Czytaj książkę: «Der Erzähler Rudolf Steiner»
Diese Veröffentlichung wurde ermöglicht durch das Rudolf-Steiner-Bildungswerk Hamburg-Bergstedt e.V.
Impressum
Ulrich Kaiser
Der Erzähler Rudolf Steiner.
Studien zur Hermeneutik der Anthroposophie
ISBN epub: 978-3-95779-133-7
ISBN print: 978-3-95779-111-5
Diesem eBook liegt die 1. Auflage 2020 der Printausgabe zugrunde.
Alle Rechte Vorbehalten, © 2020, Info3 Verlagsgesellschaft Brüll & Heisterkamp KG,
Frankfurt am Main
Lektorat: Dr. Jens Heisterkamp, Frankfurt am Main
Cover: Frank Schubert, Frankfurt am Main
© Aufnahme Cover: Rudolf Steiner Archiv, Dornach
Satz: Ulrich Schmid, de-te-pe, Aalen
Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
Ich lehre nicht; ich erzähle, was ich innerlich durchlebt habe. Ich erzähle es so, wie ich es gelebt habe.1
Derjenige, welcher die Mitteilungen macht, will – immer vorausgesetzt, dass er wirklich im Herzen Okkultist oder Theosoph ist – nicht anders wirken als ein Erzähler.2
Dem Okkultisten geht es niemals darum, Dogmen aufzustellen. Er erzählt, was er gesehen hat, was er erforscht hat …3
»Die Worte Steiners dürfen nicht in der Art eines Echos wiederholt werden, das als Antwort leer bleibt. Sie müssen verantwortet werden, indem sie sich in der Antwort zu einem Eigenen verwandeln. Indem sie Möglichkeiten aktivieren. Auch Steiners Werk muss gegebenenfalls unbequem befragt werden. Es bedarf unserer Fragen. Es muss sich durch unsere Fragen weiterentwickeln.«
Ulrich Kaiser
Über dieses Buch
Viele von Rudolf Steiner vermittelte Inhalte sind nicht im naturalistisch-wissenschaftlichen Sinne nachprüfbar. Für seine Anhänger wirken sie glaubhaft, weil sie von der Glaubwürdigkeit ihres Urhebers überzeugt sind, für seine Kritiker bieten sie Anlass zu grundlegender Skepsis. Hier schlägt Ulrich Kaiser einen neuen Weg ein. Er löst Steiner aus dem beengenden Vergleichsrahmen der Wissenschaft heraus und will ihn als Erzähler verstehen – Erzählung aber nicht im Sinne einer beliebigen Konstruktion von Geschichten, sondern eines freilassenden und authentischen Verstehens-Angebots, das sich in der Lebenspraxis bewahrheiten mag.
Über den Autor
Ulrich Kaiser studierte Philosophie in München, Bochum und Paris, in Stuttgart Waldorfpädagogik. Promotion zum Dr. phil. bei Bernhard Waldenfels über Husserls Phänomenologie. Er war viele Jahre Waldorf-Klassenlehrer in Hamburg.
Aus dem Fotobuch von Max Benzinger: Rudolf Steiner am 7. Juni 1914 in der Schreinerei am Goetheanum beim Vortrag mit Publikum. Mit freundlicher Erlaubnis des Rudolf-Steiner-Archivs, Dornach.
