrelang an meiner damaligen Teenager-Pinnwand.


Irish Cob Saphir mit Kim im See.

Aus Tradition


In vielen Arbeitsreitweisen werden die Pferde während der traditionellen Ausbildung teilweise gebisslos geritten. Vermutlich stammt dieses Wissen von wertvollen Erfahrungen: Man nutzt die Zäumungen, die in der Ausbildung am besten funktionieren. Das Gespür für das Pferd war sicherlich nicht bei allen traditionellen Trainern gleich gut ausgeprägt. Dennoch hat sich eine sinnvolle Tradition im Hinblick auf die gewählte Ausrüstung im Ausbildungsverlauf herausgebildet.

Interessant ist beispielsweise in der Vaquero-Tradition, dass hier die Zeit des Zahnwechsels berücksichtigt wird und die Pferde oft erst mit dreieinhalb Jahren angeritten werden. Gestartet wird mit einfachem Snaffle oder mit Wassertrense. Erst ein Jahr später, mit circa viereinhalb Jahren, wird auf die klassische Hackamore (Bosal plus Mecate) umgestellt − also erst, wenn die drei vorderen Backenzähne gewechselt sind (siehe Abschnitt „Zähne“, Seite 30 f.). Danach wird mithilfe des Bosals wieder zum Gebiss umgestellt − zur Kandare, die als Krönung am Schluss einhändig und am losen Zügel das Pferd formt.

Viele Westernreiter reiten junge Pferde mit Sidepull oder Bosal (siehe Seite 42 f.). Sie können ihre jungen Pferde (bis fünfjährig) auch auf dem Turnier im Bosal vorstellen.

Die traditionelle Ausbildung in Spanien beginnt mit der Serreta (siehe Seite 42) auf der Pferdenase – später dann in Kombination mit einer Kandare und zuletzt auf blanker Kandare. In Frankreich übernimmt das Caveçon eine ähnliche Aufgabe. Hier sieht man oft die Guardians, die Hirten der Camargue, mit Kandare und Caveçon reiten: Manchmal sind die Pferde mit einem stehenden Martingal am Caveçon ausgebunden, um zu verhindern, dass das Pferd bei schnellen Wendungen und hartem Zügelanzug den Kopf hochreißt.

Innerhalb der Rasse der Peruanischen Pasos und vieler anderer Gangpferde werden die Pferde erst mit vier Jahren gebisslos mit dem peruanischen oder kolumbianischen Bosal eingeritten. Die Bosalphase dauert circa ein Jahr, und danach wird umgestellt auf Kandare − erst mit vier Zügeln, zuletzt ohne Bosal.

Das neue Wissen


Viele moderne Trainer verwenden gebisslose Zäumungen in bestimmten Phasen der Ausbildung des jungen Pferdes. Und auch in den traditionellen Ställen ist das Longieren mit Kappzaum üblich. Teilweise wird der Kappzaum beim ersten Gewöhnen an das Reitergewicht eingesetzt.

Heute haben wir Zugang zu einem enormen Wissen um die vielen Vorgänge im Körper des Pferdes. Wir können röntgen, mit Ultraschall diagnostizieren, sezieren und obduzieren. Wir präparieren ganze Skelette, prüfen und überwachen Organfunktionen, definieren und studieren Epiphysenfugen und stellen erstaunt fest, dass die weichen Knorpel in der Wirbelsäule des Pferdes doch erst im Alter von fünf bis sechs Jahren vollständig stabil verknöchert sind. Basierend auf diesen Untersuchungen wird es zum Beispiel heutzutage manchen Pferden zugestanden, erst körperlich fertig zu reifen, bevor sie ein Reitergewicht tragen müssen.

