Czytaj książkę: «Heimkinder»

Czcionka:

«Wie hat man es fertiggebracht,

dass die Menschen das Bestraftwerden

ertragen?»

Michel Foucault



Inhalt

Ohne Eltern

I.

Die Gnade des Spitals

Das Kloster als Urzelle

Die Reformation und ihre Moral

II.

Das Regime des Waisenhauses

Strenge Zucht in Zürich

Pädagogische Pläne in Bern

Waisenhäuser im Umbruch

Eine pietistische Modellwelt

III.

Die Utopie der Rettungsanstalt

Pauperismus und Philanthropie

Der Waisenhausstreit

Pestalozzis positives Menschenbild

Die Reformanstalten

Rettungsanstalt Freienstein

Konfessionelle Differenzen

Das 19. Jahrhundert als Anstaltenjahrhundert

IV.

Eine Anstaltsgeschichte in Bildern

V.

Die Transformation des Heims

Verwahrlosung, gesetzlich verankert

Looslis Anstaltskritik

Die katholische Anstalt

Landerziehungsheim versus Zwangserziehungsanstalt

Verdingte Kinder und Kinder der Landstrasse

Die Zäsur der Heimkampagne

Abgründe in Selbstzeugnissen

Neue Heimtypen und ihr schweres Erbe

Die Wege der Fremdplatzierung

Das partizipative Kind

Einschliessen als Ausschluss

Anhang

Ohne Eltern

Ein Kind hat einen Vater und eine Mutter. Es wohnt mit ihnen am selben Ort, im selben Haus. Betreut von seinen Eltern, wächst das Kind in seiner Familie auf. Wenn es das Jugendalter erreicht hat – also je nach Ausbildung, familiären und finanziellen Verhältnissen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren –, zieht es aus, lebt mit anderen in einer Wohngemeinschaft oder mit dem Freund oder der Freundin zusammen, um eines Tages einen eigenen Hausstand zu gründen und selber Kinder grosszuziehen.

Ungefähr so stellen wir uns das Aufwachsen und Erwachsenwerden eines Kindes und Jugendlichen vor. Doch damit projizieren wir unsere Normalitätsvorstellungen auf die Gegenwart kindlicher und jugendlicher Lebenswelten. Die Realität ist eine andere: Aufgrund vielfältiger Patchwork-Familienkonstellationen und hoher Scheidungsraten wachsen heute viele Kinder nicht mehr nur zusammen mit den biologischen Eltern, sondern mit sozialen Elternteilen – also den neuen Partnerinnen und Partnern der leiblichen Eltern – sowie an mehreren Orten auf – dort, wo die Betreuungspersonen leben. Kinder aus schwierigen familiären Verhältnissen, welche das Aufwachsen massiv beeinträchtigen können, verbringen zudem längere Phasen der Adoleszenz oft ausserhalb ihrer Herkunftsfamilie, sei es in Pflegefamilien oder stationären Institutionen wie etwa in Jugendheimen.

Die sozial breit akzeptierte Wunschvorstellung, dass das Grosswerden im emotional dichten Rahmen der Herkunftsfamilie der Normalfall sei, wird wahrscheinlich umso stärker, je weniger sie mit der Realität übereinstimmt. Je weniger diese dem entspricht, was wir als gut betrachten, je mehr diese also unsere moralischen Vorstellungen und unser Selbstbild kränkt, desto eher malen wir uns ein geschöntes Bild. Was gut und normal sei, denken wir, sei schon immer so gewesen und sei überall so. Wie Ethnologen berichten, war es auf den westpazifischen Karolinen-Inseln noch im 20. Jahrhundert gang und gäbe, dass Eltern ihre Kinder dauerhaft in fremde Hände gaben – nicht weil sie ihrer überdrüssig geworden oder mit ihnen überfordert gewesen wären, sondern weil diese Sitte dem Gedeihen des Nachwuchses als förderlich galt. Die Gesellschaft versprach sich vom Kindertausch zwischen verschiedenen Familien eine verstärkte soziale Integration, Kohäsion und Reziprozität.1 Noch weniger trifft die Unterstellung, dass alle Kinder ganz natürlicherweise und am besten bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen, auf die Vergangenheit zu. Das 19. Jahrhundert etwa, das – zumindest aus historischer Perspektive – noch nicht lange Geschichte ist, gilt als das «Jahrhundert der Anstalten»: Tausende von Kindern vor allem aus den Unterschichten wuchsen in den von bürgerlichen Kreisen neu gegründeten Rettungshäusern und Erziehungsanstalten auf. Noch früher beherbergten Spitäler, Waisen- und Arbeitshäuser elternlose, verstossene oder von zu Hause ausgerissene Kinder und Jugendliche.