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung
Der Stachel des Wissenschaftsanspruchs
Kriterien der Nachprüfbarkeit
Überschreitung von Gattungsgrenzen
Das Charisma Rudolf Steiners
Der Erzähler Rudolf Steiner
Überblick über dieses Buch
Ort und Eigenart dieser Studien
Dekonstruktion des Dogmas
Erste Differenzierungen: begriffliche, symbolische und narrative Form
Dogma und Kritik
Selbstverantwortung und dogmatische Methode
Begriffssprache gegenüber »blindem Dogmenglauben«
»Wann wird das symbolische Gewand fallen?« (Martha Asmus)
»Kleider und Hüllen vom Wesen der Sache.« (Marie von Sivers)
Gandhi und das Motto der Theosophischen Gesellschaft
Meinung, Wahrhaftigkeit, Forschung
Ästhetische Differenz, hermeneutische Distanz, dialogische Konstellation
Dogmen, pejorativ verstanden
Dogmen, affirmativ verstanden
Lob der Hypothese
Der Geltungsmodus der Erzählung
Theosophie als pragmatisches Provisorium
Ein erfahrungsbezogener Begriff des Geistigen
Kritik an der Modellhaftigkeit
Zwischen Landbrückenhypothese und theosophischem Narrativ: »Lemurien«
Revisionen, Unklarheiten, offene Forschungsprozesse
Lockerung des Denkens
Zwischen Fantasy und Naturwissenschaft
Ästhetik geisteswissenschaftlicher Hypothesen
Regulative und darstellende Funktion von Hypothesen
Vier Grundgesten spiritueller Erkenntnis
Sensible Behauptungen
Umkehr als esoterische Denkform
Umkehr der Zeit
Erfahrungen in der Rückschau
Soziale Umkehr
Umkehr des Raumes
Inversion von Bild und Keim
Umkehr des Willens
»Ordo inversus« – zur Forschungsgeschichte einer Denkfigur
Dynamisierung der Umkehr: Das Denkbild des Wirbels
Die »Schöpfung aus dem Nichts«
Hermeneutik und Kritik – über Max Dessoir
Freund Meebold
»Vom Jenseits der Seele«
»Magischer Idealismus«
Erfahrung und Kritik
»Von Seelenrätseln«
Wider die Rhetorik der Disqualifizierung
Die Entdeckung des Performativen
Die anfängliche Unterscheidung zwischen konstativ und performativ
Zwischen universalistischem Begründungsanspruch und Abgründigkeit des Sinns
Kulturen des Performativen
Der politische Leib der Rede
Das hermeneutische Dreieck
Die performative Dimension der Anthroposophie
Die transformative Kraft in Steiners Vortragskunst
Ritualdynamik – Steiner als Ritualist
Das transformatorische Element in Steiners Schriften
Der unscheinbare Moment der Übung
Epilog: Steiners Werk und die »Anthroposophie«
Der Erzähler Rudolf Steiner
Der Gesichtspunkt einer Allgemeinen Erzähltheorie
Woher die Konjunktur der Erzählung?
Erzählung und Erfahrung
Erzählgenres bei Rudolf Steiner
Soziale Wirksamkeit von Erzählung
Die schwebende Geltung des Erzählten
Die ontologische Referenz des Erzählens
Die Chancen der Erzählung
Die Esoterik der Erzählung – Goethes Rätselmärchen
Steiners Erzählen ist ein Medium zwischen Mitteilung und Erfahrung
Steiners Erzählen erhebt Anspruch auf Wissenschaftlichkeit
Die Esoterik der Erzählung ist eine Frage des Gelingens
»Das Märchen« – ein esoterischer Schwellentext
Die »Unterhaltungen« sind ein Essay über die Möglichkeiten von Erzählung
Erzählen ist »Embodied Communication« und Bildung von »Resilienz«
Die esoterische Erzählung verweist über sich hinaus
Aus der Akasha-Chronik erzählen
Am Brunnen der Götter
Tarkowskis Regeln
Ein Blick in die Forschungsliteratur
Das »argumentum ad verecundiam« und die Erzählsituation
Wirklichkeitsebenen des Erzählens und Zuhörens
Der Kontext: Die Zeitschrift »Lucifer-Gnosis«
Gibt es einen Erzählanlass?
Steiners implizite Selbstexpertise
Erweiterte Autorschaft
Narrative Asymmetrie
Literaturverzeichnis
Schriften Rudolf Steiners
Nachweis
Erstveröffentlichungen
Vorbemerkung
Die hier versammelten Essays sind in den letzten acht Jahren neben meiner Tätigkeit als Klassenlehrer an der Rudolf Steiner Schule Hamburg-Bergstedt für die Zeitschrift »Die Drei« geschrieben worden. Sie waren thematisch nicht vorab so geplant, sie entwickelten sich Schritt für Schritt. Ihr Umfang richtete sich nach dem in der Zeitschrift gesetzten Rahmen. Darin lag eine Beschränkung und eine Chance. Die Texte mussten, auch wenn sie ihr Thema nicht erschöpfend behandelten, zum verabredeten Zeitpunkt fertiggestellt werden. Die Okkasionalität der Erscheinungsbedingungen und der vorab begrenzte Rahmen brachten es mit sich, dass sie, neben meiner Haupttätigkeit als Klassenlehrer, überhaupt erschienen. Die Texte entstanden aus der Lust an der Erkundung neuer Themen und sind nicht selten Erprobungen, wie zu schreiben sei.