Aufgrund der vielen negativen Episoden der letzten Zeit − vom Missbrauch der traditionellen Ausrüstung bis hin zu grotesken Bildern von Pferden mit aus Sauerstoffmangel blau angelaufenen Zungen oder blutenden Mundwinkeln − gibt es einen weltweiten Boom hin zum gebisslosen Reiten. Viele Pferdebesitzer möchten sich gern, verständlicherweise, deutlich von jenen Schreckensszenarien distanzieren.

Auf vielen Ebenen wird dafür gekämpft, eine Zulassung für gebisslose Zäumungen auf nationalen und internationalen Turnieren durchzusetzen. In den Niederlanden ist dies seit April 2014 bereits erlaubt – hoffentlich folgen andere Länder bald diesem guten Beispiel!

Die Ablehnung dieser Zulassung durch die FEI ergibt keinen Sinn, haben doch einige sehr angesehene Dressur- und Springreiter schon gezeigt, dass es auch ohne Gebiss geht. Beispielsweise zeigen die französische Grand-Prix-Reiterin Alizée Froment auf dem Lusitanohengst Mistral du Coussoul und natürlich die deutsche Grand-Prix-Reiterin Uta Gräf mit ihrem Holsteiner Hengst Le Noir fantastische Präsentationen fehlerfreier Grand-Prix-Lektionen – ohne Gebiss.

Die wissenschaftlichen Studien von Andrew McLean (PhD Equine cognition and learning) zeigen, dass die Lernfähigkeit des Pferdes fällt, je höher sein Stressniveau ist. McLean beschreibt in vielen Studien und publizierten Artikeln, wie wichtig es ist, dass das Training stetig auf eine leichtere Hilfengebung hinzielt, um das Pferd zur Mitarbeit anzuregen und dafür zu belohnen.

Das neue Wissen kann so einen sinnvollen, pferdegerechten Zugang fördern – wenn wir es nutzen. Es ist von großer Bedeutung, dass wir mit Herz und Gefühl an die Sache herangehen − ohne die wissenschaftlichen Fakten aus den Augen zu verlieren. Für alle Pferdebesitzer, die ihre Freizeit harmonisch mit ihrem Pferd zusammen verbringen möchten, ist es wichtig, beständig Informationen einzuholen und bestehende Traditionen zu hinterfragen.

Das Für und Wider


Möglichkeiten schaffen

Meine Pferde gehen alle gebisslos in allen Gangarten auf dem Platz, im Wald und am Strand – manche auch ganz ohne Zäumung oder mit Halsring. Oft reite ich mit Schnurhalfter am losen Zügel – oder mit Kappzaum oder Cavamore, wenn ich Stellungs- und Biegungsarbeit machen möchte.

Alle meine Pferde können aber auch mit Gebiss geritten werden. Ich benutze jedoch konsequent keinen Nasenriemen in Kombination mit einem Gebiss, da mir damit unter anderem der Vorteil verloren ginge, dem Pferd volle Bewegungsfreiheit im Kiefergelenk zu ermöglichen. Eine Ausnahme ist die Ausbildungsphase, in der ich von Gebiss auf gebisslos (oder umgekehrt) umstelle, da ich hier ein Halfter oder einen Kappzaum zusammen mit dem Gebiss gebrauche.

Der Start mit einer gebisslosen Zäumung macht dem Pferd das Leben viel leichter – kennen doch alle Pferde die Signale des Stallhalfters. Eine Zäumung, die ähnliche Signale gibt wie das Halfter, ist daher ein wertvolles Werkzeug für das Einreiten von jungen Pferden. Diese müssen anfangs sehr viele Eindrücke verarbeiten. Daher ist es sinnvoll, das Gewöhnen an ein Gebiss nicht in der gleichen Trainingsperiode anzugehen.

Eine Bereicherung

Es ist toll, einen entspannten Ausritt – vielleicht mit Handpferd − zu machen, bei dem beide Pferde am Halfter laufen. Wir können Pause machen und die Pferde können Gras fressen, unterwegs ein paar wilde Hagebutten von den Sträuchern am Wegrand zupfen oder ein paar kleine Birkenzweige abbeißen. Auch das Trinken am See ist einfacher ohne Gebiss im Maul.

