Czytaj książkę: «Haarmanns Erbe»
Ulrike Gerold / Wolfram Hänel
HAARMANNS ERBE
Kriminalroman
© 2015 zu Klampen Verlag · Röse 21 · D-31832 Springe
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Umschlaggestaltung: HildenDesign, München
Umschlagmotiv: Timm Ulrichs: Kopf-Stein-Pflaster, Foto: Gero Brandenburg/©Wikipedia
Satz: Melanie Beckmann, design-beckmann.de
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015
ISBN 978-3-86674-452-3
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Vorspiel
1. Buch
2. Buch
3. Buch
Nachspiel
Jeder Krimi ist ein Regionalkrimi - Ein Nachwort
Die Autoren
Weitere Bücher
Vorspiel
Als der Henker kommt, um mit einem Messer den Jackenkragen abzutrennen, versucht Haarmann es ein letztes Mal. »Köppen ist in Ordnung«, sagt er freundlich. »Köppen und damit fertig. Aber können wir das nicht auf dem Klagesmarkt machen? Dass mich viele Leute sehen, das wäre doch schön. Hier auf dem Hof vom Gefängnis ist ja nichts los. Da kriegt keiner was mit!«
Der Henker gibt keine Antwort. Scheint überhaupt ein schweigsamer Kerl zu sein. Kein Jüngelchen mehr. Hat schon viel gesehen. Da gibt es nichts Neues mehr für ihn. Macht nur seine Arbeit, als wäre Haarmann einer wie alle anderen. Nichts Besonderes weiter.
Das Geräusch, mit dem das Messer die Nähte durchtrennt, lässt ihn frösteln. Unwillkürlich zieht er die Schultern hoch. Der Henker packt ihn mit hartem Griff am Oberarm.
Er versteht es nicht. Er ist doch berühmt! Die Leute kennen ihn. Sie haben Angst vor ihm. Und sie reden über ihn, nicht nur in Hannover. Alle großen Zeitungen haben über ihn geschrieben.
Auf den Fotos sieht er gut aus. Mit ordentlich gekämmtem Seitenscheitel und einem forschenden Blick, als wollte er seinem Gegenüber bis in die tiefsten Abgründe der Seele schauen. Nur die Jacke spannt ein wenig vor dem Bauch. Er muss daran denken, den untersten Knopf zu schließen, wenn sie ihn zur Fallschwertmaschine führen.
Aber er will ein großes Publikum für seine Hinrichtung! Das hat er ja wohl verdient. Er hat 24 Morde gestanden, ohne der Polizei irgendwelche Schwierigkeiten zu machen. Hat bei jedem neuen Namen nur gesagt: »Ja, schreiben Sie man dazu.« Was wollen sie denn noch? Da könnten sie ihm doch wohl wirklich einen letzten Gefallen tun. Damit er den Leuten wenigstens noch einmal sagen kann, was sie hören wollen. Dass Menschenfleisch nicht aussieht wie Schweinefleisch. Oder wie Kalbfleisch. Auch nicht wie Pferdefleisch. Nee, das sieht viel schwärzer aus! Er muss es wissen, er hat ja immer die Hände voll davon gehabt.
Eine Taube flattert auf den Hof. Als sie in den Spalten und Rissen des Pflasters nach Krümeln pickt, sieht er, dass sie nur ein Bein hat. Vielleicht haben die Jungen mit Steinen nach ihr geworfen, denkt er. Auf dem Pausenhof des Kaiser-Wilhelm-Gymnasiums auf der anderen Seite der Mauer. Es ist lange her, dass er dort vor dem Tor gestanden und sie heimlich beobachtet hat. Die bunten Mützen, die sie trugen, fand er schön. Er weiß nicht, warum er sich ausgerechnet jetzt daran erinnert.
Der Henker stößt ihn vorwärts. Dann war es das also, denkt er, als er die Stufen zu dem hölzernen Gerüst hinaufsteigt. Kein großes Publikum. Eine Hinrichtung wie jede andere auch. Gerade mal fünf Männer kann er zählen, die gekommen sind, um zu sehen, wie sein Kopf gleich für immer in die bereitgestellte Kiste fallen wird. Und ein Fotograf. Wenigstens das.
Auf der Mauerecke wächst eine kleine Birke, die in den Fugen zwischen dem roten Klinker seltsamerweise Wurzeln geschlagen hat. Die Taube hüpft unbeholfen davon. Vom Pausenhof schallt schrilles Knabenlachen herüber. Eine Straßenbahn rattert vorbei. Das ist die Linie 7. Die von Buchholz kommt. Ein Lastwagen spuckt Qualmwolken über die Mauer. Vielleicht zieht jemand um. Er selber zieht ja auch gleich um. Aber er braucht keinen Laster dazu.