Von ihnen handelt dieses Buch. Es handelt nicht von der Normalität des Aufwachsens im familiären Rahmen, sondern von der – für die betroffenen Fälle – zu akzeptierenden Realität des Aufwachsens ohne Eltern. Das Buch erzählt mit Blick auf die Gegenwart die lange Geschichte jener Kinder und Jugendlichen, die in der Schweiz seit dem Mittelalter in Heimen, Anstalten und anderen stationären Einrichtungen untergebracht wurden, weil sie keine Eltern hatten, weil diese ohne ihre Kinder leben wollten, weil sie den Eltern davongelaufen, von diesen geschlagen oder als Arbeitskräfte oder Lustobjekte missbraucht worden waren, weil die Eltern gemäss den Behörden nicht ausreichend für die Kinder sorgten oder in den Augen der tonangebenden Eliten einen anstössigen Lebenswandel führten. Es gibt viele Gründe, welche Kinder von ihren Eltern trennen.

Und es gibt viele Möglichkeiten, wie Kinder ohne ihre Eltern aufwachsen. Häufig werden und wurden sie von anderen Erwachsenen aufgenommen oder in anderen Familien untergebracht, vorzugsweise bei Verwandten. Davon ist in diesem Buch nur am Rande die Rede; ein Exkurs widmet sich dem in der Schweiz weitverbreiteten Phänomen der «Verdingkinder» im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Aus zwei Gründen werden die in Pflegefamilien untergebrachten Kinder nicht systematisch berücksichtigt: Erstens rekonstruiert dieses Buch die Geschichte der von einer Gesellschaft eigens institutionalisierten Fremdplatzierung von Kindern, nicht die sich quasi von selbst aufdrängende Alternative der Unterbringung bei Verwandten oder Bekannten. Die Geschichte der Institutionen, die elternlose oder verlassene Kinder aufnehmen, soll dem Leser die Vorgeschichte der heutigen Heime nahebringen. Wenn man deren Vergangenheit kennt, versteht man ihre Gegenwart besser. Dabei zeigt sich, dass es keine über die Jahrhunderte gleichbleibende Lösung des «Problems» elternloser Kinder gibt, ja dass sogar die Wahrnehmung der Existenz elternloser Kinder als ein soziales oder gar für die Kinder existenzielles Problem keineswegs selbstverständlich ist.

Zweitens ist die Geschichte der Unterbringung von Kindern bei Verwandten oder fremden Familien, abgesehen von den «Verdingkindern», kaum erforscht. Erstaunlich ist dies nicht: Während Institutionen wie Klöster, Spitäler, Armenhäuser und Heime zumindest offizielle und offiziöse Quellen produzieren, die von ihrer Entstehung, Gründung, Finanzierung, Leitung, den möglichen baulichen Veränderungen und so weiter und am Rande von den Insassinnen und Insassen zeugen, hat der Aufenthalt von Kindern in fremden Familien bis ins 19. Jahrhundert kaum Spuren hinterlassen. Wer etwas darüber wissen wollte, müsste umso intensiver suchen. Da sich dieses Buch vorwiegend auf publizierte Forschungen stützt und diese verdichtet, hat es diese Seite der Fremdplatzierung von Kindern – die Unterbringung bei Verwandten – zwangsläufig wenig berücksichtigt. Genau genommen handelt es sich bei der Unterbringung von Kindern in Pflegefamilien ebenfalls um eine institutionalisierte Fremdplatzierung, zumindest dann nämlich, wenn politische oder geistliche Behörden diese Massnahme systematisch und mit bestimmten pädagogischen Zielen anordnen. Zumindest in der Gegenwart stehen die beiden Möglichkeiten der Fremdplatzierung, sei es die Pflegefamilie oder das Heim, nahezu gleichwertig nebeneinander oder sind gar in ihren Mischformen nicht mehr deutlich auseinanderzuhalten.