Dass sie entstanden, ist auch dem Interesse der Redakteurinnen und Redakteure der Zeitschrift zu verdanken, zunächst Stephan Stockmar und Lydia Fechner, später Claudius Weise. Diese haben auch zur besseren Lesbarkeit beigetragen. Die Vorstudien reichen Jahre zurück. Im Jahr 2007/8 erhielt ich von der Pädagogischen Forschungsstelle des Bundes der Freien Waldorfschulen sowie vom Forschungsfonds der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland Fördermittel zur Ermöglichung eines Sabbatical, die für eine bisher nicht abgeschlossene Forschungsarbeit und Publikation zum Thema »Atlantis« vorgesehen waren und mir in diesem Zug die Grundlagenstudien ermöglichten, welche in die hier vorgelegten methodisch orientierten Texte eingeflossen sind. Sie stellen insofern Vorstudien für das größere Projekt dar.
Ich danke stellvertretend den Geschäftsführern, zunächst dem inzwischen verstorbenen Hansjörg Hofrichter, dem Initiator, und seinem Nachfolger Christian Boettger und dem Beirat der Pädagogischen Forschungsstelle, dass ich die Möglichkeit erhielt, mich in die bei diesem Projekt recht diverse Forschungsliteratur einzuarbeiten. Einen anregenden Rahmen verdanke ich zunächst einigen innerhalb der Forschungsstelle von mir veranstalteten Forschungskolloquien zu »Atlantis« und über die Jahre auch den von Michael M. Zech im Rahmen der Forschungsstelle abgehaltenen kulturwissenschaftlichen Kolloquien in Kassel. Eine Förderung der Zukunftsstiftung Bildung der GTS Bochum ermöglichte mir schließlich den Abschluss dieser Studien und ihre Zusammenführung. Den Druck förderte ein Zuschuss des Rudolf Steiner Bildungswerkes Hamburg-Bergstedt. Achim Hatzius danke ich für die freundliche Erlaubnis, zwei Bilder aus seiner Werkreihe deduschka verwenden zu dürfen. Johannes Kiersch schließlich förderte dies Buch durch Zuspruch und die konstante, immer unaufdringliche Nachfrage nach Fortgang und Abschluss.
Hamburg, im September 2020
Der Stachel des Wissenschaftsanspruchs
»Die Suche nach Gewissheit ist eine der gefährlichsten Irrtumsquellen, weil sie mit der Behauptung einer höheren Art von Erkenntnis verbunden ist.«4
» … wenn man glaubt, solch ein Arkanum, das nur andere kennen, existierte, dann sind Forschung und Erfindung wie gelähmt: man wagt nicht mehr, allein einen Schritt zu tun.«5
Widersprüchlich ist, dass Anthroposophie Wissenschaft sein möchte, aber sich in ihren Aussagen auf die Darstellung nur einer Person zu verlassen scheint. Und dass diese Darstellung nicht selten den Rahmen dessen überschreitet, was wir als Wissenschaft gewohnt sind anzusehen. Rudolf Steiner, diese Person, greift Themen der Esoterik in einer Weise auf, die oft den uns geläufigen Vorstellungshorizont überschreitet. Er spricht zwar öffentlich, spricht immer wieder in akademischen Kreisen, spricht aber in der Hauptsache vor seinem eigenen Publikum, Mitgliedern der Theosophischen, später Anthroposophischen Gesellschaft, ihm zugewandten Menschen. Der Großteil seines Werkes ist ein Mündliches. Nur 45 der mehr als 350 Bände seiner »Gesamtausgabe« sind Schrift, das Übrige sind Nachschriften von Vorträgen ohne Zahl, situativ und frei gehalten, im Fluss, mit Sorgfalt zwar, aber letztlich unvollkommen festgehalten. Die praktischen Felder, in die er intervenierte, sind vielfältig, erstaunlich. Kein Spezialistentum. Wie sieht da Vertiefung aus? Sein Publikum erzeugt das Bild einer weltanschaulichen Gruppierung, »den Anthroposophen«, welche sich mit den Inhalten der »Geistesforschung« tendenziell doch eher im Sinn religiöser Überzeugung oder persönlicher Vertrautheit als distanzierter, parteiloser Erkenntnis auseinandersetzen. Oder gibt es da Unterschiede?
