Czytaj książkę: «Wenn wir die Masken fallen lassen»

Czcionka:

Ulrike Quast

WENN WIR

DIE MASKEN

FALLEN LASSEN

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Bibliografische Information durch die Deutsche

Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek

verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei der Autorin.

Umschlaggestaltung Jochen Stankowski

(Grafikdesigner)

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

1

Die Tür fiel ins Schloss. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Lena war gefangen. Gefangen in einem endlos langen Gang. Es roch nach abgestandenem Kaffee. Und es war düster. Nur spärliches Licht drang durch die verglasten Türen hindurch. Unzählige Türen, die in unzählige Räume führten. In der Mitte des Gangs stampfte eine riesige Frau über den Korridor. Sie verschwand im gegenüberliegenden Zimmer. Offenbar hatte sie das Mädchen nicht bemerkt. Sonst hätte sie sich darüber wundern müssen, dass Lena seit geraumer Zeit am Eingang stand. Wie eine Säule. Eine Säule, die mit großen Augen vor sich hin stiert.

Äußerlich sah man Lena keine Regung an. Wie sollte man auch? Lena beherrschte die Situation. Vollkommen. Denn sie hatte diese Szene in Gedanken immer wieder durchgespielt. Bestimmt hundertmal. – Sie klopft an die Tür mit der Aufschrift „Hauptkommissarin“. Dann drückt sie die Klinke hinunter und betritt den Raum. Selbstbewusst, cool. Sie schließt die Tür. Mit festem Druck. Die Kommissarin bietet ihr einen Platz an. Doch Lena bleibt vor dem Schreibtisch stehen. „Danke, nein.“ – Ja, so würde es laufen. Lena hält Blickkontakt. Sie sieht von oben auf die Kommissarin herab. Auf keinen Fall schaut sie zu Boden. Magenschmerzen? Nie und nimmer. Hämmerndes Pochen gegen die Schläfen? Keine Spur. Und diese bescheuerten Gedanken? Gedanken, die sie hin und her gewälzt hatte – seit Tagen schon: „Soll ich ….wirklich….?“, „Aber vielleicht doch lieber nicht…“, „Was passiert dann?…. mit ihm…“ – Am besten abschalten. Knopfdruck, graue Zellen aus. Gedankensperre. Für Zweifel war nun ohnehin kein Platz mehr in ihrem Kopf.

„Du tust das Richtige“, hatte ihre Mutter sie gestern noch einmal ermuntert. „Verstehst du? Du musst! Du musst es tun!” Und auf Mutters Stirn vertiefte sich die Falte zwischen den Augenbrauen. Wie ein in die Haut geschnittenes Ausrufezeichen. Das Ausrufezeichen war danach in ein schmerzhaft verzerrtes Gesicht übergegangen. Lenas Mutter bekam Migräne. Ausgerechnet am Abend vor diesem ätzenden Tag. Heute Morgen blieb ihre Mutter im Bett liegen. So war Lena sich selbst überlassen. Wie so oft, wenn Mutters Migräne ausbrach. Und die Migräne kam ohne Vorwarnung. Lena fühlte sich dann jedes Mal irgendwie schuldig. Als ob sie etwas tun müsste, um ihre Mutter zu befreien. Lena, die Retterin. Früher, wenn ihre Mutter manchmal mit geschlossenen Augen leise wimmernd dalag, ließ Lena ihre Handflächen über das Gesicht der Mutter kreisen. Um die bösen Geister zu beschwichtigen. Bis ihre Mutter es bemerkte und sie wegjagte. Nein, nicht ihre Mutter brüllte sie an, sondern die bösen Geister. Damals.