Ein Klima der Kälte und der Angst

Eine Geschichte der Kinderheime und Jugendanstalten in der Schweiz – beziehungsweise der Heime auf dem Gebiet der heutigen Schweiz – muss freilich ein grosses Defizit in Kauf nehmen. Die überlieferten Quellen geben fast ausschliesslich die Sicht der Erwachsenen wieder. Diese Spuren sind indes nicht uninteressant, im Gegenteil: Aus Heimordnungen, Gründungsstatuten, Insassenlisten, Aufzeichnungen des Heimleiters, Speise- und Unterrichtsplänen und anderem kann man sehr wohl annäherungsweise den Alltag in der Anstalt, ja den Geist eines Heims rekonstruieren. Wer gründete, wer leitete, wer finanzierte die Anstalt? Wann mussten die Kinder aufstehen, wie den Tag verbringen, wann zu Bett gehen? Wie oft wurde gebetet, wie und wer wurde bestraft, was bekamen die Zöglinge zu essen? Wurden die Mädchen von den Knaben getrennt? Wie alt waren die Kinder und Jugendlichen beim Ein- und beim Austritt aus der Institution? Warum wurden sie in die Anstalt eingewiesen, was erhofften – und erhoffen – sich die Zuständigen vom Heimaufenthalt, welche Kinder und Jugendlichen wurden interniert?

Diese und andere Fragen versucht dieses Buch zu beantworten. Sein eigentlicher Gegenstand freilich kommt kaum vor: die Kinder und Jugendlichen als Subjekte – das heisst: ihre Sicht der Dinge, ihre Gefühle, Erfahrungen und Handlungen. Die ohnehin seltenen Quellen, in denen die Kinder überhaupt zur Sprache kämen – das könnten Aufzeichnungen, Briefe, Zeichnungen, Gespräche und Erinnerungen sein –, hat nahezu niemand überliefert. Für das 20. Jahrhundert stehen uns dafür auf Kindheitserinnerungen sowie auf autobiografischen Erlebnissen beruhende literarische Aufzeichnungen von ehemaligen Heiminsassinnen und -insassen zur Verfügung. Die teils erschütternden Erinnerungen evozieren meist ein Klima der Kälte und der Angst, das in der betreffenden Institution geherrscht haben muss. Natürlich täuschen wir uns fast immer, wenn wir uns genau an weit zurückreichende Ereignisse zu erinnern vermeinen. Was für die Angabe des Orts und der Zeit sowie Details wie Farben, Beteiligte und Formen gilt, trifft jedoch nicht für die Grundstimmung einer vergangenen Zeit zu. Eine grösstenteils düstere Kindheit wird kaum als glücklich verbrachte Lebenszeit erinnert werden – und umgekehrt. Auch Heimaufenthalte der jüngsten schweizerischen Vergangenheit sind wissenschaftlich wenig untersucht.

Von den soziologischen Aufzeichnungen sowie den Erinnerungen und literarisch-fiktionalen Aufzeichnungen abgesehen, stehen wir, was die Wahrnehmung der Kinder und Jugendlichen ihrer Zeit in Heimen und Anstalten anbelangt, sozusagen vor dem Nichts. Wenn Kinder in den Quellen überhaupt vorkommen, dann nur in der Sicht der Erwachsenen, also der Anstaltsleiter und Heimerzieher. Und diese tendieren dazu, die Kinder so zu sehen, wie sie diese sehen wollen. Ein Erzieher, der davon überzeugt ist, dass er die ihm anvertrauten Zöglinge bessern muss, weil sie schlecht und verdorben sind, ist kein vertrauenswürdiger Zeuge. Seine Schilderungen der Kinder, ihrer Einstellungen und Ansichten sagen mehr über ihn, über seine Wahrnehmung seiner Umgebung aus als über das Wahrgenommene. Auch diese Heimgeschichte muss also fast vollständig auf die Wiedergabe der Erfahrungen der jungen Insassinnen und Insassen verzichten. Was gäbe der Historiker nicht dafür, wenn er wüsste, wie ein Kind seinen Aufenthalt im mittelalterlichen Spital – inmitten von verarmten und kranken Erwachsenen – oder im frühneuzeitlichen Arbeitshaus – in unmittelbarer Nachbarschaft von erwachsenen Delinquenten – erlebte.

