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Ursula Engel (geb. 1952) Psychoanalytikerin, leitete nach ihrem Psychologie-Studium eine psychiatrische Station für chronisch psychisch Kranke.

Veröffentlichungen u. a.: „Vom ‚Thorapeutikum‘ nach Chestnut Lodge. Frieda Fromm-Reichmann 1889-1957“, „Zum Verhältnis von Psychiatrie und Pädagogik. Aspekte einer vernunftkritischen Psychiatriegeschichte“.

Ursula Engel

FLIRMSSE

Irre Geschichten aus Spreeblick

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2017

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei der Autorin

Titelbild © Beate Binder

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

INHALT

Cover

Über die Autorin

Titel

Impressum

VORWORT

LOOHOOS, GÜHÜNTZEHELI

TJA, NU DENN

SCHNEEWEISSE COLA IN ACAPULCO

ABERICH

DER TRAGÖDIE ERSTER TEIL

SCHÖN WIE URLAUB

SÜSSERE GLOCKEN

ABSCHLACHTUNG

JOLDOHODIHO

BETREUTE WOHNGEMEINSCHAFT

ZUM SCHLUSS

VORWORT

Gern erinnert sich Barbara an die 1980er Jahre, verbunden mit intensiven, wechselnden Gefühlen, aber immer mit einem Gefühl der Dankbarkeit für die spannenden, bereichernden und sehr besonderen Erfahrungen, die sie machen konnte.

Sie war Stationspsychologin gewesen auf einer Station für chronisch psychisch Kranke, der Station 13 in Spreeblick. Ihre Erinnerungen bündeln sich um zwei stark idealisierte Aspekte: Einerseits sah sie sich als heldenhafte Kämpferin für das Wohl der PatientInnen, obwohl nüchtern betrachtet eigentlich nicht viel mehr passiert war, als dass aus einer überfüllten, undifferenziert belegten Station für vierzig chronisch psychisch kranke Männer (Schizophrene, geistig Behinderte, Alkoholiker, Epileptiker u. a.) eine nach therapeutischen Gesichtspunkten gestaltete Wohnstation für Schizophrene beiderlei Geschlechts wurde. Für Barbaras Gefühl, und vermutlich auch für manche PatientInnen und Schwestern, hatte sich aber eine Revolution ereignet. Die PatientInnen waren ihr nahegekommen, sie hatte gelernt mit vielen ihrer wunderlichen Äußerungen und seltsamen Verhaltensweisen umzugehen. Horizonte der Verrücktheit hatten sich ihr eröffnet, sie hatte existentielle Erfahrungen gemacht und vieles verstanden.

Andererseits denkt sie sehnsüchtig an die Stimmung friedlicher Toleranz zurück, die damals Verrückten und Ausgeflippten aller Art in der gesamten Gesellschaft, besonders in Spreeblick, entgegengebracht wurde. Die Zeit kommt ihr, trotz aller einschränkenden, ärmlichen Begleitumstände, wie sie auf der Station gegeben waren, idyllisch vor. Die optimistische Aufbruchsstimmung der TherapeutInnen erfüllt sie nachträglich mit Wehmut, weil sie endgültig vorbei zu sein scheinen.

Auch nach dreißig Jahren ist sie noch bestürzt vom Leid der PatientInnen, gerührt von ihrer Scheu und der bizarren Unbeholfenheit ihrer Kontaktversuche, die oft ungewollt komisch wirkten. Es ist auch viel gelacht worden.

Die große Angst, die oft geherrscht hatte, fühlt sie nicht mehr, erinnert sich aber noch gut daran. Sie hatte oftmals untergründig gebrodelt, zog sich manchmal stundenlang hin, führte zu einer Lähmung des Denkens und Handelns, bis sie sich schließlich entlud, oft in einer gewalttätigen Aktion, sei es im Ausbruch eines Patienten, sei es durch seine Überwältigung durch das Personal.

Für die Arbeit hat Barbara sich mit Haut und Haaren engagiert, zehn Jahre lang. Sie war manchmal erschöpft und frustriert, oft von Angst gequält, meistens aber eher gelassen und fast fröhlich.