Die Pferde laufen am losen Zügel, in freier Kopf- und Halshaltung, und das Herz geht mir auf, wenn ich auf der langen abgemähten Waldwiese die Zügel von beiden Pferden vor mir auf den Sattel legen kann und beide weiter im ruhigen Galopp nebeneinanderher laufen.


Galopp mit Handpferd.

Zur Abwechslung im Training und natürlich auch, falls physisch bedingt ein Reiten mit Gebiss nicht infrage kommt (bei Zungen- oder Kieferverletzungen zum Beispiel), ist das gebisslose Reiten eine tolle Alternative. Ich denke, dass man ein Pferd durchaus sein Leben lang gesund gebisslos reiten kann, wenn man das möchte. Das setzt voraus, dass der Reiter mit viel Gefühl und Erfahrung und unter fachkundiger Anleitung eines erfahrenen Reitlehrers das Pferd in einer korrekten entspannten Haltung reiten kann. Das ist natürlich genauso der Fall beim Reiten mit Gebiss. Es gibt nur leider noch nicht so viele Reitlehrer, die den Schülern fachkundige Hilfestellung beim gebisslosen Reiten geben können.

Über den Tellerrand geschaut

Dem Pferd zuliebe ist es wichtig, dass wir uns offen und neugierig umsehen. Wir sollten anderen erzählen, wie und warum wir unsere Pferde reiten und ausbilden, ohne dass es darum geht, wer „recht hat“. Man muss nicht die anderen davon überzeugen, dass die eigene Reitweise die bessere ist. Es geht darum zu erklären, welche Besonderheiten die eigene Reitweise hat und warum sie diese hat. Und es geht auch darum, Gemeinsamkeiten zu entdecken und Mut zu machen, einmal etwas Neues auszuprobieren.

Was bedeutet „pferdefreundlich“?

„Pferdefreundliche Ausrüstung“ wird vielerorts angepriesen, und es scheint mir, dass dieser Trend eine Schattenseite haben könnte. Bei der Recherche für dieses Buch bin ich auf eine Unzahl von Produkten gestoßen, die mit Beschreibungen wie „Dein Pferd wird es dir danken“ oder „Die softe Alternative“ Käufer anlocken wollen − und es auch tun. Wir können Zäumungen mit den Namen „Anemone“, „Lilie“ und „Jasmin“ erwerben und sogar eine „gebisslose, zwanglose Sidepull-Zäumung“ – was ist wohl eine zwanglose Zäumung? Eine ohne Krawatte?

 

Ute auf Saphir: mit Halsriemen und Pfeil und Bogen.

Doch „wenn der gewünschte Effekt nicht erreicht wird“, kann man Hebelarme zum Anschrauben zukaufen. Man geht also davon aus, dass das Pferd einfach nur mehr Druck (nicht etwa mehr Training) braucht, um (gefälligst) zu reagieren.

Die Beschreibung „konsequent gewaltfrei“ wird gleichgesetzt mit dem bloßen Einkauf oder der Anwendung eines Kopfstücks – als ob man mit diesem Teil nicht auch Gewalt ausüben könnte. Ein anderer Hersteller verspricht, dass sein Produkt „Unbehagen durch sanften Druck ersetzt, ohne dass der Reiter die Führung verliert“. Ich muss also nur eines dieser Wundergeräte kaufen, und schon bin ich soft, sanft und „zwanglos“ unterwegs und habe obendrein auch noch die Führung übernommen?