Die Geschichte der Heimunterbringung von Kindern ist keine sorglose Geschichte. Kind und Jugendlicher zu sein, ist an sich keine einfache Sache. Mag auch die Zeit des zweckfreien Spiels und der empfundenen Wärme des elterlichen Körpers nicht nur zum Wichtigsten, sondern auch zum Schönsten gehören, was einem Menschen widerfahren kann, so gestaltet sich das Hineinwachsen in die Welt der Erwachsenen, das ohne die konfliktuelle Loslösung von den Eltern nicht gelingen kann, als eine in der Regel beschwerliche, ja schmerzvolle Angelegenheit. Der französische Philosoph Louis Althusser hat vom Drama eines jeden Menschen gesprochen, in Einsamkeit und gegen den Tod einen langen Gewaltmarsch auf sich nehmen zu müssen, auf dem er aus einer säugetierartigen Larve ein – männliches oder weibliches – Subjekt wird.2 So gesehen kann man sich sogar darüber wundern, dass dieser schwierige und hochkomplexe Vorgang – also die Entwicklung vom völlig unselbständigen Säugling, der ohne Hilfe von aussen zum Tod verdammt wäre, zum hoffentlich autonomen Erwachsenen – häufiger glückt als missglückt. Oder ist dem etwa nicht so? Jedenfalls ist die Zahl jener Kinder, die im Laufe der letzten Jahrhunderte eine unbeschwerte Kindheit verbringen durften, ohnehin verschwindend klein.3

Um wie viel schwieriger gestaltete und gestaltet sich ein gelingendes Heranwachsen für Kinder, die in autoritär geführten Heimen aufwachsen mussten und müssen! Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass einzelne Kinder wohl jeden anderen Ort der Hölle des elterlichen Zuhauses vorzogen und vorziehen und im Heim zumindest Schutz vor permanenter Drangsalierung fanden oder eine Art Geborgenheit anstelle grosser Einsamkeit, so dürfte der Heimalltag vor allem bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wenig Grund zu Freude, Ausgelassenheit und Glück gegeben haben. Auch wenn wir die Kinder nicht mehr selber fragen können: Der Grossteil der überlieferten Quellen vermittelt einen Eindruck von unerbittlicher erzieherischer Strenge, von körperlichen Strafen, seelischen Demütigungen, von Überwachung und Kontrolle, von schlechtem Essen, von anstrengenden Arbeiten – und von Mangel an Liebe, Zärtlichkeit und Zuwendung.

Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war die von stationären Institutionen geleistete Betreuung fremdplatzierter Kinder stark religiös geprägt. Ob die Einrichtungen – wie das Spital im Mittelalter und das Waisenhaus in der Frühneuzeit – die Insassen in erster Linie aus einer christlichen Haltung der Barmherzigkeit verpflegten und verwahrten und sich dabei in weltanschaulich-erzieherischer Hinsicht auf religiöse Andachten und das Rezitieren biblischer Sprüche beschränkten oder ob sie im Gegenteil – wie die konfessionell ausgerichteten Rettungsanstalten und Kinderheime des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts – die Kinder einer auf Frömmigkeit und Arbeitsamkeit abzielenden Pädagogik unterzogen: Die Betreuung und Erziehung der Kinder und Jugendlichen war bis zur «Heimkampagne» Anfang der 1970er-Jahre, die im Geiste der 68er-Bewegung mit der Vergangenheit brach, stark christlich dominiert. Christlich freilich meistens nicht im Sinne der Nächstenliebe, die auf einer ideologischen Ebene immer wieder ins Feld geführt wurde, oder gar in der Tradition eines irgendwie franziskanisch inspirierten Frohsinns, sondern christlich in einem disziplinierenden und repressiven Sinn. Der nicht von ungefähr der spätmittelalterlichen Klosterwelt entnommene Sinnspruch «Ora et labora» – bete und arbeite – der protestantischen Rettungsanstalten des 19. Jahrhunderts bringt diesen Geist paradigmatisch zum Ausdruck: Als tüchtig arbeitender und innig betender Mensch sollte das einst sündige und missratene Kind zum nützlichen Staatsbürger geschmiedet werden. Dass dieser Weg zwangsläufig durch ein Tal von Tränen führte, stand für die Aufseher und Erzieher ausser Frage.