Der Knopf! Er muss den Knopf schließen. Seine Hände fummeln ungeschickt. Der Griff des Henkers zwingt ihn in die Knie.
Aber ohne einen letzten Satz kann er nicht abtreten. Nicht einfach so. Das ist er sich und seinem Publikum schuldig. Auch wenn es viel zu wenige sind. Er räuspert sich, damit sie auch wirklich hinhören …
»Rutsch, fällt das Messer runter, wutsch, bin ich weg!«
Gut so. Daran werden sie sich auch nach seinem Tod noch erinnern. Ebenso wie an die Knochen und Schädel an den Ufern der Leine.
Als er das Beil kommen hört, zwingt er sich, die Augen offen zu halten.
Für einen Moment zweifelt der Henker hinterher daran, ob er es sich nur eingebildet hat oder ob es wirklich so war. Doch, er ist sich sicher! Er hat es ganz deutlich gehört. Gleich darauf war dann der Kopf mit den weit aufgerissenen Augen dumpf in der Kiste aufgeschlagen – und er hatte sich beeilen müssen, um den Rumpf zu Boden zu drücken, der sich kopflos aufrichten wollte wie ein Hahn, der noch einmal durch die Scheune flattert, während ihm das Blut aus dem Stumpf des Halses schießt. Aber das kannte er, das waren nur die Muskeln, die sich in einem letzten Aufbegehren zusammenzogen. Das andere war schlimmer. Diese beiden Worte, die Haarmann noch hervorgestoßen hatte, kurz bevor das blanke Beil schmatzend auf den ungeschützten Nacken traf: »Auf Wiedersehen!«
1. Buch
Man kann ja nie wissen –
(Inschrift auf dem Grabstein von Kurt Schwitters)
Samstag, 26. September. 20.30 Uhr.
Die Party fand in der großen Wohnküche statt. Tabori hatte sich nach einigem Überlegen für Spaghetti mit Hackfleischsoße entschieden, das Rezept stammte aus einem zerfledderten Kochbuch, mit dessen Hilfe ihm schon vor bald dreißig Jahren mehr oder weniger komplizierte Gerichte meist erstaunlich gut gelungen waren. Der Titel wies deutlich genug auf jene Zeit hin, als Tabori sich noch um nichts in der Welt hätte vorstellen können, irgendwann den Kochtopf gegen eine Dienstwaffe einzutauschen: »Kochbuch für Kooperativen, Wohngemeinschaften und Kollektive sowie isolierte Fresser«. Mit dem Knoblauch hatte er es genau wie früher wieder mal eindeutig übertrieben, aber der schwere Eisentopf, in dem die Sugo vor sich hin köchelte, war dennoch schon so gut wie leer.
Sie waren alle gekommen, auch die, die er nicht eingeladen hatte. Er hatte Lepcke im Verdacht, nicht nur dem gesamten Kommissariat, sondern zu allem Überfluss auch noch Heinisch Bescheid gesagt zu haben. Dem alten Oberstreber mit der schwarzen Buddy-Holly-Brille, mit dem er zusammen auf der Schule gewesen war. Der erst die falsche Musik gehört hatte, dann natürlich Jura studiert und plötzlich als Polizeipräsident wieder aufgetaucht war – aber schon wenige Monate später über einen womöglich fingierten Skandal im Rotlichtbezirk stolperte und seinen Abschied einreichen musste. Es passte zu Lepckes Humor, ihm ausgerechnet den dicken Heinisch in die Küche zu setzen, dachte Tabori.
Heinisch verteilte gerade großzügig Zigarren, gleichzeitig rief er Tabori zu, dass die Runde am Tisch nichts mehr zu trinken hatte.
»Lassen Sie mal die Luft aus den Gläsern, Herr Hauptkommissar!« Gefolgt von einem dröhnenden Lachen, das sein Doppelkinn beben ließ.
Die Flasche schottischen Whiskys, die Heinisch mitgebracht hatte, war längst ausgetrunken, ebenso wie der Kasten Herrenhäuser. Tabori hatte mit vier oder fünf alten Kollegen gerechnet, nicht mit der vollzähligen Mannschaft. Schweren Herzens bückte er sich, um den Karton mit dem Rotwein aufzureißen, den der Gerichtsmediziner angeschleppt hatte. Mit Sicherheit kein billiger Tropfen, Professor Dr. Ulrich C. Bohnenkamp wusste, was gut war.
