Czytaj książkę: «Bravourös in die Suppe gespuckt»

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2. Auflage 2015

© dorise-Verlag Erfurt, 2014

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks,

der fotomechanischen Wiedergabe

und der Übersetzung, vorbehalten.

Titelfoto: privat

Typografie und Titelgestaltung: Regina Gerbracht

Druck: docupoint GmbH

ISBN 9978-3-942401-80-7

F. m. M.

Uli Grunewald

Bravourös

in die Suppe gespuckt

Inhalt

Das erste Entsinnen

Herr Ulbricht versprach, keine Mauer zu bauen

Mannis Vater war Gendarm und eine gefährliche Drecksau

Onkelchens Jähzorn war bemerkenswert für einen heimlich Schwulen

Kaltlächelnd trennte die schicke Frau den Kopf vom Rumpf

Papa sah aus wie ein UFA-Star

Mit zehn Jahren rauchte Alexander konsequent auf Lunge

Bitterlich weinend neben dem gefallenen Pferderiesen

Fast zu Tode stranguliert

Auswurf in der Suppe

Opa war eine Respektsperson und bis ins hohe Alter scharf wie Pfefferchili

Schule war schön, schön doof

Schiss vor dem widerlichen Geruch des Todes

Ausmarsch – nun soll aus mir was werden

Papa mahnte, ja nichts mit einer Rothaarigen anzufangen

Johann sah aus wie George Cloony für ganz Arme

Wie Felix, der Glückliche

Lehrer sein machte Spaß, dann kam die Lärmphobie

Schulwechsel bravourös, bravourös daneben

Vom Kellerarbeiter zum Wohlstandsbürger

Leichenteile schwammen in der Badewanne

Geistiges Vakuum gesucht

Prominente, Nutten und Paris

Beinahe hätte es den ersten DDR-Clochard gegeben

Als Unternehmer rechtlos und schwerelos

Von rosaroten Schweinchen, mausetoten Autofahrern und anderen Katastrophen

Grüne Entenscheiße in weißer Dauerwelle

Volle Pulle Westen

Michael Dougles ganz kitschig und Tina Turner ganz traurig

Italien sehen und beinahe sterben

Dieses Auto besaß eine Seele

Rudis Ohrfeige war kräftig gesetzt und sehr berechtigt

Marlies wollte keine Liebe, sondern Sex

Ein Goldesel für mich, eine Wasserleiche für die Bildzeitung

Mit seinem Vorschlaghammer wollte er mich kaltblütig erschlagen

Schnick-Schnack-Schnuck in einer Klapsmühle

Kackfrech mein Drehbuch geklaut

Endlich beim Fernsehen

Eine dicke Kameradschaft, die in einem noch dickeren Desaster endete

Beim MDR geschasst

Tante Inge fraß sich zu Tode, dann krachte ihr Häuschen zusammen

Gabi, Patrik, Porno-Dieter und schlechtes Benehmen

Am besten traumhaft

Das größte Wagnis meines Lebens

Multimillionär mit zehn Millionen Miesen

Auenland wird Wirklichkeit

Auf Pazific-Island gab es Slipeinlagen als Stirnband

Um ein Haar hätte Lonzo auf die weißen Schuhe von Mario Adorf geschissen

Ein El Dorado

Als mein Auenland vollendet war, empfand ich das als surreal

Schockstarre

Der Wind blies eiskalt von vorn

Es brach der Pool, das Wasser lief davon und ich am liebsten auch

Fatstorm

Onkel Christian saß vor uns im Rollstuhl, Fernseh-Gottschalk stand hinter uns in Malibu

Wir hatten abgemacht: Wenn, dann nur im Swinger Club

Der Chef der Pavian-Horde zerfleischte ihm das Gesicht

Alles Verloren. Meine Existenz und mich selbst

Chinesen sind eine eigentümliche Spezies

Wenn um dich herum Sämtliches implodiert, ist dein Leben wohl zu Ende

Perdu! Und fröhlich klingt der Schlussakkord in Moll

Uli Grunewald

Wer immer tut,

was er schon kann,

bleibt immer das,

was er schon ist.