«Hört ihr die Kinder weinen» – zwar ist die Studie, die der amerikanische Psychohistoriker Lloyd deMause der Geschichte der Kinder gewidmet hat, wegen ihrer Stossrichtung, diese nur als Opfer zu sehen, umstritten.4 Doch der Titel darf für dieses Buch sprechen, das sich mit Kindern befasst, die ohne ihre Eltern in meist streng kontrollierten Institutionen aufwachsen. Die Geschichte der in Heimen und Anstalten untergebrachten Kinder und Jugendlichen ist über weite Strecken eine Geschichte weinender Kinder und Jugendlicher, die von niemandem gehört wurden.


I. Die Gnade des Spitals 15

Das Mittelalter kennt keine kindgerechte Pädagogik, aber auch nicht die Anomalie der Verhaltensauffälligkeit. Waisenkinder finden Obhut und – zumindest gemäss der christlichen Lehre – Barmherzigkeit im Spital. Elternlose Kinder sowie bedürftige und kranke Erwachsene leben oftmals in den gleichen Räumen. Sie werden mit dem Lebensnotwendigsten unterstützt und auf Betteltour geschickt. Betteln ist weder verpönt noch verboten. Die Armut wird breit akzeptiert, weil sie den Reichen die Möglichkeit bietet, mit ihren Almosen die göttliche Gnade zu erlangen.

Die Gnade

des Spitals

Wie war es im Mittelalter, ein Kind zu sein? Standen die Erwachsenen, wie der Mentalitätshistoriker Philippe Ariès behauptet, den Kindern gleichgültig gegenüber und behandelten sie als kleine Erwachsene, was ihnen – oder zumindest den privilegierten unter ihnen – zumindest ein von moralisierenden und pädagogisierenden Interventionen unbehelligtes Aufwachsen erlaubte? Oder hatten die Kinder für die Erwachsenen einen derart geringen Wert, dass diese jene, wie der Psychohistoriker Lloyd deMause vermutet, bei jeder Gelegenheit schlugen und sogar töteten, wenn sie sich von ihnen keinen Nutzen mehr versprachen?5 Das sind zwei extreme Positionen. Doch ihr Auseinanderklaffen zeigt, dass das mittelalterliche Leben nicht einfach zu rekonstruieren ist, ganz abgesehen davon, dass die Lebensweisen, die Sitten und Gebräuche je nach Region und Epoche beträchtlich variierten. Die Quellenlage lässt über den Alltag einfacher Leute im Mittelalter kaum gesicherte Aussagen zu; überliefert sind im schriftlichen Bereich vor allem offizielle Dokumente wie etwa Urkunden. Diese geben ohnehin keine Auskunft über die Lebenswirklichkeiten von Kindern. Wahrscheinlich litten diese unter der für das Spätmittelalter charakteristischen hohen Gewaltbereitschaft. Der Mediävist Arnold Esch berichtet von brutalen, tödliche Folgen nach sich ziehenden Züchtigungen durch Eltern und Geistliche. Ein Augenzeuge im Wallis des 15. Jahrhunderts erinnert sich, wie ein Vater seiner siebenjährigen Tochter eines Abends befahl, «sie solle singen. Aber sie wollte nicht. Wütend darüber, schlug er sie mit zwei Ruten aus einem Besen, und mit der flachen Hand stiess er sie zu Boden.»6

Die Armut dürfte im Hochmittelalter in städtischen Gebieten einer der wichtigsten Gründe gewesen sein, weshalb Kinder nicht bei ihren Eltern aufwuchsen. Sie stellte ein strukturelles Problem der mittelalterlichen Städte dar. Rund 20 Prozent der Bevölkerung sahen sich in ihrer unmittelbaren physischen Existenz bedroht. Das Spektrum der Betroffenen reichte von Waisen, Krüppeln, Kranken und Witwen über die sogenannten unehrlichen Berufe – etwa Scharfrichter, Prostituierte, Abdecker – und unselbständigen Lohnabhängigen, die in der Textilproduktion, im Bauhandwerk und im Agrarsektor tätig waren, bis zu den selbständigen Handwerken.7 Das gängigste Mittel, die Folgen der Armut abzuschwächen, war das Betteln. Bettelnde Menschen gehörten in vielen Gegenden Europas noch bis in das 19. Jahrhundert zum Strassenbild, doch im Mittelalter galt das Betteln als ein legitimes Mittel, sein Auskommen zu finden.8 Es unterlag – dies im Unterschied zu heute – keinerlei sozialen Ächtung. Die Bettler und Bettlerinnen gingen in den Augen der Gesellschaft einem anerkannten Beruf nach. In manchen Städten schlossen sie sich sogar zu zunftähnlichen Gebilden zusammen. Wer vom Bettel lebte, wurde deswegen nicht stigmatisiert. Wer um Almosen bat, dem wurde in der Regel gegeben.9