So ähnlich hatte er es auch formuliert, damit Tabori gar nicht erst etwas anderes mutmaßen konnte: »Ein echter Barolo«, hatte er zur Begrüßung gesagt, »lass es langsam angehen damit, das ist nichts, was du an der nächsten Tanke kriegst.« Um gleich darauf auch noch hinzuzusetzen: »Ich weiß, dass wir unsere Schwierigkeiten miteinander hatten. Aber vielleicht ist es an der Zeit, noch mal ganz von vorne zu beginnen. Auch wenn du mich nicht magst, aber du irrst dich, wenn du denkst, dass das auf Gegenseitigkeit beruhen würde. Ich bin nicht unbedingt ein Freund deiner ja wohl eher unorthodoxen Ermittlungsmethoden, mal ganz zu schweigen davon, wie du rumrennst, aber ich habe dich trotzdem immer für einen der fähigsten Ermittler gehalten, die wir je hatten.«
Tabori hatte nicht gewusst, was er darauf antworten sollte, und war froh gewesen, als ihn Sommerfeld erlöste. Ihm den Arm um die Schultern legte und aus seinen fast zwei Metern Höhe brüllte: »Mann, du glaubst gar nicht, wie oft ich dich in diesem letzten Jahr vermisst habe! Keiner, der mir einen Haufen Sand auf den Schreibtisch kippt und wissen will, wo der herkommt, und vor allem keiner, der mich abends mal auf ein konspiratives Treffen in die Kneipe einlädt und mir mein Bier bezahlt, damit ich ihm unter der Hand ein paar Infos besorge. Das hat mir echt gefehlt, und ich hoffe doch sehr, dass es mit der Langeweile jetzt auch mal vorbei ist, wenn du wieder mitmischst!«
»Ich tue mein Bestes«, hatte Tabori gegrinst und gleichzeitig gedacht, dass der alte Spurensicherer tatsächlich jemand war, bei dem er sich auf die erneute Zusammenarbeit freute. Eigentlich sollte Sommerfeld längst pensioniert sein, aber aus irgendeinem Grund war sein Arbeitsvertrag nochmals verlängert worden. Wahrscheinlich weil niemand zu finden gewesen war, der Sommerfeld ersetzen konnte. Die Polizei hatte nicht nur bei den uniformierten Kollegen Schwierigkeiten, Nachwuchs zu finden …
Tabori stellte gleich drei Flaschen auf den Tisch und schob Heinisch den Korkenzieher hin. Bohnenkamp rauchte jetzt ebenfalls Zigarre und ließ sich umgehend über den besonderen Tropfen aus, den sie da gleich im Glas haben würden.
»So ein zehn Jahre alter Barolo hat ein nahezu groteskes Aroma, mit einem würzigen, herbstlich anmutenden Duft nach toten Blättern und Pilzen, obwohl der Wein selber alles andere als tot ist, ihr werdet es gleich merken!«
Er klang kaum anders, als wenn er am Seziertisch stand, dachte Tabori unvermittelt. Aber vielleicht war es auch nur die offensichtliche Begeisterung für das Wörtchen »tot«, die ihn an Bohnenkamps langatmige und mit Fachbegriffen gespickte Vorträge in der Pathologie erinnerten.
Die Luft im Raum war zum Schneiden dick, obwohl die Fenster bereits auf Kipp standen. Und wenn Lepcke weiterhin Taboris alte Schallplatten auf voller Lautstärke laufen ließ, würde es sicher nicht mehr lange dauern, bis die Nachbarn sich beschwerten und die Polizei riefen. Tabori musste grinsen, als er sich die Gesichter der Streifenwagen-Besatzung vorstellte, wenn sie plötzlich die eigenen Kollegen zu Ruhe und Ordnung ermahnen sollten – einschließlich des ehemaligen Polizeipräsidenten, den sie zumindest aus den Pressemeldungen kennen mussten. Die Zeitung hatte ausführlich genug über Heinischs Aufstieg und vor allem seinen spektakulären Absturz berichtet.
Durch den Zigarrennebel hindurch konnte er sehen, dass Lepcke zwei Schallplattenhüllen in die Höhe hielt, »Exile on Main Street« und Led Zeppelin, »Stairway to Heaven«. Tabori schüttelte den Kopf und drängte sich zwischen irgendwelchen Kollegen bis zum Plattenspieler durch. Dass die Kollegen ihm dabei ausnahmslos auf die Schultern klopften, machte die Sache nicht unbedingt besser.