Sie ist stolz auf ihre Arbeit. Sie hat über viele Jahre hinweg zahlreiche PatientInnen gründlich kennengelernt, für die sie mit der Zeit eine Stabilität und Vertrauen verkörpernde Bezugsperson wurde.

Was aber hat sich tatsächlich getan auf der Station 13? Dort hatten vierzig chronisch Kranke gelebt, auf engstem Raum zusammengepfercht, meistens in Vier-Bett-Zimmern, ohne eigenen Schrank, viele sogar ohne Nachttisch. Gemeinsam war ihnen nur, dass sie alle schon jahre- oder jahrzehntelang in Kliniken gelebt hatten und keinerlei Verbindung mehr zum Leben außerhalb hatten: keine Arbeit, keine Wohnung, keine Familie, kein Geld. In mehrfacher Hinsicht also die Ärmsten der Armen, die sich nicht mehr im Alltag außerhalb des Krankenhauses zurechtfinden konnten. Nirgendwo wurden sie geduldet, es gab auch keine Entlassungsmöglichkeiten für sie. Alleine zu leben waren sie nicht fähig, sie in eine andere Einrichtung zu verlegen, machte in den wenigsten Fällen Sinn und war, wenn überhaupt, nur mit größten Schwierigkeiten möglich.

Aus dieser Perspektivlosigkeit entstand Hoffnungslosigkeit, bei PatientInnen und bei BetreuerInnen gleichermaßen. Die hatte eine Art gesetzlosen Zustand mit sich gebracht: jeder machte, was er wollte, ohne Rücksicht zu nehmen. Es war vom Personal lange überhaupt nicht auf die häufig vorkommende Gewalt oder den Diebstahl reagiert worden, als lohne es sich nicht mehr oder käme nicht mehr darauf an. Es schien, der jeweils Stärkere würde sich immer durchsetzen.

Die Patienten galten als „Therapieversager“, weder Medikamente noch Gespräche hatten ihren Zustand verbessern können. Die meisten ÄrztInnen reagierten darauf ebenfalls wie „Therapieversager“: sie lehnten die Arbeit auf dieser Station ab, beschäftigten sich lieber mit PatientInnen, die das Krankenhaus auch wieder verlassen konnten. Jemand wurde eingeliefert, mediziert und möglichst schnell wieder entlassen, sobald sich sein Zustand gebessert hatte, auch wenn niemand so genau wusste, warum. Bei einer solchen kurzfristigen Behandlung blieb es für viele PatientInnen, nur bei einem Drittel nahm die Krankheit einen chronischen Verlauf.

Den problematischen Verhältnissen wurde gleich zu Anfang durch einfache Maßnahmen begegnet: Die „Fehluntergebrachten“ (geistig Behinderte, Epileptiker, Alkoholiker) wurden mit großen Schwierigkeiten in geeignetere Einrichtungen verlegt, sodass, bis auf wenige Ausnahmen, nur Schizophrene übrigblieben. Die Station wurde zu einer „Wohnstation“ erklärt. Sie sollte eine nach therapeutischen Gesichtspunkten gestaltete Wohnmöglichkeit für Schizophrene beiderlei Geschlechts sein. Ein Ort, an dem PatientInnen dauerhaft wohnen konnten, ohne therapeutischem Druck ausgesetzt zu sein. Gefordert war nur, möglichst über alles zu reden. Alle, die PatientInnen und das Personal, waren durch diese Bestimmung entlastet von therapeutischen Ansprüchen, denen keiner gerecht werden konnte. So entstand ein Ort, um Leben zu lernen und sich in den gegebenen, eng beschränkten Verhältnissen mit anstehenden Problemen auseinanderzusetzen.