Und heute? Lena glaubt an keine Geister mehr. Trotzdem. Das, was sie heute vorhat, ist sicher nur gerecht. Es ist das Mindeste, was sie tun kann. Was sie für ihre Mutter tun kann. Lena ist es ihr schuldig. Schuldig. „Schuld–ich.“ Und er? Er kann ihr gestohlen bleiben. Sie hasst ihn! Von ganzem Herzen hasst sie ihn! Eigentlich hatte sie ihn aus ihrer Erinnerung ausgelöscht. Er existierte nicht mehr für sie. Auch seinen Namen entfernte sie. Sie warf ihn weg. Zuerst schrieb sie ihn mit dicken schwarzen Buchstaben auf ein großes Blatt Papier. Dann zerfetzte sie es in kleine Schnipsel und ließ sie in den Papierkorb segeln. Ein Schnipsel nach dem andern. Weg.

Doch nun musste Lena ihn wieder hoch holen. Sie musste ihn aus dem Gedächtnis hervorkramen. Eigentlich war es ganz leicht. Sein Bild war sofort da. Er – wie er redete. Wie er Lena in den Arm nahm, wenn sie traurig war. Wie er nachts nebenan wie ein Walross schnarchte und morgens den Espresso überkochen ließ. Und wie er früher Geschichten von stotternden Luftschaukeln und tanzenden Regenschirmen erfand und an ihrem Krankenbett wachte. Manchmal stundenlang. – Schwachsinn. Lena wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. Eine Träne der Wut. Der Verachtung. Was sonst?

„Na, nicht so traurig, kleines Fräulein. Wohin willst du denn?“ Plötzlich stand ein dicker Herr vor ihr. Ein Beamter in glattgebügelter Uniform. Er lächelte sie mit schiefem Mund an. Seine Schnurrbarthälften verdrehten sich dabei wie zwei Windmühlenflügel und eines seiner Augen bekam einen Eskimoblick. Lena musste lachen. – „Jetzt lachst du wenigstens. Na, hoffentlich lachst du mich an und nicht etwa aus. Wo sind eigentlich deine Eltern? Sie haben dich doch wohl nicht allein hierher geschickt?“ – „Mutter muss auf meine kleine Schwester aufpassen und Vater ist auf einer Dienstreise“, log Lena. „Cool bleiben“, dachte sie. „Bloß cool bleiben.“ Doch ihr wurde heiß im Gesicht. – „Aber, wer wird denn gleich…?“ – Zum Glück öffnete jemand abrupt eine Tür und rief den Beamten in sein Zimmer. Lena stand wieder allein auf dem Korridor.

Schließlich marschierte sie los. Sie ging von Tür zu Tür. Immer zick zack. Über den Gang und zur nächsten Tür. Die Schilder mit den Aufschriften las sie zweimal durch. Wer konnte schon wissen? – Am Ende übersah sie doch den entscheidenden Namen. So musste sie ihre Odyssee über den Korridor des Polizeiamtes noch einmal von vorn beginnen. – „Umbrecht“. Lena war mit Hauptkommissarin Umbrecht verabredet. Der Name hämmerte gegen ihre Schädelwand: „Umbrecht“, tak-tak-tak, „Umbrecht“. – Wie Unrecht… Endlich! Sie stand vor der gesuchten Tür und klopfte sofort an.

Ohne das „Herein“ abzuwarten, öffnete Lena die Tür. Dann stand sie vor einer jungen Kommissarin mit dick aufgetragenem Wangenrouge. Das dunkelrote, lange Haar floss bis in die riesigen Augen der Beamtin. Grüne Glotzaugen. Auch das noch! Die Kommissarin konnte wahrscheinlich in Lena hineinsehen. Und ihr würde sicher keine falsche Bewegung entgehen. – Ach, was. Lena hatte sich schließlich im Griff. Sie setzte sich aber doch, als ihr die Kommissarin einen Platz anbot. Der Stuhl fühlte sich kalt an. Ganz im Gegensatz zu Lenas Kopf. Lena rückte bis auf die linke vordere Spitze ihres Sitzes. Nur nicht umkippen! Nur nicht umkippen! „Ich bin Lena“, sagte sie leise. „Meine Mutter hat vor einer Woche angerufen.“