»Was willst du hören?«, brüllte Lepcke ihm über den Lärm hinweg zu.
»Ton Steine Scherben«, brüllte Tabori zurück. »›Wir müssen hier raus, das ist die Hölle‹!«, zitierte er den Song, der die Situation für ihn in einer einzigen Zeile zusammenzufassen schien.
Lepcke grinste. »Mann, was ist los mit dir? Das ist dein Abend heute, freust du dich nicht?«
»Geht so.«
Lepcke winkte ihn mit dem Zeigefinger näher zu sich. »Wo ist Lisa überhaupt? Kommt sie noch oder …?«
Er ließ die Frage offen, Tabori wusste auch so, was er meinte.
»Oder«, sagte er. »Sie hat die Hunde genommen und ist an die Ostsee. Irgendwelche Leute besuchen, die sie von früher kennt. Ich schätze mal, sie wird für einige Zeit wegbleiben. Sie hat mir eine ziemliche Szene gemacht, als ich ihr meinen Entschluss gebeichtet habe.«
»Womit du jetzt nicht die Party meinst?«
»Womit ich jetzt nicht die Party meine«, bestätigte Tabori. »Aber du kennst sie, du weißt, was sie von dem Polizeiapparat hält. Kurz zusammengefasst hat sie eigentlich nur erklärt, dass sie noch nicht weiß, ob sie es ertragen kann, weiterhin mit einem Bullen unter einem Dach zu wohnen.«
Lepcke nickte. »Passt zu ihr. Sie wird es nie begreifen. Irgendwas bei ihr da oben stimmt nicht, das ist mir schon länger klar.«
Er tippte sich an die Stirn und stand auf, um sich von einer Kollegin eine Zigarette zu schnorren. Als er das Feuerzeug aufflammen ließ, sah Tabori, dass seine Hände zitterten.
»Sie hat nichts zu dir gesagt?«, fragte Tabori.
Lepcke lachte auf. Es klang nicht fröhlich. »Kein Wort. Aber das ist ja nichts Neues.«
Lisa war Taboris Mitbewohnerin. Oder zumindest war sie es bis gestern noch gewesen. Eine Hundeausbilderin, mit der sich Tabori die alte Fabrikantenvilla mit dem hoffnungslos verwilderten Garten im Gewerbegebiet von Bothfeld teilte. Mit ihr und ihrem Rudel Border Collies. Wobei die Border Collies ganz eindeutig die einfacheren Hausgenossen waren. Lisa war speziell. Und ihre kompromisslosen Einschätzungen vor allem von Taboris Arbeit bei der Mordkommission waren nicht nur gewöhnungsbedürftig, sondern in höchstem Maße anstrengend. Die wenigen Freunde, die Tabori hatte, hielten Lisa ohnehin für schlichtweg unmöglich. Dennoch hatte Lepcke eine kurze Affäre mit ihr gehabt, die nie ganz beendet worden war und von Zeit zu Zeit unerwartet heftig wieder aufflammte.
Seine Enttäuschung über Lisas Verschwinden stand ihm jetzt deutlich ins Gesicht geschrieben. Aber so war es, wenn man sich mit Lisa abgab, dachte Tabori, und irgendwann würde auch Lepcke begreifen, dass es ihr vollkommen egal zu sein schien, was andere von ihr dachten. Oder wen sie mit ihren Reaktionen vor den Kopf stieß. Tabori wusste das nur zu gut aus eigener Erfahrung.
Er legte Lepcke die Hand auf die Schulter und wollte gerade irgendetwas sagen, als Lepckes Handy schrillte.
Lepcke warf einen Blick auf das Display und verdrehte die Augen. Bevor er das Gespräch annahm, konnte Tabori gerade noch das Wort Waterloo lesen. Also ein Anruf von der Leitstelle, Waterlooplatz 11 …
»Ich bin nicht im Dienst!«, blaffte Lepcke, ohne sich erst mit Namen zu melden. Um dann aber doch mit zusammengezogenen Augenbrauen zuzuhören, während er mehrmals unwillig den Kopf schüttelte und schließlich mit einem Blick auf Tabori sagte: »Keine Ahnung, wahrscheinlich hat er sein Handy ganz einfach ausgeschaltet! Offiziell ist er ja auch noch gar nicht wieder dabei. Er fängt erst am Montag an. – Ja, doch, er ist hier, aber wir sind auf einer Party, und es passt gerade wirklich nicht. Können Sie den Anrufer nicht abwimmeln? – Ja, schon gut, ich hab’s ja kapiert. Stellen Sie das Gespräch durch, ich geb’ ihm mein Handy.«
Lepcke streckte Tabori das Handy hin.