Anthroposophie, so wurde gesagt, sei letztlich »Bildungsreligion.«6 Religion mag auf Bildung gründen oder in ihr münden, bleibt aber Religion, ist nicht Wissenschaft. Deren Besonderheit, so wäre zu vermuten, bestünde im fleißigen Studium einschlägiger Bücher und Vortragsnachschriften des Meisters, die den gebildeten Blick auf das Übrige bestimmten und den internen Kanon wenn nicht zweifelsfrei, so nur zweifelnd am richtigen Verständnis der kanonischen Texte prägten. Die Welt als ein großer Zusammenhang, dessen erlebte Einheit sich aus diesen und nur diesen Anregungen speiste. Eine Bildungsreligion, auf der quasi-religiösen Überzeugung aufruhend, dass dies alles, was Steiner sagte, auf jeden Fall richtig sei, auch da, wo es sich nicht unmittelbar nachvollziehen ließe. Eine dogmatische Haltung schließlich, die nicht selten die Form der Besserwisserei oder des elitären Gebarens annähme. Ein Wissens- und Wissenschaftsanspruch, der seinerseits nicht ernstzunehmen sei, wenn er tatsächlich sich auf dies Bild beschränkte und es nicht differenzierter und reichhaltiger gezeichnet werden müsste.
Im Verlauf ihrer Geschichte wurden Wissenschaften immer wieder durch individuelle Personen geschaffen, geprägt und entwickelt. Oft entstanden in der Folge oder der Gegenwart charismatischer Lehrer wie Platon oder Pythagoras Schulen. Denkgewohnheiten oder -stile prägten den Forschungsansatz von Generationen, bis neue Voraussetzungen an die Stelle von älteren traten. Heute ist es weniger die Einzelperson als die Forschergruppe, die am Wissen arbeitet. Labore und Diskursgemeinschaften sind für den Erkenntnisfortschritt verantwortlich. Zwar bewirken gerade die Naturwissenschaften einen enormen Einfluss auf unsere Lebensverhältnisse, aber sie sind hochgradig spezialisiert, allgemein kaum nachvollziehbar und in der Bevölkerung, die sie angeht, findet sich bestenfalls noch rationale Skepsis und erwägendes Prüfen, mehr aber Misstrauen und unwillige Abkehr oder übermütiger Sarkasmus.
Ein Jahrhundert zuvor, in der Wirkenszeit Steiners, war auch der Wissenschaftsbetrieb patriarchalisch und autoritär geprägt und Personen des öffentlichen Lebens – ob in der Wissenschaft oder Politik – wurden gerade da, wo das demokratische Bürgertum erstarkte, nach dem Muster des Genies wahrgenommen und bewertet, freilich im Sinne einer Vielfalt der Genies, nicht im Sinne einer »Singularität von Führerschaft, « die im Rückblick die Deutung des Führerbegriffs einseitig bestimmt.7 Qualität und Gewinn von Wissenschaft wurden nicht gleichgesetzt mit elitärer Sterilität und die bürgerliche Kultur förderte deren Popularisierung immens.8 Insbesondere Naturkunde zeigte sich entwicklungsoptimistisch und weltanschauungsaffin.9 Die Grenzen zwischen strenger Wissenschaft und Weltanschauung, die auch der Lebensorientierung diente, waren durchlässig oder wurden nicht gesehen, später aber, im Angesicht ihrer Folgen, kritisch beurteilt10 und früh schon war man bemüht, im Bereich der Wissenschaft Unterscheidungen zu treffen wie die zwischen »streng« und »exakt«.11 Der Maßstab der Strenge wäre mehr und schlösse anderes ein als bloß die Exaktheit, zum Wohle der von ihr bearbeiteten Natur. Noch Jahre zuvor, in der Zeit Steiners, und im Sinn ihrer Bildung, ist selbst Naturwissenschaft nicht von dem, was wir heute grob Kulturwissenschaft nennen, zu trennen. Steiners Begriff von Naturwissenschaft ist großenteils der Begriff Goethes. Erst Max Weber weist in seinem Vortrag »Wissenschaft als Beruf« (1918)12 nachdrücklich auf die geforderte Weltanschauungsabstinenz des wissenschaftlichen Habitus hin, der eine Distanz auch zur Kunst mit einschließt. Doch gerade an Goethes Naturforschung wäre zu differenzieren. Desavouiert ein Pionier der Quantenphysik und Nobelpreisträger wie Max von Laue (1879–1960) Steiners Akasha-Erzählungen mit guten Gründen als fantastisch, 13 so bleibt sein Hinweis darauf, dass dessen wissenschaftliches Vorbild Goethe ohnehin überholt sei, pauschal und fordert erst recht heute genauere Unterscheidung, die das Urteil zumindest mit wissenschaftlicher Absicht in die Revision fordert: was physikalische Optik und biologische Evolutionslehre bei Goethe angeht, bleibt erneut zu prüfen.14