Eine neue verbindliche Regel wurde eingeführt: „Wer schlägt, der fliegt.“ Sie bedeutete für einen Patienten, der gewalttätig geworden war, dass er in den Wachsaal auf eine andere Station verlegt wurde, wo er so lange bleiben musste, bis der Vorfall in Ruhe geklärt worden war. Das war einerseits eine Strafe und signalisierte klar, dass die Regelverletzung nicht toleriert wurde. Andererseits blieb so auch Zeit für eine diagnostische Klärung mit entsprechenden therapeutischen Konsequenzen. Hatte der Patient eventuell Stimmen gehört oder stand unter dem Einfluss einer krankhaften Idee? Waren Medikamente sinnvoll? Diese Regelung bewirkte eine Beruhigung und deutliche Abnahme von Gewaltausbrüchen.

War jemand vom Pflegepersonal gewalttätig geworden, wurde er sofort und ohne weitere Diskussion von der Station entlassen.

Alle, die dort arbeiteten, engagierten sich so gut sie konnten für die Verbesserung der psychiatrischen Versorgung. Sie lernten Geduld und Toleranz für das oft skurrile, manchmal bedrohliche, meistens unverständliche Reden und Verhalten der Schizophrenen und geistig schwer Behinderten, von denen einige auf der Station geblieben waren. Die Schwestern erfuhren, dass Kontinuität, Verlässlichkeit und Klarheit die Verwirrung der PatientInnen mildern konnte, und erlebten die Beziehung zu ihnen als interessante Beschäftigung, im glücklichen Fall als Bereicherung.

 

Nach 1968 entstand in der BRD im Zusammenhang gesellschaftlicher Veränderungen eine psychiatriekritische Bewegung. Auf breiter Ebene bildeten sich Initiativen, die in der Regel gegen ein rein somatisches Krankheitsverständnis, gegen ausschließlich medikamentöse Behandlung, vor allem auch gegen die Elektroschockbehandlung eintraten, stattdessen mehr Verständnis und Unterstützung für psychiatrische PatientInnen forderten, am radikalsten das „Sozialistische Patientenkollektiv“, später die „Irrenoffensive“. Die Sozialpsychiatrie entstand mit Zeitschriften und Publikationen, am bekanntesten der Titel „Irren ist menschlich“ (Dörner / Plog).

Es setzte auch, sehr zaghaft zunächst, die Auseinandersetzung mit der Psychiatrie im Nationalsozialismus ein. Die „Euthanasie“ hatte vor allem, und das wurde am wenigsten in Frage gestellt, die Ermordung chronisch psychisch Kranker und Behinderter zum Ziel gehabt. Dass erst 2014 ein Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde eröffnet wurde, der das bis dahin vorhandene unauffällige Schild ersetzt, zeigt, wie vernachlässigt diese Menschen immer noch sind.

Zu einem Ideal der psychiatriekritischen Bewegung wurde Franco Basaglia, als er 1978 in Italien die Schließung der Irrenanstalten erreichte, ein radikaler und mutiger Schritt. Schon Wilhelm Griesinger hatte 1872 gefordert, die akut psychisch Kranken müssten in gut erreichbaren städtischen Krankenhäusern behandelt werden, während die chronisch Kranken aus dem Krankenhaus befreit und in einer natürlichen Umgebung, der Familienpflege, versorgt werden müssten. Wie weitsichtig diese Reformvorstellung war, zeigte sich 1978 in Italien. Die Chroniker waren zwar befreit aus den Kliniken, aber auch alleingelassen und unfähig, ohne beschützende Umgebung zu überleben. Sie hatten kein Einkommen, waren obdachlos und wurden als hilflose Personen in andere soziale Einrichtungen gebracht, in denen sie oftmals schlechter lebten, als zuvor in der Psychiatrie.

Der Bundestag veröffentlichte 1975 die Psychiatrie-Enquete, in der die Mängel der psychiatrischen Versorgung umfassend erfasst wurden. Ihr folgte ein „Bundesmodellprogramm“, von dem einige psychiatrische Institutionen profitierten, unter anderen auch, in geringem Ausmaß, die in diesem Buch beschriebene Station 13.

Für alle daran Beteiligten war die Arbeit eine wertvolle Erfahrung. Für die Psychiatrie insgesamt nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.