»Für dich. Tut mir leid, ich weiß nicht, worum es geht. Aber es scheint wichtig zu sein.«
Im ersten Moment konnte Tabori außer Knacken und Rauschen kaum etwas verstehen. Mit dem Handy am Ohr schob er sich durch die Küche, kurz bevor er die Haustür öffnete, um nach draußen zu gehen, hörte er hinter sich noch mal Heinischs Lachen, gleich darauf dröhnte ein neuer Song aus den Lautsprechern, Rio Reiser, »Ich bieg dir ’n Regenbogen«, die eher poetische Seite des früheren Ton-Steine-Scherben-Sängers.
Es nieselte leicht. Tabori zog die Haustür ins Schloss und drückte sich mit dem Rücken an die Wand unter dem vergitterten Toilettenfenster, so dass das schmale Vordach ihn vor dem Regen schützte.
»Hauptkommissar Tabori?«
Die Stimme klang so verzerrt, dass er unmöglich entscheiden konnte, ob er mit einem Mann oder einer Frau sprach.
»Kennen wir uns?«, fragte er zurück.
»Nein, aber ich habe über Sie in der Zeitung gelesen. Letzte Woche, in dem Artikel, in dem auch stand, dass Sie mal eine ziemlich große Nummer waren. Der ›Schimanski von Hannover‹, so sind Sie doch genannt worden, richtig? Stand da jedenfalls …«
»Das ist lange her«, antwortete Tabori ausweichend.
»Und jetzt sind Sie jedenfalls wieder dabei, habe ich gelesen. Bei der Mordkommission.«
Tabori war sich inzwischen sicher, dass es sich um einen Mann handeln musste. Und irgendetwas in der Stimme ließ ihn zögern, das Gespräch einfach zu beenden.
»Montag ist mein erster Arbeitstag. Im Moment bin ich …« Noch nicht zuständig, wollte er eigentlich sagen. Für was auch immer. Aber die Stimme unterbrach ihn.
»Bis Montag kann das nicht warten. Sie müssen jetzt kommen und sich das ansehen, sofort! Ich habe hier gerade eine Leiche gefunden. Also eigentlich ist es gar keine ganze Leiche, sondern nur der Kopf! Aber er ist echt, das können Sie mir glauben, das habe ich sofort gesehen. Ein abgeschlagener Kopf. Und der steckt in so einem Glasbehälter, wie in irgendeinem Labor oder so was.« Die Stimme überschlug sich jetzt fast, Tabori hatte Mühe, die einzelnen Worte voneinander zu trennen. »Unten an dem Glas ist auch noch ein Schild angebracht! ›Fritz Haarmann‹ steht da drauf, Sie wissen schon, dieser Massenmörder aus den dreißiger Jahren. Und ich glaube, er ist es wirklich!«
Serienmörder, korrigierte Tabori im Stillen, nicht Massenmörder.
»Wo sind Sie?«, fragte er laut. »Wo haben Sie diesen Kopf gefunden?«
»Am Schiffgraben. Neben dem Finanzministerium, wo auch die anderen Köpfe liegen.«
»Wie bitte? Welche anderen Köpfe?«
»Diese Dinger aus Beton, von dem Künstler! Und mittendrin ist das Glas mit Haarmanns Kopf!«
Vielleicht war es die präzise Beschreibung des Fundortes, vielleicht auch der Fundort selbst, jedenfalls zweifelte Tabori keinen Moment daran, dass der Anrufer die Wahrheit sagte.
Er blickte auf die Uhr. Kurz nach neun erst. Und nach dem Lärm, der aus der Küche drang, würde die Party noch eine ganze Zeitlang so weitergehen. Seine Party, zu der er spätestens, als Heinisch auftauchte, schon keine Lust mehr gehabt hatte. Von Bohnenkamp und noch ein paar anderen mal ganz zu schweigen.
Er räusperte sich. »Ich komme«, sagte er zu dem unbekannten Anrufer. »Ich mache mich sofort auf den Weg. Geben Sie mir eine Viertelstunde. Und fassen Sie nichts an, lassen Sie alles so, wie Sie es gefunden haben.«
Er unterbrach die Verbindung, ohne eine Antwort abzuwarten. Seine Lederjacke hing in dem kleinen Vorraum gleich hinter der Tür. Zwei junge Polizistinnen tanzten eng umschlungen, beide hatten lange blonde Haare, die zu einem Pferdeschwanz gebunden waren – und beide trugen ihre Uniformmützen, hatten sie allerdings so weit zurückgeschoben, dass sie ihnen auf den Hinterköpfen zu kleben schienen. Das Bild erinnerte Tabori an Fotos aus den anrüchigen Bars im Berlin der Zwanzigerjahre.