„Ich weiß.“ Die Beamtin schaute Lena mit ihren Froschaugen an. Dann ließ sie den Blick an Lena entlang gleiten. Einmal nach unten und danach wieder aufwärts. „Was glotzt sie mich so an?“, dachte Lena. „Gleich geh‘ ich.“ – „Du möchtest also Anzeige erstatten. So. so. Ich weise dich aber jetzt noch mal drauf hin: Unser Gespräch wird auf Tonträger aufgezeichnet. Das hat der Kommissar deiner Mutter ja schon mitgeteilt. Dann bist du also damit einverstanden?“ Lena quetschte ein „Ja“ zwischen den Zähnen hervor. – „Na gut. Deine Mutter hat uns ja bereits informiert. … Die Person, gegen die du etwas vorzubringen hast, ist eine Verwandte. Nicht wahr?“ – „Ein Verwandter“, korrigierte Lena. – „Nun ja. Jedenfalls hättest du das Recht der Zeugnisverweigerung. Willst du trotzdem aussagen?“

Jetzt war der Moment da. Jetzt könnte sie nach einem „Nein“ aufstehen und den Raum verlassen. Und nie, nie wiederkommen. Jetzt hatte sie die letzte Chance. Sie würde gehen und das Ganze auf sich beruhen lassen. Sollte ihre Mutter doch nerven. Sollte sie Lena Vorwürfe machen: „Du hast versagt. … Wie so oft. Ich kann mich einfach nicht auf dich verlassen.“ „Ver-sagt, verlassen, Un-recht“, dröhnte es in Lenas Kopf. – „Hat‘s dir die Sprache verschlagen? … Hm… Möchtest du vielleicht ein Glas Wasser oder einen Tee?“ Die Beamtin blickte etwas freundlicher. Sie holte eine Flasche Mineralwasser und ein Glas aus ihrem Schreibtisch hervor. Dann schenkte sie ein und stellte das Glas vor Lena ab. Lena vergaß, sich zu bedanken. Sie nahm einen tiefen Schluck Wasser und hielt eine ganze Weile lang die Luft an. Schließlich spie sie mit einem Atemzug die Worte hervor: „Ich will aussagen.“

2

Er begegnete ihr. Robert begegnete Katharina. In dem Moment, zu dem Zeitpunkt, als er niemanden kennen lernen wollte. Ein Zufall? Später, als er sich erinnerte, glaubte er nicht mehr daran. Diese Begegnung war vorherbestimmt.

So stand er an jenem späten Vormittag auf dem Bahnsteig in L. Hier hatte er vorerst abgeschlossen. Seine Gastprofessur an der hiesigen Hochschule für Musik war beendet. Vorläufig. Denn Robert wollte wiederkommen. Um die Verlängerung seines Vertrags hatte er bereits gebeten. Nur ein paar Details waren noch zu klären. Doch darum würde er sich später kümmern. Nach dieser Reise. Nach seiner Rückkehr. Roberts kurzer Rückkehr in sein altes Leben. Er hatte sie lange hinausgezögert. Auch noch am Tag zuvor. Die Einladung einiger Musikerfreunde nach seinem Konzert kam ihm da gerade gelegen. Sie feierten bis weit nach Mitternacht. Frühmorgens war er dann zu Fuß in seine Pension gelaufen. Das Packen seiner Reisetasche musste Stunden gedauert haben. Jetzt stand die Tasche neben ihm auf dem Bahnsteig. Obenauf lag der Koffer mit seinem Saxophon. Robert trug alle Dinge bei sich, die er in den nächsten beiden Wochen brauchen würde.

Hier hatte er schon mehrmals gestanden. Hier, auf dem Bahnsteig in L. Genau an dieser Stelle. Am Scheitelpunkt zwischen seinen Welten. An diesem Punkt war er gleichzeitig hier und dort. Dort – in seiner Vergangenheit, in die ihn diese Reise noch einmal führte. Hier – in seiner Zukunft. In seinem neuen Leben, in dem er längst noch nicht angekommen war.