LOOHOOS, GÜHÜNTZEHELI

Je näher sie dem Krankenhaus kam, desto langsamer fuhr Barbara, um den Arbeitsbeginn wenigstens um einige Minuten hinauszuzögern. Sie war genervt von einem Ohrwurm, einem alten Gassenhauer, den sie schließlich sogar laut vor sich hinsang: „Zickenschulze aus Bernau, nahm sich schon die achte Frau.“

Dieses Lied hatten die Patienten während des Sommerfestes immer wieder hören wollen, einige hatten dazu getanzt, andere begeistert mitgesungen.

‚So ein Quatsch‘, dachte Barbara und unterbrach ihr Singen, ‚vielleicht die sechste oder die fünfte, höchstens die vierte Frau, aber ist doch auch ganz egal.‘

Sie ärgerte sich über den blöden Schlager und spürte deutlich, dass sie Angst hatte. Angst, dass auf der Station wieder irgendetwas passiert war, eine Schlägerei vielleicht, ein bedrohlicher Ausraster oder ein beängstigender Zusammenbruch.

Kaum hatte sie die Station betreten, wandte sich Schwester Kim, eine Koreanerin, ihr höflich lächelnd zu.

„Herr Leissner hat schon wieder einen Sessel aus dem Fenster geworfen. Der liegt jetzt kaputt auf dem Rasen vor dem Fenster.“

Gesehen hatte ihn allerdings niemand dabei, geredet hatte darüber auch noch niemand mit ihm. Alle versuchten, ihrer Angst auszuweichen, indem sie Kontakt mit ihm vermieden, taten so, als sei nichts Besonderes geschehen. Schwester Kims Lächeln entsprach ihrer koreanischen Höflichkeit, schien Barbara aber heute auch wie die fest zementierte Abwehr ihrer Gefühle. Obwohl sie meistens einen sehr guten, beruhigend wirkenden Kontakt zu Herrn Leissner herstellen konnte, hatte sie heute noch nicht mit ihm gesprochen.

Barbara seufzte leise, ging dann langsam zu Herrn Leissner. Der saß ruhig rauchend in einem Sessel und blickte aus dem Fenster. Ob er tatsächlich den Sessel aus dem Fenster geworfen hätte und warum eigentlich? Ob er sich über irgendetwas geärgert hätte?

Herr Leissner antwortete nicht, drehte den Kopf kommentarlos weg. Zu seiner Art, aggressiv zu sein, passte das, zu seiner Art, Rätsel aufzugeben, vielleicht auch. Oberflächlich betrachtet schien er sie einfach nicht zu beachten. Während alle das Gefühl hatten, er säße auf einem hochexplosiven Pulverfass, wirkte er selber gleichzeitig völlig ruhig und entspannt. Um durch weitere Nachfragen keine Lunte zu legen, ließ Barbara ihn allein.

„Die Chinesen klauen jetzt auch schon Radios“, schrie Herr Tuschewski gleich mehrmals empört und murmelte dann wütend vor sich hin. Er drohte Schwester Kim mit geballten Fäusten, lief erregt vor dem Dienstzimmer hin und her. Niemand ging auf sein Schimpfen ein, es blieb unverständlich.

Währenddessen kam der Oberarzt Herr Dr. Kinkelmüller tänzelnd und Zigarre rauchend in das Dienstzimmer und desinfizierte sich die Hände, was er gerne tat, auch wenn es gar keinen Grund dafür gab. „Unseren besten Arztdarsteller“ nannten die Kollegen ihn heimlich. Der dicke Mann trug einen modernen, halblangen Arztkittel (Synthetik, kein Leinen), aus dessen Brusttasche immer ein Stethoskop ragte, das zu benutzen er allerdings niemals Gelegenheit hatte. Er streute gerne lateinische Brocken in seine Rede ein, etwa „sine effectu“, wenn ein Medikament sich als wirkungslos erwies.

Jovial wandte er sich jetzt an Barbara. „Sie parken auf meinem Parkplatz, aber heute geht das ausnahmsweise.“

Er ging schnell wieder, nicht, ohne Barbara kurz galant zuzuwinken.