Lepcke konnte er nirgends sehen, »ist auf dem Klo«, lautete die Auskunft eines älteren Beamten, der gerade mit seinem Feuerzeug eine Flasche Bier öffnete.
Tabori drückte ihm Lepckes Handy in die Hand. »Ich muss noch mal kurz zur Tankstelle und Kippen holen. Sag ihm nur … vergiss es, ich bin ja sowieso gleich wieder da.«
Er schaffte es, aus dem Haus zu kommen, ohne die Aufmerksamkeit von Heinisch und der zigarrenvernebelten Tischrunde hervorzurufen. Den Autoschlüssel hatte er in der Hosentasche. Und mehr als ein oder zwei Gläser Wein hatte er nicht getrunken.
Erst als er schon die Stufen zum Gartenweg hinunter war, sah er den VW-Bus, der quer vor der Einfahrt parkte. Ein älteres Modell, ein roter T4, selbst im spärlichen Licht der Straßenlaterne konnte Tabori erkennen, dass der Lack ausgeblichen und stumpf war. Die hinteren Scheiben waren mit blickdichter Folie abgeklebt, das Fenster der Fahrertür war halb geöffnet, Tabori sah eine Zigarette aufglimmen.
»Euer Wagen fällt ja mal wieder gar nicht auf«, sagte er spöttisch. »Warum seid ihr nicht reingekommen?«
»Die Macht der Gewohnheit«, antwortete der Fahrer. »Du weißt ja, wir sind die, die draußen vor der Tür stehen und heimlich lauschen.« Er streckte Tabori die Hand hin. »Schön, dass du wieder dabei bist.«
»Das haben mir heute schon einige gesagt. Aber bei dir glaube ich sogar, dass du es ernst meinst. – Wo ist Ulrike?«, fragte er, während er gleichzeitig versuchte, ins Wageninnere zu blicken.
Der Fahrer zeigte auf die Reihe geparkter Wagen am Straßenrand. Zwei oder drei Streifenwagen, das Mercedes-SUV von Bohnenkamp, Heinischs Phaeton, Lepckes Dienst-Passat. »Schreibt ein paar Nummern auf.«
Tabori tippte sich an die Stirn. »Ihr spinnt doch vollkommen. Was soll das?«
Der Fahrer grinste nur, ohne eine Antwort zu geben.
Carlos und Ulrike waren zwei Undercover-Beamte, die vor allem die gewaltbereite linksradikale Szene im Auge behalten sollten, die dem Staatsschutz schon länger zunehmend Sorge bereitete. Das Problem war allerdings, dass Carlos und Ulrike offensichtlich nur wenig Interesse an ihrer Aufgabe hatten und eher geneigt schienen, das gesamte System des auf dem rechten Auge vollkommen blinden Überwachungsstaates mit höchst merkwürdigen Aktionen ad absurdum zu führen. Das fing mit der Wahl ihrer lächerlichen »Tarnnamen« an und endete noch lange nicht damit, bei einer Privatparty die KFZ-Nummern der Gäste zu notieren, die ausnahmslos aus den eigenen Reihen kamen. Und soweit Tabori wusste, hatten sie bislang auch noch kein einziges Mal eine auch nur im Ansatz brauchbare Information weitergegeben. Aber vielleicht war es genau das, was ihm an den beiden Kollegen gefiel. Er wusste, dass sie in Wirklichkeit alles andere als unfähig waren, und hatte sich bereits früher schon mehrfach gewünscht, sie in seinem Ermittlungsteam zu haben.
»Ich habe einen Job für euch«, sagte er jetzt. »Ein komischer Anruf, aus dem ich nicht ganz schlau geworden bin. Aber ich will das mit eigenen Augen sehen, um mir einen Eindruck machen zu können. – Habt ihr genug Zeit, um mich in die Stadt zu bringen?«
»Aber immer doch«, grinste Carlos. »Solange es der Staatssicherheit dient, sind wir dabei.«
Ohne eine weitere Frage startete er den Motor. Tabori rutschte auf die Doppelsitzbank auf der Beifahrerseite, nach ein paar Metern trat Ulrike aus dem Schatten zwischen den geparkten Wagen und stieg ebenfalls ein.