Doch würde er jemals ankommen? Würde er dort wirklich abschließen können? – Fragen. Sie drängten sich auf. Sie schoben sich in Roberts Gedankenwelt. Tag für Tag. Und sie durchbrachen die unruhige Stille der Nacht. Dann fühlst du diesen Stich in der Brust. Als ob es dein Herz durchzuckt. Es spaltet. Er, Robert F., lebte mit einem gespaltenen Herzen. Eine Hälfte schlug in seiner Vergangenheit. Eine Hälfte schlug hier, in seiner Zukunft. Obwohl es einem mitunter so vorkommt, als schlüge das Herz überhaupt nicht mehr. Dann ist da dieses taube Gefühl, dann spürst du gar nichts. Doch wenn er spielte, wenn er seinen Atem hemmungslos in das Saxophon blies, fühlte er sich ganz. Er war eins mit der Musik, eins mit sich selbst. Meistens stellte sich dann dieser Groove in ihm ein. Als taumelten die Sinne vor Glück. Und so pendelte Robert im Auf und Ab seiner Seelenzustände.

„Ich war gestern in Ihrem Abschlusskonzert. Es war großartig! Ich…. bin noch ganz erfüllt von der Musik. Ihrer Musik. Danke.“ – Sie stand plötzlich vor ihm. Hochgewachsen. Hell leuchtende Haare. Mit Augen, die du siehst und nicht vergisst. Augen, die in das Leben eintauchen. In denen sich das Leben widerspiegelt. „Ich bin Katharina“, stellte sie sich vor. Ihr Lächeln war ansteckend. – „Robert. Ja, schön, dass es Ihnen gefallen hat…. Hab ich Sie nicht gesehen? – Ne, wahrscheinlich nicht…. Ich schließe auch meistens die Augen, wenn ich spiele.“

„Sie sahen aus … So … Ich weiß nicht. Na, jedenfalls nicht von dieser Welt.“

„Kennen Sie das? Das ist wie ein Rausch… Aber ich war auch ziemlich gut drauf gestern.“

„Hm, waren Sie…. Und … Ihre Blumen? Sie haben sie wohl vergessen?“

„Welche Blumen? … Ach, die Rosen. Die hab ich meiner Wirtin geschenkt…. Zum Abschied.“

„Kommen Sie denn nicht wieder?“

„Doch…. Ich denk‘ schon.“

Da war es wieder. Ihr Lächeln, das die trüben Gedanken vertrieb. Ein Lächeln – wie eine Morgendämmerung. Oder wie eine rosa Mohnblume. Sind Mohnblumen nicht leuchtend rot?

„Und … was machen Sie so? … Ich meine, wenn Sie nicht gerade auf Bahnsteigen rumstehen.“

„Ich? … Seelen flicken. Jedenfalls …. versuch‘ ich‘s. Ich bin Psychologin…. Oh, kommen Sie. Schnell!“

Der Zug war inzwischen eingefahren. Er stand schon eine Weile lang da. Der Schaffner riss die Wagentür auf und rief Robert und Katharina zu: „Beeilen Sie sich.“ Die beiden stiegen hastig ein. Als sie das Abteil betraten, fuhr der Zug auch schon los. Es gab noch genügend freie Plätze und das wenige Gepäck war schnell verstaut. Robert setzte sich auf einen Fensterplatz. Er saß Katharina gegenüber. So konnte man reden. So konnte man fast gleichzeitig ihre Augen sehen und aus dem Fenster schauen. Draußen ziehen Bilder vorüber: Häuser tauchen auf und rücken in die Ferne. Felder leuchten goldgelb. Weite Rapsfelder, die den Horizont berühren. Ein paar Wolken driften am Himmel vorbei. An den Straßenrändern stehen blühende Bäume. Telefonmasten überbrücken Entfernungen. Wie weit sie wohl reichen?