Barbara lächelte zurück, erleichterte Dankbarkeit mimend. Wenn sie zu spät dran war, stellte sie sich oft auf Kinkelmüllers Parkplatz, weil er näher an der Station lag, als die anderen. Sie verachtete im Grunde seine Freundlichkeit, weil sie darin nur eine Unfähigkeit, sich durchzusetzen, und seine uneingestandene Hilflosigkeit sah. Sie versuchte einfach, ihn möglichst nicht zu beachten. Das machte ihr gleichzeitig ein schlechtes Gewissen. Schließlich war er immer höflich, irgendwie auch gutmütig.

Herr Tuschewski hatte sich inzwischen wieder beruhigt, weil Schwester Kim ihm sein Radio zurückgegeben hatte. Sie hatte es an sich genommen, weil es unbeaufsichtigt auf dem Gang gestanden und sie nicht gewusst hatte, wem es gehörte. Als Koreanerin hatte sie sich durch das Gemecker auf die Chinesen zunächst gar nicht angesprochen gefühlt, verstand aber endlich, dass Herr Tuschewski verzweifelt versucht hatte, durch seine verwirrten Vorwürfe wieder an sein Radio zu kommen.

Barbara ging in den Lichthof, wo die Gruppe stattfinden sollte.

„Ist heute wieder Gruppe?“, fragte Schwester Regina erstaunt oder ungläubig.

„Na, klar!“

Mit ihrer betont munteren Antwort versuchte Barbara, die Enttäuschung darüber zu verbergen, dass die Gruppe noch immer nicht zur Selbstverständlichkeit geworden war, nicht für die Schwestern, und dadurch erst recht nicht für die Patienten.

Langsam und umständlich wurden die Stühle im Lichthof so hingestellt, dass sie in etwa einen Kreis bildeten, der allerdings eher einem Ei mit verschiedenen Ausbuchtungen glich. Patienten und Schwestern suchten sich einen Sitzplatz. Die Gruppe war die einzige regelmäßige, von Barbara eingeführte Aktivität für die Patienten, die ihren Tag strukturieren und ihm Sinn und Bedeutung verleihen sollte. Barbara hoffte, mit den Patienten in ein Gespräch zu kommen, indem sie jeden einzeln mit seinem Namen ansprach und nach seinen Wünschen, Beschwerden oder seinem Befinden fragte.

Herr Leissner versteckte sich hinter einer Säule, von wo aus er nur ab und zu kurz neugierig hervorlugte. Barbara mochte ihn. Er erschien ihr wie ein „Halbstarker“ aus den 1950er Jahren: Jeans, Pulli, Lederjacke, kurze, zerzauste Haare und, wenn es ging, rauchend. Oder, da er stark berlinerte, wie der Prototyp des Kreuzberger Subproletariers, aufgewachsen in einem verwahrlosten Hinterhof, achtlos erzogen von einer alleinerziehenden Alkoholikerin.

Barbara fühlte sich angesprochen von seinem freundlich-fragend, gedehnt gesungenem „Loohoos, Gühüntzeheli“. Danach zog er sich schnell wieder hinter die Säule zurück, sodass sie ihm nicht antworten, sondern nur einen flüchtigen Blick zuwerfen konnte. Sanft und sehr vorsichtig hatte er es sekundenlang geschafft, eine Beziehung zu ihr aufzunehmen. Sie hörte nach dieser fast unmerklichen Kontaktaufnahme wie aus weiter Ferne sein hell auflachendes Kichern, das, beziehungslos und ohne Halt zu finden, irgendwo im Weltraum zu versinken schien. Sie sah auch sein glückliches Grinsen, als er gierig seine Zigarette aussaugte.

‚Wie überrascht und zufrieden er ist, weil er eine Beziehung zu mir aufgenommen hat‘, dachte sie. ‚Oder bin ich das nur selbst?‘

Seine zerbrechliche Zartheit machte es unvorstellbar, dass er noch vor kurzem mit kraftvoller Aggression einen Sessel zerstört haben sollte, was sich jetzt so harmlos anfühlte, wie die Ziellosigkeit eines kleinen Kindes, das achtlos sein Spielzeug zu Boden fallen lässt.