Ohne die Religiosität ist die mittelalterliche Wohlfahrt nicht zu begreifen. Die Furcht vor der Hölle und vor dem Jüngsten Tag, an dem durch die göttliche Rechtsprechung die Gerechten von den zur Hölle Verdammten geschieden würden, liess die Gläubigen – zumindest diejenigen, die es sich leisten konnten – nach «guten Werken» streben, die ihr eigenes Seelenheil sowie dasjenige naher Verstorbener garantieren sollten. Die mittelalterliche Frömmigkeit umfasste die Lebenden wie die Toten, die zwischenmenschlichen Bindungen einer Gruppe wurden durch den Tod nicht gelöst. Der Tote war eine unter den Lebenden gegenwärtige Person. Mit dem Mittel der Stiftung konnte die Gegenwart der Toten immer wieder erneuert und gesichert werden.

Der Stifter stellte Teile seines Vermögens für einen dauernden spirituellen Zweck zur Verfügung. Stiftungen waren im Mittelalter eine tragende Säule der Wirtschaft und Wohlfahrt. Die wichtigsten Stifter waren die adligen Stände, besonders die Könige und Kaiser. Sie stifteten Dome, Spitäler, Studentenheime, Klöster und Kanonikerstifte. Den Stiftungen lagen zwar auch weltliche Motive zugrunde: Schutz und Sicherung des Besitzes innerhalb der Dynastie, dessen Bewahrung vor Erbteilung, die Schaffung einer Versorgungsanstalt für Söhne und Töchter, politische Interessen, Machterhaltung, verwaltungstechnische Erfordernisse. Das wichtigste Motiv jedoch war ein religiöses: die Überzeugung, dass man mit einer frommen Stiftung den von der betenden klerikalen Gemeinschaft geschaffenen Zugang zum göttlichen Gnadenschatz erhalten würde. Der Stifter stiftete, und die Beschenkten gedachten seiner im unablässigen Gebet. Auch nach seinem Hinschied erneuerten sie das Gedenken an den Toten und versorgten dessen Seele, um ihr ein standesgemässes Schicksal zu garantieren.10

Die in der mittelalterlichen Stadt allgegenwärtige und gut sichtbare Armut galt nicht als Stigma. Der Reiche war auf den Armen angewiesen, damit er sein gutes Werk vollbringen und sich der Gnade versichern konnte. Armut war gar eine Tugend. Der Arme wurde als Abbild Christi gesehen, und Armut eröffnete den Armen wie den Reichen, welche die Armen mit Almosen versorgten, den Weg zum Seelenheil.11 Daraus zu schliessen, im Mittelalter sei das Leben in Armut und Not nicht auch entbehrungsreich und unmenschlich gewesen, wäre falsch. Doch unter den damaligen Verhältnissen dürfte der Arme nicht mit einer schneidenden Verachtung wie in späteren Zeiten konfrontiert worden sein. Noch heute, rund ein halbes Jahrhundert nach dem Aufbau des Sozialstaates, gilt Armut als ein Grund zur Scham. Wer arm ist, sucht dies in der Regel zu verbergen.

Das Kloster als Urzelle

Die Kinder armer und unter prekären Verhältnissen lebender Menschen waren dem erhöhten Risiko ausgesetzt, elternlos aufwachsen zu müssen. Für diese Kinder finden sich schon in der christlichen Spätantike Einrichtungen, die über die Aufnahme elternloser oder verlassener Kinder bei Verwandten oder in anderen Familien – die einfachste Art, elternlose Kinder zu betreuen – hinausgehen. Überliefert ist die organisierte Unterbringung von Waisenkindern bei Witwen und in Hospitälern. In einer die Benediktinerregel prägenden Mönchsregel des Kirchenvaters Basilius des Grossen (um 330–379) heisst es, Waisen sollten ohne Einschränkung aufgenommen werden, sodass die Mönche «nach dem Beispiel Jobs Väter der Waisen werden». Basilius gründete im Jahre 369 bei Caesarea (dem heutigen türkischen Kayseri) ein Hospital, das auch Waise beherbergte.12