„Wie weit fahren Sie denn?“, fragte Katharina. – ‚Ob sie Gedanken lesen kann?‘ … „Nach K., in meine alte Heimat.“ – „Aber … Dann geh‘n Sie wohl zurück?“ – „Nein, nur für kurze Zeit. Eigentlich will ich wiederkommen … Jetzt, wo ich Sie kenne…“ – „Aha. Sie kennen mich also. … Das geht aber schnell bei Ihnen.“ – „Manchmal schon…. Und? … Fahren Sie auch nach K.?“ – „Nein. Aber ganz in Ihre Nähe. … Ich mache eine Fortbildung – Hypnosetherapie.“ Robert blickte Katharina irritiert an: „Das ist doch Manipulation, oder?“ – „Manipulation? …. Wie kommen Sie denn darauf.“ – „Na? Und? … Manipulieren Sie nun?“ – „Nein.“ Katharina lachte. „Also, wirklich!…. Sie haben doch nicht etwa Vorurteile?“ – „Na gut. Soll ich ehrlich sein? Ihr Psychologen redet einem doch so lange ein, dass man verrückt ist, bis man‘s selber glaubt. Und ihr könnt Gedanken lesen. …. Oder etwa nicht?“ – „Ich? Natürlich nicht…. Aber … hinter der Fassade … Dort schau‘ ich schon ab und zu mal nach.“

Robert wurde plötzlich still. Die Welt hinter der Fassade. Das andere, das unsichtbare Ich. Er hatte es erfahren. Eines Tages offenbarte es sich. Obwohl es ihm lange verborgen blieb. Weil er es ignorierte. Weil sich das Leben für Robert eher draußen abgespielte. – Seelenpiss. Das war früher nie seine Sache. Bis er sich auf eine Reise nach Innen begab. Unwillkürlich musste er nun an sie denken. Sie, die er begraben hatte. Ganz tief unten im Gedächtnis. Bei den Lebensirrtümern, die man am liebsten ungeschehen macht. Post-phalliatische Amnesie. Oder besser: Man geht an den Ausgangspunkt des Geschehens zurück. Klappe, die zweite. Als ob bereute Lebensentschlüsse mit einem verpatzten Rollenspiel zu vergleichen sind! Oder mit einem Fehlstart.

Obwohl. Es gab Hinweise. Lange schon. Hinweise seiner Freunde. Seine eigenen Bedenken. Signale, die von ihr ausgingen. Die er nicht hätte wegwischen sollen. Ihre allzu kompromisslose Art, die Welt zu betrachten. Ihre Mitmenschen zu verurteilen. Diese Prinzipienreiterei. Und die Heimlichkeiten. Robert hatte manchmal das Gefühl, dass sie ihm etwas verschwieg. Etwas, das mit ihr und ihrer Vergangenheit zu tun hatte. Etwas, das auch ihn anging. All das waren Anzeichen, die er hätte ernst nehmen sollen! Er säße nicht in diesem Zug. Er hätte nicht diese Entscheidung getroffen. Eine Entscheidung, die sein altes, sein gewohntes Leben umstoßen würde. Sein Leben wäre ohnehin ganz anders verlaufen.

Eine Stimme riss Robert aus seinen Gedanken: „Ihre Fahrkarten, bitte.“ Als Katharina dem Schaffner ihre Bahncard reichte, sah Robert ein großes B hinter ihrem Vornamen. B – wie „begegnen“. Robert kramte in seiner Tasche. Schließlich hielt er sein Notizbuch in der Hand und blätterte darin. Dann zeigte er Katharina eine Skizze: Farbige Linien, die zusammentreffen. Die sich in einem Punkt berühren. Ein Moment der Begegnung. Dann strömen die Linien in verschiedene Richtungen auseinander. Darunter waren unleserliche Worte gekritzelt.