Mit dem Kopf nickend wie ein pickendes Huhn stakste Herr Leissner Richtung Tür, um die Station zu verlassen. Er brauchte viel Abstand und beschäftigte sich oft damit, durch eine Tür rein- und rauszugehen, hin und her, den ganzen Tag lang. Dabei wirkte er aufmerksam und konzentriert. Barbara vermutete, dass er auf diese Weise mit seinem inneren Problem beschäftigt war: Was war innen, was außen, was war in ihm, was außerhalb von ihm, was gehörte zu ihm, was nicht?

Barbara zwang sich, seine Aggressivität nicht zu vergessen. Zu seiner ersten Einlieferung in die Psychiatrie war es gekommen, nachdem er eines Tages alle Möbel seiner Mutter aus einem Fenster ihrer gemeinsamen Wohnung geschmissen hatte. Als Barbara ihn nach dem Grund gefragt hatte, hatte seine knappe, übelgelaunte Antwort gelautet: „Die hatte mir mein Auto weggenommen!“

Danach hatte er schnell den Raum verlassen.

„Die olle Lehmann“, nannte er seine Mutter, obwohl sie gar nicht Lehmann hieß. Diese distanzierte Fremdheit oder gar Verwirrung ihres erwachsenen Sohnes beachtete die Mutter nicht, als wenn sie es gar nicht bemerken würde. Wenn sie ihn besuchte, fütterte sie ihn gerne wie ein Kleinkind, was er sich meistens mit angewidertem Gesichtsausdruck gefallen ließ.

Er redete wenig, sprach nicht über sich oder seine Vergangenheit. So blieb weitgehend unklar, was in ihm vor sich ging. Seine vorsichtige, freundlichfragende Kontaktaufnahme schien Barbara bedeutsam, denn Herr Leissner war ihr ansonsten eher durch seine Aggressivität aufgefallen. Bedrohlich wurde er vor allem in Situationen, die ihm selber Angst machten, was leicht geschehen konnte, etwa in unbekannter Umgebung oder wenn etwas auf der Station nicht der üblichen Routine entsprach. Er machte dann als großer, kräftiger Mann gewöhnlich allen Angst.

Schwester Regina war einmal mit ihm eine Jeans kaufen gewesen. Im Laden hatte Herr Leissner offenbar große Angst vor der unbekannten Situation bekommen. Er drückte sich gegen eine Wand, setze sein grimmigstes Gesicht auf, fixierte die Verkäuferinnen mit starrem Blick und sagte laut und deutlich: „Ich bring euch alle um!“

Zitternd zogen sich die Verkäuferinnen zurück, versteckten sich in einem hinteren Zimmer und trauten sich nicht mehr, Herrn Leissner und mit ihm Schwester Regina zu bedienen. Die beiden kamen unverrichteter Dinge zur Station zurück, Herr Leissner gänzlich entspannt, weil er in die vertraute Umgebung zurückkehrte, Schwester Regina eher ärgerlich, weil sie wusste, dass sie bald wieder mit ihm einkaufen gehen musste.

Nur Schwester Kim konnte mit Herrn Leissner in angespannten Situationen gut umgehen. Sie redete ihn dann mit seinem Vornamen an, näherte sich ihm beruhigend wie eine gute Mutter und lenkte seine Aufmerksamkeit auf irgendein harmloses Problem, etwa „Dein Hosenträger ist ja verdreht.“ Herr Leissner wirkte dann erstaunt, ließ Schwester Kim so nahe an sich heran, dass sie den Hosenträger richten konnte, kicherte zufrieden, vergaß das Bedrohliche und stakste Richtung Tür, um seiner gewohnten Beschäftigung nachzugehen.