Am Anfang der organisierten ausserfamilialen Betreuung von Kindern steht das Kloster. Es ist eine der historischen Wurzeln des Spitals. Oft ging es aus dem klösterlichen Gastraum hervor, wo jene Menschen vorübergehend Zuflucht fanden, die nicht dem Bettel nachgehen konnten.13 Das Kloster richtet seinen Zusammenhalt nach anderen Regeln als ein Verwandtschaftsverband aus. Hier lebt nicht zusammen, wer durch das Blut verbunden ist – sei es durch Abstammung oder körperliche Vereinigung –, sondern wer sich in der Nachfolge Christi zu dessen Idealen bekennt: der sexuellen Enthaltsamkeit und dem Verzicht auf die Anhäufung weltlichen Besitzes. Diese klösterlich-mönchischen Ideale sind, wie Josef Martin Niederberger festgehalten hat, mit dem familialen Leben nicht vereinbar.14

Daran sind drei Punkte bemerkenswert: Erstens ist es nicht selbstverständlich, dass eine Gesellschaft sich überhaupt planmässig derjenigen Kinder annimmt, die keine Obhut haben; denkbar wäre auch, sie sich selber oder den näheren Verwandten zu überlassen. Letzteres freilich dürfte vor der Unterbringung im Kloster – oder einer anderen religiösen Institution – in Betracht gezogen worden sein. Zweitens müsste die Versorgung der Kinder nicht in dieser Form geschehen; man könnte sie auch, wie dies historisch wohl häufiger der Fall war, beispielsweise als Arbeitskräfte verkaufen oder – wie in der Schweiz noch im 20. Jahrhundert üblich – verdingen. In diesem Fall profitierten die Erwachsenen gleich doppelt von den Kindern: Während die politische Autorität diese nicht zu verköstigen brauchte, konnte der das Kind aufnehmende Bauer auf eine günstige Arbeitskraft zurückgreifen. Drittens bringt die Gesellschaft die Kinder just an einem Ort unter, der von einem Prinzip strukturiert wird, das zur Mehrheitsgesellschaft im Gegensatz steht: der sexuellen Enthaltsamkeit. Anders als die Familie pflanzt sich der klösterliche Verbund nicht selbst fort. Den dort lebenden elternlosen Kindern kommt daher wie den religiösen erwachsenen Bewohnern ein besonderer Status zu, der sie im doppelten Sinne aus der menschlichen Gesellschaft heraushebt.

Im 13. Jahrhundert wurden viele Spitäler von dem um 1160 gegründeten Hospitalorden vom Heiligen Geist ins Leben gerufen, der sich die Betreuung von Findelkindern und Waisen zum Ziel gesetzt hatte. Die Entstehung des Ordens muss im Zusammenhang mit der kirchlichen Reformbewegung gesehen werden, die im 12. Jahrhundert auf grössere soziale Spannungen in den Städten antwortete. So übte etwa Franz von Assisi (um 1181–1226) Kritik am Wohlstand der Bürger und solidarisierte sich mit den Randgruppen.15 Im 13. Jahrhundert kam es auch in zahlreichen Schweizer Städten, so in St. Gallen, Bern, Schaffhausen und Winterthur, zu Spitalneugründungen, weil die Spitalfürsorge kommunalisiert und zentralisiert wurde.16

Wer seinen Unterhalt nicht durch den Bettel bestreiten konnte, der wurde im Spital untergebracht. Es bildete im Spätmittelalter neben dem Siechenhaus, in das Menschen mit ansteckenden Krankheiten eingewiesen wurden, die klassische Anstalt der Fürsorge und Versorgung schlechthin. Das mittelalterliche Spital hat mit dem modernen wenig gemein. Es war kein medizinisch spezialisierter Ort der Krankheitsbekämpfung, sondern erfüllte ein breites Feld von Funktionen: Es diente als Herberge für mittellose Reisende, als Asylstätte, als letzter Ort für unheilbar Kranke, als Verwahrungsanstalt für Irre, als Gefängnis und Versorgungsanstalt für bedürftige Verwitwete, Waisen und Findelkinder. Noch vor der Krankenbetreuung diente das Spital also der Fürsorge armer Menschen. Sie oblag in der mittelalterlichen Gesellschaft primär der römischen Kirche. Heute übernimmt der Sozialstaat diese Aufgaben. Die meisten Spitäler wurden von Orden und Bischöfen gestiftet, später auch von weltlichem Adel oder dem aufstrebenden städtischen Patriziat.17 Wurden sie anfänglich von religiösen Institutionen verwaltet, also von Klöstern und Kongregationen, gingen sie im Spätmittelalter oft in städtischen Besitz über.18