Henry Ford

Ich kann es nicht glauben. Ich kann es einfach nicht glauben. Ich sitze im Knast. Ich, der kluge Junge, der ideenreiche Schöndenker, der findige Geldmacher, der redegewandte Sympath. Ich, das rücksichtslose Muttersöhnchen, angefüllt bis zum Stehkragen mit Widersprüchen und Unstimmigkeiten. Ich, Ich, Ich, die vielen Ich`s, immer wieder. Zu viele in meinem ruinierten Leben.

Seit zwei Tagen bin ich in Untersuchungshaft. Ob ich verurteilt werde, ist ungewiss. Vielleicht gibt es nicht einmal eine Verhandlung. Wer weiß? Mein Anwalt ist keine große Nummer, dafür zuversichtlich. Ich glaube, ich habe Tränen in den Augen. Ich schließe sie und spüre kleine Rinnsale auf meinen Wangen. Zwei kühle Striche. Ich schlucke. Vor Selbstmitleid tut mir der Magen weh und weil ich an Mama denke. Sie weiß nicht, wo ich bin. Nun ist sie alt, doch ihre Güte und Lebensklugheit haben sie nicht verlassen. Sie liebt die Menschen und sieht in ihnen nur das Gute. Wie soll sie das verkraften, wie soll sie diesen Kummer und diese Sorge um mich ertragen. Um ihren Sohn, den sie über alles liebt und der ihr Lebensinhalt ist. Ihr Sohn, dieser Idiot, hat so viel gewonnen und am Ende jegliches verloren. Dass ausgerechnet ich dieser Idiot bin, ist schwer auszuhalten. Wachte ich früher aus einem Albtraum auf, fühlte ich Erleichterung. Heute ist das nicht mehr so, weil die Wirklichkeit noch schlimmer ist.

Meine Vorfahren wurden ausnahmslos steinalt und deren eisenharte Gene bescherten mir bislang die mustergültige Gesundheit. Heute, am 22. November 2012, eingesperrt und Mitte Fünfzig, spüre ich das erste Mal meinen Körper. Ohne Schmerzen und ohne erkennbare Symptome fühle ich mich krank. Nun sind alle vorwärtstreibenden Kanten abgeschliffen. Ich hasse Larmoyanz, jetzt muss ich sie selbst erdulden. Sie hat mich aufgesogen wie ein Strudel, in dem man rettungslos versinkt. Jene innere Stimme, die schönreden und helfen könnte, schweigt unerbittlich. Gegen Gewissheit kommt sie nicht an. Gewiss ist, dass ich in Gewahrsam und verloren bin. Mach dir das klar, mein Lieber. Du hast deine Zukunft hinter dir.

Nun meldet sie sich doch, jene Fachabteilung meiner inneren Stimme, die zuständig ist für Dur und Zuversicht. Nur zaghaft versucht sie ihr Glück. Will sich Gehör verschaffen. Vielleicht wird am Ende doch noch irgendetwas gut. Stets habe ich einen Weg gefunden. Auch wenn die Dinge sich noch so derb gegen mich wandten, konnte ich sie zuletzt doch zu meinen Gunsten fügen. Und gestern, war das etwa jener Schimmer, nach dem ich verzweifelt Ausschau halte. Gestern, wie merkwürdig unwirklich das war. So kurz nach meiner Überstellung erschien in meiner Zelle gegen Abend dieser mir fremde Mensch. Ich verstand nicht. Wegen meiner Verwirrtheit, Niedergeschlagenheit und Verzweiflung nahm ich ihn zunächst nur wie im Nebel wahr. Alles schien verschwommen. Doch die Bestimmtheit seiner Worte, ließ die Eintrübung verschwinden.