„Hier…. Sehen Sie mal. Das sind wir.“ – „Oh, tatsächlich?… Wie deprimierend…Haben Sie mal einen Stift?“ Robert zog für sie einen Bleistift aus der Jackentasche. Katharina nahm ihn und malte zwei Linien, die sich einander nähern. Der Platz in Roberts Notizbuch reichte nicht aus, und sie skizzierte auf der Fensterbank weiter: „So…. Das gefällt mir schon besser… Man trifft sich nämlich immer zweimal im Leben…. Die Dualität der Ereignisse. Wissen Sie?“ Robert nickte vielsagend. „Dass ihr euch im Westen auch damit beschäftigt…“ – „Na, da hoffe ich mal, dass ich Ihr Weltbild nicht erschüttert hab‘. … Aber Sie lächeln ja noch. … Dann… Warte mal. … Ich möchte dir noch was zeigen.“ Es fiel ihm auf, dass er sie plötzlich duzte. Sie schien jedoch nichts dagegen zu haben.

Robert blätterte wieder in seinem Buch. Er wies auf eine mit Bleistift beschriebene Seite: „Hier, sieh mal. Du kannst es gern lesen.“ Die Sätze hatte er erst gestern notiert. Nun schaute er Katharina zu, wie sie las. Es war merkwürdig, dass er einer wildfremden Frau so einfach seine Aufzeichnungen anvertraute.

„Klänge schweben durch den Raum. Sie erzählen Geschichten. Geschichten, die sich, kaum dass sie da sind, wieder verflüchtigen. Manche Klangfolgen erscheinen wieder. Tänzelnd bewegen sie sich aufeinander zu. Im Wechseltakt. Bis sie, eine in die andere, überfließen. Bis sie verschmelzen. – Ein letzter Tanz. Eine letzte Umarmung. Dann strömen sie wieder auseinander. Sie driften davon. Später der Moment des Umkehrens. Plötzlich. Motive steuern erneut aufeinander zu. Sie versinken ineinander. Sie werden eins. Das Weiche, Fließende und das Harte, Abgehackte. Ein Wechselspiel. Immer wieder.“

„…Und das Schöne dabei ist … Du weißt vorher nie, wohin es dich lenkt. Du folgst einfach den Impulsen in dir. Und jeder Impuls führt dich zum nächsten. … In der Musik wie im Leben.“ – „Dann sind wir nur zufällig hier?“ – „Vielleicht… Vielleicht nicht… Da ist ja auch noch die Bestimmung. Die Vorherbestimmung.“ – „Und? Glaubst du an Zufälle?“ – „Na, klar. … Obwohl… Meinst du, dass wir uns heute wirklich nur zufällig begegnet sind?”

3

In K. war der Himmel bewölkt. Schon in den frühen Morgenstunden hing ein Dunstschleier über der Stadt. Der Tag blieb trüb und die Abenddämmerung setzte früher als gewöhnlich ein. Auch im Zimmer brannte kein Licht. Hella hatte die Vorhänge zugezogen. Sie saß im Halbdunkeln. Das tut sie öfter in letzter Zeit. Sie ist dann für keinen zu sprechen. Sie ist scheinbar lautlos und unsichtbar. Ihr Dasein ist ausgelöscht. Sie ist nicht existent. – Einfach ins Nichts eintauchen! Wie in einen Sog gezogen werden und sich auflösen. Nicht da sein, nicht gewesen sein, nicht werden. Weder im Raum noch in der Zeit existieren. Eine Vision, die sie sich gerne ausmalte. Eine Idee, über die sie nachsann. Die Idee von der Nicht-Existenz. Vom Nichtsein.