Das mittelalterliche Spital war nicht nur ein Sammelbecken aller «Elenden» und Randgruppen, ein Ort für Alte und Pilger; es nahm auch Kinder auf, die von ihren Eltern verlassen worden waren, die in oder vor der Kirche ausgesetzt wurden – Findelkinder, arme Kinder, körperlich und geistig behinderte Kinder, Waisenkinder. Als Waisen galten – anders als heute – nicht nur Kinder, deren Eltern gestorben waren, sondern alle verlassenen oder ohne Obhut lebenden Kinder. Das Aussetzen von Kindern war eine von armen Eltern gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten oft angewendete Strategie, um diese zumindest in den ersten Lebensjahren von der öffentlichen Hand versorgen zu lassen. Es besteht eine Korrelation zwischen Bevölkerungswachstum, wirtschaftlichen Krisen und einer Zunahme von Kindsaussetzungen.19 Das Spital war also der Ort, an dem elternlose Kinder im Spätmittelalter am häufigsten aufwuchsen – wenn sie nicht von der Familie des Vormunds aufgenommen (falls das Kind einen Vormund hatte) oder an Pflegefamilien verdingt wurden.20

Zur Strafe

in der Kinderstube essen

Die Kinder wurden nicht konsequent von den übrigen Spitalinsassen getrennt. Manche Hospitäler verfügten zwar über sogenannte Waislinkammern, in denen Waisen untergebracht wurden.21 In diesem Fall lebten die kleineren Kinder getrennt von den erwachsenen Insassen des Hospitals, doch wurde diese Trennung nicht immer eingehalten.22 Oft dürften sich Kinder und Erwachsene in den gleichen Räumen aufgehalten, gegessen und geschlafen haben. Eine der frühesten überlieferten Quellen, die eine Art von stationärer Fürsorge für Waisenkinder belegt, ist die Gründungsurkunde des Spitals St. Gallen von 1228. Arme und verlassene Kinder, deren sich niemand annahm, sollten im Spital Zuflucht finden und mit den erwachsenen Insassen, also Pfründern, Kranken und Gebrechlichen, zusammenleben, bis sie ihren Lebensunterhalt selbst durch Bettel bestreiten konnten. Die Kinder erhielten also im Spital eine Zeit lang Obdach und Nahrung. Betreut wurden sie von einem Waisenvater.23 Freilich nahm das Spital in der Regel nur Bürgerskinder auf, also die Kinder jener privilegierten Stadtbewohner, die das Bürgerrecht innehatten und fähig waren, für ihren Unterhalt aufzukommen.

Auch das Spital von Freiburg beherbergte im 14. Jahrhundert Kinder, und zwar elternlose Kinder, uneheliche Kinder und Findelkinder. Sie lebten getrennt von den übrigen Spitalinsassen in einem eigenen Gebäude, der «Kinderstube». Überwacht wurden sie von einer Spitalmeisterin. Insassen, die sich eines Vergehens schuldig gemacht hatten, mussten zur Strafe in der Kinderstube essen, wo weder Fleisch noch Wein aufgetischt wurden. Das Spital von Luzern nahm neben elternlosen und unehelichen Kindern auch Kinder von Hingerichteten und Verbannten auf. Im Zürcher Spital hielten sich ebenfalls nicht nur Kranke, sondern auch Verkrüppelte, Geisteskranke, Pfründner, Arme – und Waisenkinder auf.24 Gleiches gilt für das Basler Spital. Dort hatte eine «Mutter» ähnliche Funktionen inne wie die Oberin von Ordensschwestern. Sie musste geloben, «die armen bedürftigen Kinder wohl zu warten».25

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