»Keine Lust auf deine eigene Party?«, fragte sie anstelle irgendeiner Form von Begrüßung und ohne sich auch nur im Geringsten überrascht zu zeigen, dass Tabori im Wagen saß.
»Du hast selbst gesehen, wer meine Gäste sind«, antwortete Tabori mit einem Schulterzucken.
In knappen Sätzen informierte er die Kollegen über den Anruf, der ihn von der Leitstelle erreicht hatte. Als er von dem Glas mit Haarmanns Kopf berichtete, sagte Ulrike: »Kann nicht sein. Der Kopf ist letztes Jahr eingeäschert worden, nachdem er jahrzehntelang in der Gerichtsmedizin in Göttingen gelagert war. Vergiss es, Tabori, es klingt eher, als hätte sich da jemand einen dummen Scherz mit dir erlaubt.«
Carlos fuhr auf kleinen Nebenstraßen durch den alten Dorfkern von Groß-Buchholz, vorbei am Gasthaus »Zur Eiche«, der Buchhandlung »Sternschnuppe« und dem alten Kurzwarengeschäft von Karla Schmidt, in dem Tabori als Junge immer seine Turnhemden gekauft hatte, schwarz und gerippt, mit engem Hals und breiten Schultern.
Als sie die Kirche passierten, konnte er für einen kurzen Moment das Banner am Turm erkennen, das die neue Produktion der kirchlichen Theatergruppe ankündigte. »Pension Schöller«. Ein Komödien-Klassiker, mit dem üblichen Tür-auf-, Tür-zu-Spiel und ein paar durchaus witzigen Dialogen, die sich durch eine allerdings vorhersehbare Handlung zogen. Tabori war in der Premiere gewesen, ein Freund von ihm spielte die Hauptrolle. Es war egal, was für ein Stück sie auf den Spielplan setzten, hatte der Freund erzählt, sie würden wieder für Wochen ausverkauft sein, das Staatstheater konnte von solchen Besucherströmen nur träumen.
Als Carlos kurz darauf in die Gehägestraße einbog, erinnerte ihn Tabori: »Wir haben Wochenende, die Straße durch den Wald ist gesperrt!«
Carlos schüttelte nur den Kopf und fuhr unbeirrt weiter. Nach der Doppelkurve am Anfang des Stadtwaldes versperrte ihnen ein Schlagbaum den Weg. Carlos schaltete zurück und lenkte den Bus zwischen zwei Begrenzungspfosten hindurch auf den Radweg und hinter der Schranke zurück auf die Fahrbahn.
Tabori sagte nichts, sondern legte den Kopf zurück und sah die Bäume wie schwarze Schatten in der Dunkelheit vorbeiwischen.
Am Zoo wiederholte sich das Manöver, von der Fahrbahn auf den Radweg und hinter der Schranke zurück, als wäre es selbstverständlich, dass die üblichen Regeln oder Verbote für sie nicht galten.
Unter der Bahnüberführung am Schiffgraben standen ein paar Jugendliche. Schwarze Kapuzenshirts und Rucksäcke.
Die frische Farbe auf der Mauer hinter ihnen glänzte noch.
»Nicht unsere Klientel«, erklärte Carlos, ohne den Fuß vom Gas zu nehmen. Im Rückspiegel sah Tabori, dass die Jugendlichen bereits wieder ihre Spraydosen gezückt hatten.
Als sie über die Kreuzung waren, bat er Carlos, ihn rauszulassen.
»Ich will erst mal alleine mit dem Mann reden. Ich rufe euch, wenn ich Unterstützung brauche.«
»Kein Ding«, nickte Ulrike. »Wir warten.«
Tabori überquerte die Straße und lief mit langen Schritten an der nachgeahmten Renaissancefassade des Finanzministeriums vorüber, bis er im Halbschatten neben dem Gebäude eine wartende Person ausmachen konnte. Groß, sehr groß sogar. Eher kräftiger gebaut als hager. Eine Brille, in der sich die Straßenlampen spiegelten. Als er ins Licht trat, registrierte Tabori unwillkürlich die festen Schnürschuhe, die graue Cargohose, die dunkle Windjacke mit dem Emblem der städtischen Verkehrsbetriebe. Und einen prallgefüllten Rucksack, der über seiner linken Schulter hing. Das Alter des Mannes war schwer zu schätzen, vielleicht Ende vierzig, dachte Tabori, ein einsamer Wolf, der nachts durch die Stadt streift, wenn das Partyvolk sich in den Bars und Diskotheken amüsiert. Auf seiner bleichen Stirn glänzte es feucht, obwohl es nicht mehr regnete. Tabori tippte auf einen Schweißfilm. Der Mann stand kurz vor einem Kreislaufzusammenbruch. Oder er hatte ganz einfach Angst!