In der Regel antwortete Herr Leissner nicht, wenn man ihn ansprach, sodass man nichts mit ihm klären konnte. Einmal hatte Barbara ihm eine kleine Torte mitgebracht, weil er eine schwierige Operation am Fuß tapfer überstanden hatte und sie ihm Mut machen wollte. Sie hatte ihm die Torte auf seinen Nachttisch gestellt, war in die Küche gegangen, um einen Teller und eine Gabel zu holen. Als sie wiederkam, war die Torte verschwunden. Sie suchte sie überall: im Zimmer, bei den anderen Patienten, schaute auch aus dem Fenster, ob die Torte vielleicht den Weg so vieler Möbel gegangen war. Herr Leissner beobachtete sie interessiert, aber stumm und antwortete nicht auf ihre Fragen. Die Suche war erfolglos geblieben.

 

Die Gruppe verlief, ohne dass Barbara sich um weitere Besonderheiten kümmern konnte. Herr Koch wiederholte sein stereotyp vorgebrachtes Ansinnen: „Bitte um eine gerechte Bestrafung!“

Dazu stand er auf, salutierte, schlug die Hacken zusammen und beschuldigte sich in schneidigem Tonfall gewöhnlich irgendeiner Lappalie, heute, dass er sich ohne Erlaubnis eine Tasse aus der Küche genommen hätte. Barbara war das unangenehm. Er kam ihr vor wie ein autoritär verzogenes Kind. Sie versuchte halbherzig, ihn zu beruhigen und spielte die Sache herunter.

„Dann bringen Sie die Tasse eben wieder zurück, damit ist die Sache erledigt.“

Atmosphärisch blieb aber etwas unerledigt.

Jeden Patienten sprach Barbara mit seinem Namen an, stellte ihm eine Frage, um ihn zum Reden zu ermuntern. „Wie geht es Ihnen heute?“ oder „Und was haben Sie heute vor?“

Die Antworten waren spärlich. „Gut.“ -- „Nichts.“

Barbara fühlte sich nutzlos, weil kein Gespräch entstand, kein Problem an sie herangetragen wurde. Von Gedanken, Wünschen oder Problemen erfuhr sie nichts. Dennoch wurde sie nach der Gruppe sehr müde. Sie trank einen Kaffee im Schwesternzimmer und zog sich dann in ihr eigenes Zimmer zurück. Sie wollte lieber alleine sein.

Aber Herr Papst folgte ihr. Ohne ein Wort zu sagen nahm er die Gitarre, schrammelte darauf herum und sang, gänzlich unharmonisch, zwei Zeilen eines alten Schlagers.

„Bella, bella, bella Marie, bleib mir treu, ich komm zurück morgen früh.“

Er machte ein lachendes Gesicht, ohne zu lachen, ging dann wieder, ohne direkten Kontakt zu Barbara aufgenommen zu haben.

Barbara saß erschöpft da, stützte ihren Kopf auf ihre Hände und versuchte, zu sich zu kommen. Aber schon riss Frau Kunert die Tür auf, steckte kurz ihren Kopf herein, brüllte böse, vorwurfsvoll und mit hasserfüllter Miene: „Alte Fick-Fotze!“ und knallte laut die Tür wieder zu.

Barbara fühlte sich konfus, überfordert mit all den wilden Mitteilungen, die Patienten ihr machten und mit denen sie ihr etwas Wichtiges mitteilen wollten. Bloß was? Einen Sinn konnte sie in den gesprochenen Worten zumeist nicht unmittelbar verstehen. Manches höchstens erahnen.

So nahm sie an, dass Herr Papst eine Liebesbeziehung zu ihr fantasierte. Sie hatten darüber geredet, er hatte für sich ein Ergebnis aus ihrem Gespräch gezogen: „Liebe ist erlaubt, aber anfassen ist verboten. Selbst für einen Papst.“

Er hatte das akzeptiert, aber traurig gelächelt. In seinem feinen Witz und der resignierten Wehmut glaubte Barbara, etwas von der Differenziertheit einer Persönlichkeit zu spüren, die Herr Papst früher gewesen sein musste. Er hatte als Kürschner erfolgreich einen großen Laden in einer renommierten Gegend geführt. Er war sicher an kultivierte künstlerische Darbietungen gewöhnt gewesen, doch in der stereotypen Wiederholung der immer gleichen zwei Liedzeilen eines bekannten, kitschigen Schlagers, die er in infantiler Weise vortrug, konnte Barbara nichts mehr davon entdecken. Herr Papst nahm keinerlei Rücksicht auf die jeweilige Situation, setzte sich mit seiner Vorführung stets rücksichtslos durch, ohne sich durch Bitten oder Ermahnungen aufhalten zu lassen. Dieser erschreckende Abbau einer reichen und differenzierten Persönlichkeit, die ihr wie eine holzschnittartige Vereinfachung vorkam, machte Barbara traurig.