Es sind die Umstände von Steiners Sozialisation als Autor, als Redner, als Disputant, als Lehrer, als Herausgeber von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften vor 1900, die so aussehen. Vom Goetheforscher und vielseitig gebildeten Kulturredakteur, vom Autor philosophischer Schriften wurde Steiner nach 1900 überraschend Lehrer und Generalsekretär der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft und begann eine Karriere, die bis heute ihre Wirksamkeit zeigt. Zweierlei hat sich aber geändert: Erstens: Die Wissenschaften selber sind diskursiver, rationaler aber auch lebensferner geworden. Geändert hat sich der Stil des Umgangs mit Wissen, das sich von der Alltagserfahrung entfernt, aber doch auf sie wirkt. Zweitens ist Steiners Werk nicht mehr die Sache seiner persönlichen Wirksamkeit, sondern ergibt sich aus den Spuren in Schriftform, künstlerischen Gestaltungen und immensen praktischen Anregungen, die er hinterlassen hat und ist damit bei sich auflösenden Traditionen dezentrisch geworden. Und so muss die Substanz seines Werks unter neuen Voraussetzungen neu geschöpft werden.
In der Diskursgemeinschaft der Anthroposophen – all jener, die sich mit dem Werk Steiners mit Engagement beschäftigen – kann es nicht lediglich um die Deutung von Steiners Werk und der Welt aus dessen Perspektive gehen. Sie muss sich öffnen. Bei allem Anspruch auf neutrale Nachvollziehbarkeit ist das Wissen der Anthroposophie immer interessiert an Entwicklung und Veränderung. Insofern kann dieses Wissen kein registrierendes, kein summatives, kein zu referierendes Wissen bleiben. Immer geht es zugleich um Bildung, Selbst-Bildung, Verwandlung, Überschreitung, ja, Neuschöpfung. Anthroposophie verändert und sie muss sich ändern, um ihren Impulsen treu zu bleiben. Ihr Wissenschaftsanspruch setzt zu Verwandlung an, fordert diese und setzt sie paradox voraus. Eine prekäre Situation. Worin also besteht dieser Eigensinn, der Wissenschaft zu sein beansprucht, aber mit Wissenschaft oft nicht konform ist? Zumindest in dreifacher Hinsicht überschreiten Steiners Aussagen das uns geläufige Areal der Wissenschaftlichkeit.
Kriterien der Nachprüfbarkeit
Erstens bleiben Steiners Aussagen zwar am Ideal der Nachprüfbarkeit und Nicht-Beliebigkeit orientiert, betreten aber in ihren Inhalten oft Bereiche, die nicht einfach nachprüfbar sind. Was Steiner erzählt und denkt, ist nicht selten ungewöhnlich und mit dem alltäglichen Verstand schwer vereinbar oder im Sinn avancierter Vernunft kritisch in Frage zu stellen. So spricht er zum Beispiel von Phasen der Weltentwicklung, die mit den uns bekannten, naturwissenschaftlich erforschten Phasen nicht übereinstimmen oder überholt sind (»Atlantis«, »Lemuris«). Er verwendet Rassenbegriffe, die wir entschieden ablehnen. Er ergänzt die Darstellungen der Evangelien eigenständig. Er spricht von Engelwesen und schildert die menschliche Wesenheit in Begriffen und Aspekten, die esoterischen Überlieferungen übernommen sind. Soll das alles trotzdem Wissenschaft sein? Ist das Gefälle zwischen dem esoterischen Sonderwissen Steiners und dem entsprechenden Nicht-Wissen seiner Zuhörenden – wenn wir es denn gelten lassen – überhaupt überbrückbar? In welchem Sinn ist es möglich, Steiner zu kritisieren, Aussagen differenziert zurückzuweisen ohne damit die Gesamtheit des Werkes abzulehnen und auf die von ihm gebotenen Chancen zu verzichten? Wie wäre bei solchen Themenbereichen, in denen Steiner über ein Sonderwissen zu verfügen beansprucht, »Augenhöhe« – wenn wir sie denn als notwendige Voraussetzung sinnvoller Kritik erachten – möglich?