Seine Stimme allerdings war verblüffend kräftig, als er jetzt mit einem Kopfnicken zu dem VW-Bus von Carlos und Ulrike hinüber sagte: »Den Bus kenne ich. Der steht auf jeder Demo. Entweder zwischen den Mannschaftswagen oder in einer Seitenstraße.«
Soviel zur perfekten Tarnung der Kollegen, dachte Tabori, während er gleichzeitig laut sagte: »Kümmern Sie sich nicht drum. Ich brauchte jemanden, der mich herfährt. Ich hab schon was getrunken, Sie haben mich gerade von einer Party weggeholt. – Darf ich Ihren Namen wissen?«
»Paust. Joachim Paust.«
»Sie sind bei der Üstra?«
»Was? Ach so, Sie meinen, wegen meiner Jacke? Nein, ich war mal Straßenbahnfahrer, aber das ist schon eine ganze Weile her. Ich hab nur die Jacke behalten, weil … ist praktisch, vor allem bei so einem Wetter wie heute.«
Tabori nickte, als wären damit alle offenen Fragen geklärt.
»Gut, dann zeigen Sie mir doch bitte mal, was Sie gefunden haben.«
Paust wies mit dem Kopf zu der Einfahrt in die Tiefgarage des nächsten Gebäudes hinüber, vier Neonröhren warfen ein fahles Licht auf den Durchgang, eine der Röhren flackerte. Irgendwo hatte Tabori mal ein Foto des Weges gesehen, der mit den in Beton gegossenen Köpfen des hannoverschen Künstlers Timm Ulrichs gepflastert war. Als er die Installation jetzt direkt vor sich hatte, zog er scharf die Luft durch die Zähne – die Wirkung dieses aus Hunderten von bleichschimmernden Betonköpfen bestehenden Pflasters war gespenstisch. Erst auf den zweiten Blick sah er am Ende des Weges das gläserne Behältnis, von dem Paust am Telefon gesprochen hatte.
Tabori zog die kleine Maglite aus der Innentasche seiner Jacke und schob sich an Paust vorbei. »Warten Sie bitte hier, ja?«
Er blieb auf der Grasnarbe neben dem Kopfsteinpflaster, bis er auf Höhe des Glases war. Der Lichtstrahl der Taschenlampe ließ die Konturen des eindeutig menschlichen Kopfes scharf hervortreten. Die wie angeklatscht wirkenden schwarzen Haare mit dem sorgfältig gezogenen Seitenscheitel, die Bartstoppeln auf den leicht pausbäckigen Wangen, die blicklosen Augen.
Am unteren Rand des Behälters war das schmale Schild, das Paust erwähnt hatte, und das mit sorgfältig ausgeführten Scriptol-Buchstaben den Namen Fritz Haarmann zeigte. Und eine Jahreszahl, 1925, mehr nicht.
Trotz seiner Aufforderung zu warten, war ihm Paust gefolgt. Als er anfing zu reden, zuckte Tabori unwillkürlich zusammen.
»Er ist hier in Hannover auf dem Hof des Gerichtsgefängnisses enthauptet worden. Im April 1925. Der präparierte Kopf war die ganze Zeit über in der Göttinger Rechtsmedizin gelagert, als Forschungsobjekt, um herauszufinden, ob Verbrecher sich anhand bestimmter Anomalien im Gehirn erkennen lassen. Dazu wurden mehrere Querschnitte aus dem Gehirn entnommen und an das Max-Planck-Institut in München geschickt. Allerdings sind die Proben irgendwie verloren gegangen. Und der in Formalin eingelegte Kopf wurde dann bis in die Sechzigerjahre noch öffentlich gezeigt, als besondere Attraktion, danach bekamen ihn nur noch kleinere Gruppen von Medizinstudenten zu sehen. Schließlich wurde er irgendwo zwischen anderen Präparaten im Keller der Gerichtsmedizin verstaut. Da er jedoch keinen wissenschaftlichen Wert hatte, wurde er letztes Jahr eingeäschert und die Urne angeblich anonym auf irgendeinem Gräberfeld beigesetzt. – Angeblich, ich meine, ganz offensichtlich ist das ja nicht passiert! Das da vor Ihnen ist Haarmanns Kopf, ich hab genug Fotos von ihm gesehen, das ist er. Also entweder haben die in Göttingen gar nichts eingeäschert oder – einen anderen Kopf!«