Doch Hella saß da. Sie saß im Wohnzimmer und hielt diesen Brief in der Hand. Einen Brief von Robert. Nachdem sie ihn wieder und wieder gelesen hatte, zerknüllte sie das Papier. Sie drückte es fest zusammen. Bis ihre Finger zitterten. Die Worte kannte sie längst auswendig: „Ich werde nicht mehr zu dir zurückkommen. Wir haben uns auseinander gelebt und mir ist klar geworden, dass es mir ohne dich besser geht. Meine Entscheidung fühlt sich einfach richtig an. Ich hoffe, du verstehst das. Bitte glaub mir, es tut mir leid. Es tut mir leid um uns und unsere Träume! Robert.“ Er wolle noch diese Woche kommen und seine Sachen abholen.

Das klang endgültig. Unumkehrbar. Ob es ihm wirklich ernst war? Hella schüttelte den Kopf. Sie hatte auf ihn gewartet. Auch dieses Mal. Und sie hatte gehofft. Als er ihr vor einem halben Jahr mitteilte, er würde die Gastprofessur in L. antreten, redete sie ihm zu: „Der Abstand wird uns gut tun.“ Sie gab vor, seinen resignierten Blick nicht zu bemerken. Zwei Tage später fuhr er weg, ohne sich von ihr zu verabschieden. Nur ein Zettel lag auf dem Küchentisch: „Mein Zug geht um 9.28. Du schläfst noch. Ich wecke dich nicht. Mach’s gut. R.“ Früher hätte er sie gebeten, ihn auf den Bahnhof zu begleiten. Früher hätte er sich nicht von ihr losreißen wollen. Wahrscheinlich wäre er nicht einmal für eine solch lange Zeit weggegangen. Früher…

Während er in L. war, hatten sie kaum Kontakt zueinander. Nur seiner Tochter schrieb Robert jede Woche einen langen Brief. Hella öffnete die Briefe immer als Erste. Bis ihre Tochter ihr irgendwann einen Brief aus der Hand riss und tagelang schmollte. Seither erhielt das Mädchen keine Post mehr von ihrem Vater. Weshalb, das war Hellas Geheimnis. Es gab da einen alten Reisekoffer auf dem Dachboden. Ein Koffer der Erinnerungen. Erinnerungsstücke an Robert, die sie aufbewahrte und hin und wieder hervorkramte. Die sie abtastete und betrachtete. Deren erahnten Duft sie einsog und sich dabei an Roberts Worte entsann. Worte, die er vor langer Zeit gesagt hatte. Hella flüsterte sie immer wieder vor sich hin. Sie schrieb sie auf farbige Briefbögen, die sie bündelte. Der alte Reisekoffer verbarg all diese Erinnerungen. Und er hütete ihr Geheimnis. Den verrosteten Schlüssel zum Koffer trug Hella an einer Kette um den Hals.

Auch die Briefe an ihre Tochter verheimlichte Hella. Sie verheimlichte Roberts Worte, die ohnehin an sie, Hella, gerichtet waren. Worte, die aus Roberts tiefstem Innern sprachen und nur ihr galten. Zeichen, die er aussandte. Um eine Brücke zu bauen. Um sich ihr wieder zu nähern. Ja, so musste es sein. Denn ihre Beziehung hatte etwas Einzigartiges. Etwas, das zuallererst nur sie und ihn betraf. Nicht ihre Tochter und auch nicht seine Mutter. Die hatte den letzten Streit zwischen Robert und ihr überhaupt erst verursacht. Ausgerechnet an Hellas Geburtstag musste ihre Schwiegermutter erkranken. Ausgerechnet an ihrem Geburtstag musste Robert seine Mutter besuchen. Das Magengeschwür war in des Wortes wahrstem Sinn bösartig. Denn es wucherte. Es häufte einen hohen Wall zwischen Hella und Robert an. Es vergiftete ihre Liebe. Zum Glück war Roberts Mutter nun tot.