Die psychologischen Auswirkungen einer solchen Anschaffung können jedoch leider negative Folgen für das Pferd haben. Beispielsweise zeigen Untersuchungen, dass wir eher bereit sind, einer momentanen Laune nachzugeben, wenn wir zuvor etwas „Gutes“ getan haben (Kelly McGonigal, The Willpower Instinct). Das könnte zum Beispiel bedeuten, dass unser Entschluss, beständig an unserer Zügelführung zu arbeiten, dem Pferd mehr Zeit zu geben und geduldiger zu werden, dadurch beeinträchtigt wird, dass wir gerade eine „softe“ Zäumung für viel Geld gekauft haben.

Darüber hinaus sehe ich leider häufiger Reiter, die frustriert und kräftig am Zügel ziehen, weil das Pferd jetzt mit dieser super pferdefreundlichen gebisslosen Trense geht und wenigstens ein bisschen dankbar sein sollte – das stand doch auch auf dem Beipackzettel?

Also – was ist pferdefreundlich? Pferdefreundlich und sanft kann man nicht kaufen, man muss es erarbeiten und erspüren. Das Gespür für das Wesen jedes einzelnen Pferdes, seine Vorlieben und Passionen, wird den verständigen Reiter die passende Zäumung finden lassen − eventuell mithilfe des Trainers. Kein seriöser Ausbilder, egal welcher Reitweise, würde einem Jungpferd eine Kandare ins Maul hängen, weil er es mit Trense nicht anhalten kann.

ZUM AUSPROBIEREN: Am eigenen Körper erleben!

Oft werden Zügel weich und bequem gemacht, damit dem Reiter die Hände nicht wehtun. Was wäre, wenn wir dem Reiter einmal Heuschnüre (die schönen alten, dünnen, aus Hanf) in die Hand geben würden, die rechts und links an einem Stallhalfter befestigt wären? Oder wenigstens an der Zäumung, mit der der Reiter gerade reitet?

Noch eindrücklicher wäre es, die Einwirkung auf den Nasenrücken selbst zu erleben, sind doch unsere Hände weniger empfindlich und weitaus besser gepolstert als das dünnhäutige Nasenbein. Als Test können wir einmal einen Bleistift oder Kugelschreiber quer über unsere Nase legen und dann mit den Zeigefingern rechts und links an den Enden des Stifts diesen gegen das Nasenbein drücken. Der Effekt wird uns überraschen! Um die Auswirkungen des Hebels zu spüren, kann man das stumpfe Ende des Bleistifts an der einen Wange fixieren und dann vorsichtig auf das andere Ende drücken. Einige werden jetzt argumentieren, schließlich nicht mit einer Stange auf der Nase des Pferdes zu reiten. Nein, natürlich nicht. Wählen wir also statt des Bleistifts eine flexible Variante. Im ungefähren Größenverhältnis könnte das etwa ein Verbindungskabel sein – zum Beispiel von einem Ladegerät. Dazu legen wir das Kabel oder die Schnur (bitte ohne dass das andere Ende in der Steckdose ist) über unseren Nasenrücken und drücken an beiden Seiten langsam immer kräftiger nach hinten. Dann ziehen wir ein paarmal ruckartig. Wie verändert sich das Gefühl mit einem doppelt oder vierfach gelegten Kabel? Diese Erfahrung sollten wir beim nächsten Mal mit zu unserem Pferd nehmen!

Der Trend im Freizeitbereich, der scharfe gebisslose Hebelzäumungen in unkundige Anfängerhände geraten lässt, sollte daher mit Sorge betrachtet werden. Wir sollten auch einmal darüber nachdenken, warum es üblich ist, sowohl Gebisse als auch gebisslose Zäumungen dünner oder härter oder beides zu machen als die Zügel. Und warum der Reiter dann immer noch in manchen Fällen die Hände mit Handschuhen schützen muss.

Hab also Acht, Reiter, auf dich selbst.

Ist dein Pferd stur, heftig, ungehorsam,

so dürften wir frech die Behauptung

aufstellen, dir fehle es an liebenswürdigem

Charakter und richtiger Methode.

François Baucher (1796−1873)