Sie fühlte sich sehr allein, fand es unerträglich, auf der Station kein Gegenüber zu finden, mit dem sie auf unkomplizierte Art kommunizieren konnte, ohne über die Bedeutung des Gesagten rätseln zu müssen und ohne heftigen, unverständlichen Affekten ausgesetzt zu sein.

Also setzte sie eine wichtige Miene auf und eilte mit geschäftigem Gang, um nur ja von niemandem angesprochen zu werden, zu ihrem Kollegen Stefan, von dem sie wusste, dass er sich für Musik interessierte. Dort begann sie ein Gespräch über etwas ganz Anderes, etwas, was nichts mit Patienten zu tun hatte: Schostakowitschs zweites Klaviertrio, Opus 67.

„Hörst du nicht das Phrygisch-Alterierte darin, also die sogenannte jüdische Tonleiter, die im Finale so deutlich ist?“, fragte Stefan, der erfreut auf das Gesprächsangebot einging, weil er eigentlich Befundberichte für die Krankenkasse schreiben musste.

„Ich habe aber noch nirgends irgendetwas darüber gelesen“, antwortete sie zweifelnd.

„Du kannst das auch nicht lesen, du musst das hören“, ereiferte sich Stefan. „Schostakowitsch hat sich damals, also 1944, als die Juden in der Sowjetunion verfolgt und ermordet wurden, mit ihnen solidarisiert, indem er Elemente jiddischer Musik verwendete. Das wird erzählt in den kürzlich erschienen ‚Memoiren des Dimitri Schostakowitsch‘, die allerdings umstritten sind, weil nicht klar ist, wie authentisch sie sind.“

„Das wusste ich gar nicht, ich dachte, Schostakowitsch wäre ein staatlich anerkannter, von Stalin geehrter Komponist gewesen.“

Barbara erholte sich durch das Gespräch, vergaß für eine kurze Weile die Patienten, ging dann zur Station zurück und wandte sich ihnen wieder zu.

Als sie abends nach Hause kam, ließ sie sich auf ihr Sofa fallen und schloss die Augen. Wie immer hörte sie den Fernseher ihres Nachbarn von unten, ein offenbar schwerhöriger, emeritierter Linguistik-Professor, der sich gerne den ganzen Tag sehr laut irgendeine Sexsendung ansah. Sie hörte ein stetig sich steigerndes Gestöhne, „Huahah-iihi“, gipfelnd in einem erschöpften Jauchzen, dann Dingel-dingel-dong-dong: Werbung: Zahnpasta, Waschpulver, Versicherung, Katzenfutter, Fertigmahlzeit. Dann wieder: „Huaha-iihi, Huahaa-iihi“, Dingel-dingel-dong-dong: Hundefutter Waschpulver, Salz, Spülmittel, „Huhahaa-iihi, Huahaa-iihi“, Dingel-dingel-dong-dong. Es ging endlos so weiter, wie sie aus Erfahrung wusste.

Sie raffte sich auf, ging eine Treppe runter und klingelte bei dem Professor. Er stellte den Fernseher ab, öffnete die Tür und bat sie höflich herein. Sie beschwerte sich vorsichtig, woraufhin er freundlich für Abhilfe zu sorgen versprach. Erleichtert ging sie wieder nach oben in ihre Wohnung. Die Wohnungstür war noch nicht geschlossen, da hörte sie es wieder, dieses Mal geringfügig leiser. Dingel-dingel-dong-dong, „Huahaa-iihi, Huahaa-iihi“.

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