Hella sprang plötzlich auf. Sie lief im dunklen Zimmer umher. Immer auf und ab. Auf und ab. Gedanken und Bilder jagten durch ihren Kopf. Szenen, in denen Robert vorkam. In denen sich real Erlebtes und Fiktion vermischten. „Du hast verloren“, spotteten Stimmen in ihr. „Du hast ihn verloren.“ Hella hielt sich die Ohren zu, doch es höhnte weiter. – „Das werdet ihr büßen! Alle! Du wirst es büßen!“, schrie es aus ihr heraus in das dunkle Zimmer hinein. Die Worte hallten in ihren Ohren wider. Sie verselbständigten sich. Sie sprachen zu ihr. – Sie sollen endlich schweigen! Die Stimmen sollen Ruhe geben! Ruhe! – „Ich mach‘ euch fertig! Dich mach‘ ich fertig!“

Blitzartig ergriff Hella den Telefonhörer und wählte Roberts Handynummer. Eine weibliche Stimme verkündete, dass der Teilnehmer nicht erreichbar sei. – „Das kann nicht dein Ernst sein!“ Hella brüllte in den Hörer. „So einfach kommst du mir nicht davon! So nicht!“ Als sich die Mailbox einschaltete, hatte sie bereits aufgelegt. Nach kurzer Zeit wählte sie erneut. Sie drückte auf die Raute–Taste. Wieder und wieder. Worttiraden brachen aus ihr hervor. Wortschwalle, die Robert irgendwann abhören würde. Bereuen sollte er. Bereuen und sie um Verzeihung bitten. So, wie all die Male zuvor.

Noch einmal wählte sie. Doch die Nummer war besetzt. Hella warf den Hörer gegen die Wand. Das Loch in der Tapete hatte ein Gesicht. Roberts Gesicht, das sie mitleidig anblickte. Hella warf den Telefonhörer in das Gesicht: „Ich mach‘ dich kaputt! So, wie du mich kaputt machst!“ Der Hörer fiel zu Boden und ging entzwei. Sollte doch der Anschluss unterbrochen sein! Sollte doch der letzte Draht zu Robert abgeschnitten sein! …

Hella schaltete das Licht an. Sie zog die Vorhänge beiseite. Die Straßenlampe vor dem Haus leuchtete durch das Fenster. Sie schaute hinaus. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hielt ein Taxi. Ein Mann stieg aus. Dann knallte die Autotür zu. Hella wartete nicht, bis sie den Mann im Dunkeln erkennen konnte. Stattdessen lief sie zur Eingangstür und schloss sie zweimal ab. Den Schlüssel ließ sie im Schlüsselloch stecken. Obwohl Robert ohnehin nicht hineinkäme. Einer spontanen Eingebung folgend, hatte Hella am Tag zuvor das Türschloss austauschen lassen. Nur für alle Fälle.

Sie setzte sich ans Fenster und lauschte. Das Taxi fuhr wieder ab. Es klingelte. Sicher hatte der Besucher bemerkt, dass sie zu Hause war. Es klingelte noch einmal. Doch Hella blieb sitzen. Sie zelebrierte ihre Präsenz. Mit allen Sinnen nahm sie wahr, dass sie da war. Ja, sie war anwesend und ließ ihn nicht eintreten. – Ihn da draußen zu wissen! In seiner Ohnmacht. Das fühlte sich göttlich und teuflisch zugleich an. Leise lief sie zur Tür und hielt ihr Ohr daran. Sie konnte seinen Atem hören. Und sie spürte seinen Finger auf dem Klingelknopf, als er ihn erneut drückte. Vergeblich.

Und dennoch. Sie ist da. Und sie bleibt präsent. Präsent für ihn. Wie ein unsichtbarer Verfolger wird sie ihm auf der Spur bleiben. Sie wird sich an sein Dasein heften. Weil sie existiert. Denn es ist unmöglich, nicht zu existieren. Und wie sollte sie auch das, was war und was ist, ungeschehen machen? Ins Nichts umkehren? Nein, das Nichts existiert nicht. Und Raum und Zeit haben beide mindestens drei Dimensionen. Eine davon ist das Morgen. Und das zählt.

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