Diese Fragen hat zuletzt der Autor und Filmemacher Rüdiger Sünner angesprochen und er hat vorgeschlagen, Anthroposophie »als eine mythologisch-künstlerische Weltsicht« zu verstehen, »in der vieles offenbleiben und auch manches kritisiert werden muss, « eine Weltsicht, »die eher imaginative Experimente anbietet als unangreifbare Wahrheiten.«15 Diese Vorschläge, nach den mythologischen, künstlerischen und imaginativen Dimensionen der Anthroposophie zu fragen, greife ich in den folgenden Studien auf. Allerdings scheint mir aus den aufgeworfenen Fragen nicht zwangsläufig zu folgen, dass dabei der Wissenschaftsanspruch aufgegeben werden muss. Eine Rückbindung an Wissenschaftlichkeit, so meine These, bleibt gleichwohl bestehen, aber sie muss genauer bestimmt und erörtert werden. Das tue ich in den folgenden Studien, indem ich die Begriffe Dogma und Hypothese genauer untersuche und die Felder der Performativität und Narrativität als neue, zur Zeit Steiners noch nicht gegebene Forschungsfelder eine wenig beackere und zugänglich zu machen versuche. Ich führe auch, als einfaches Grundelement, die Denkform der Umkehr an, allein um zu zeigen, inwiefern esoterisches Denken im Feld der Wissenschaftlichkeit im Sinne starker begrifflicher Kohärenz zwar ansetzt, um es – in sich nachvollziehbar – zu überschreiten. Es wird sich zeigen, dass insbesondere die Forschungen der letzten Jahrzehnte wertvolle Beiträge liefern, auf deren Grundlage wir diesen Fragen solide nachgehen können. Die Begriffe von Wissenschaftlichkeit haben sich geändert. Wenn selbst die ›harten‹ Naturwissenschaften in großen Teilen als Erzählungen verstanden werden (müssen), dann ist mit dem Begriff der Narrativität eine Schnittmenge gegeben, die sowohl esoterische wie naturwissenschaftliche Aussagen trägt. Narrativitätsforschung hat selbst ›härtere‹ Naturwissenschaften in sich aufgenommen und gezeigt, wie ihre Strukturen bis in den Kern wissenschaftlicher Forschung reichen. Um es salopp zu sagen: Das dogmatische Narrativ von der Anthroposophie als Wissenschaft muss Federn lassen und sich als Erzählung verstehen, so wie der Kollektivsingular Wissenschaft bei genauem Hinsehen aus vielfältigen Forschungsansätzen besteht, die keine Einheit bilden und die in der Selbstreflexion Kritik walten lassen und – auch für sich selbst – einen anspruchsvollen Begriff von Erzählung zur Verfügung stellen. Hier gilt es hin zu schauen.
Hier, auf diesem ersten Feld, fragen wir nach den Kriterien, nach denen werden könnte, was wir einerseits unter Wissenschaftlichkeit verstehen, in welchem Verhältnis sie sich zu mythologischen, künstlerischen, imaginativen Diskursen findet und wie wir auf diesem Hintergrund wiederum Steiners Werk kritisch und zugleich angemessen verstehend nachvollziehen können. Es geht in diesem Sinne darum, Proben durchzuführen. Es geht um das Verstehen der Aussagen Steiners, um ein Verstehen auf aktuellem akademisch-wissenschaftlichem Hintergrund. Den Begriff der Hermeneutik verwende ich dafür in einem offenen, nicht festgelegten Sinn, der auch eine prähermeneutische Dimension mit meint, die nicht in Sprache aufgeht16 oder eine posthermeneutische Situation17 einschließt, die eingesteht, dass versprachlichende Sinnbildung nicht vollkommen möglich ist. Der Ausdruck »Hermeneutik« steht hier für die schlicht jeweils neu sich stellende Frage: Wie können wir Steiner angemessen verstehen? Mit ihm geht die Voraussetzung einher, dass es da etwas womöglich Lohnendes zu verstehen gebe und dass das Nachvollziehbare zu unterscheiden sei von dem kritisch zu Scheidenden. Bekanntlich kann sich »die Angemessenheit des Verstehens […] keinesfalls am Grad des Einverständnisses bemessen.«18