Tim Strelow stellte sich mir als Journalist sowie Drehbuchautor vor und arbeite außerdem als Kunterbunt-Lektor für Buchverlage. Ich war noch von den Ereignissen wie benommen, als der achtsam eröffnete, ich solle mir keine übergroßen Sorgen machen, weil er mir helfen könne. Er fragte mich, ob ich ihn nicht kennen würde, schließlich seien wir mal so etwas wie Kollegen und später wäre er oft Gast bei mir gewesen. Nur aus dem fernen Irgendwo kam mir sein Gesicht bekannt vor. Aber ich erinnerte mich nicht. Komisch, sonst merkte ich mir doch jede Visage, das Einzige, was ich mühelos und wie von selbst nachhaltig zu speichern vermag. Der Mann sah blendend aus. Mit vielleicht Mitte vierzig war sein dunkles Haar leicht von Grau durchzogen und makellos in Form gebracht. Noch im Dämmerschein meiner Zelle leuchteten seine auffallend blauen Augen, ein gepflegter Schnauzbart verlieh seinen markanten Gesichtszügen Manneswürde. Und über dem schwarzen Jackett trug er einen auffällig gebundenen Schal. Sind Männer attraktiv und ohne schwule Attitüden, dann gestatte ich mir durchaus den Gedanken, auch an anderen Ufern spazieren zu gehen. Tim Strelow war auffallend gut aussehend. In meiner Lage über derlei Neigungen zu reflektieren, war absurd, lachhaft und so unglaublich wie alles im Moment.

Sein Gesicht schien entspannt und dennoch konzentriert. Als er sich nah zu mir beugte und mit ruhiger Stimme eindringlich sprach, ruhte sein Unterarm auf der kühlen Knasttischplatte. Die trennte und einte uns zugleich: „Herr Grune, Sie wundern sich bestimmt über mein unvermitteltes Erscheinen, aber lassen Sie es mich bitte so erklären: Ich will die Chronik vom Ende des vergangenen und vom Anfang unseres Jahrhunderts neu erzählen. Schablonen und tausendfach Gesehenes interessieren mich nicht. Ich möchte aus anderer Sicht und Perspektive den Zeitgeist nachempfinden. Es geht darum, Geschichten auszumalen, sie abzubilden und unterhaltend zu erzählen, möglichst ironisch frech. Ich bin auf der Suche nach einer neuzeitlichen Eulenspiegelei. Den markanten Protagonisten jener Tage will ich ins Leben rufen. Mit Witz, hintersinnigem Humor, aber nicht unernst. Und vor allem ohne Zeigefinger, keine Stasi- und Bonzengülle oder die sonst üblichen gesellschaftsrelevanten Bewältigungsarien. Das ist auserzählt. Und Biographien aus der Promi-Liga sind hierfür ungeeignet. Ich brauche die Geschichte eines unordentlichen Lebens und das unartige Gegenstück zu Langweilermemoiren. Ich sage es frei heraus, Grune, ich will dein Leben.“

Aus diesem Stoff wolle er eine Fabel schneidern, als Vorlage zu einer ungemein bahnbrechenden Fernsehsendung für mitteldeutsche Regionalprogramme. Ein Filmchen fürs heimische Erdnuss- und Chipslettenkino…?! Was bitte noch mal?! Alles erschien merkwürdig. Er sagte „Dein“ Leben. Ich sagte nichts. Ich dachte nur, wieso mein Leben? Das war gerade dingfest gemacht worden? Was sollte das hier werden? Ein abgeschmacktes Schelmenstück, der Narr am Boden liegend und zerschmettert. Tragisch-komisch, in der Tat! Oder eher spaßig amüsant bis drollig originell? Strelow sah mich an, schien meine Gedanken zu erraten und erklärte: Er hätte von den jüngsten Ereignissen schnell Wind bekommen, wäre daraufhin gleich hier hergefahren und wüsste bereits viel von mir. Als erstes wollte er mir einen erstklassigen Anwalt besorgen. Der arbeite für seine Verlage und hätte schon so manchen Kopf gerettet. Außerdem solle jener Anwalt ein Schriftstück aufsetzen, das alle meine Rechte sichern würde. Strelow wurde deutlich:

„Ich kann verstehen, dass Sie überrascht, wahrscheinlich irritiert sind, weil wir ausgerechnet hier und jetzt zusammentreffen. Aber möglicherweise ist das der richtige Moment, um jenes Vorhaben mit Ihnen zu besprechen. Sie können sich alles in Ruhe überlegen, haben jedes Mitspracherecht und riskieren nichts. Ich habe Ihnen ein Gerät mitgebracht, das ist phantastisch. Mit seiner Hilfe können Sie Ihren Gedankenwelten, Reflexionen, Einfällen und Imaginationen mühelos Gestalt verleihen. Sie sprechen, die Maschine schreibt und visualisiert synchron. Eine Audio-Taste gibt es natürlich auch, wenn Sie eine Wiedergabe wünschen. Und ich kann später das Resultat Ihrer Kopfarbeit problemlos ordnen, verdichten und in die geforderte Form verwandeln. Fangen Sie mit Ihrer Geschichte einfach von vorne an und reden Sie frei von der Leber weg. Ich bin mir sicher, Sie können das. Was meinen Sie, haben Sie Lust, sich darauf einzulassen? Gerade jetzt hilft Ihnen das vielleicht. Sie sind ein exaltierter Mensch, der den Auftritt liebt. Wichtig ist, gegen Ihren Willen wird nichts geschehen.“

Unverständlich, aber er schien mich tatsächlich gut zu kennen. Aus welchem Versandhaus nur hatte er seine Informationen bekommen?! Und wieso offerierte Strelow sein Vorhaben so siegessicher ohne Konjunktive. Wie unwirklich. Mein Ausnahmezustand hatte nun biblische Ausmaße erreicht. Es klang glaubhaft, als Strelow bei der Verabschiedung versicherte, er würde bald wiederkommen und alles mit mir und dem Advokaten en Detail besprechen. Nach seiner Rede, die nicht einmal fünf Minuten dauerte, war ich nicht im Stande, Vernünftiges zu denken, geschweige denn zu sagen. Ich nickte nur und bedeutete eine Gefühlsmischung aus Skepsis und Geneigtheit. Nun bin ich wieder allein. Nur dieses Sprechen-Schreiben-Wunder-Ding leistet mir Gesellschaft und liegt vor mir auf dem Tisch. Screenwriter nennt sich das schwarze Prachtstück, es ist das Neueste auf dem Markt und vorerst nur in Fernost zu haben. Es sieht aus wie meine alte Schiefertafel, auf der ich als Kleinkind kritzelte. Dagegen dieses Juwel scheint gläsern und glänzt wie stundenlang poliert. Was hatte Strelow noch einmal gesagt? Ich brauchte nur einzuschalten und zu sprechen, das Gerät zeichnet auf und zeigt das Gesprochene in Schrift auf dem Tableau. Wort für Wort, haargenau. Ich bin beileibe kein Anbeter von Medienfirlefanzen, doch hiervon würde ich bestimmt beeindruckt sein. Gar nicht schlecht. Wie das wohl gehen mag? Während ich versuche, die Maschine in Gang zu setzen, scheint es, als aktiviere ich auch damit mein Erinnerungsvermögen und überraschend wird der verschüttete Tim Strelow aus meiner untersten Gehirnetage ausgegraben. Ja, richtig, jetzt dämmert es. Jahre ist das her. Der war beim Fernsehen als Redakteur beschäftigt, genau wie ich, nur bei einem anderen Sender. Wiederum Jahre später begegnete er mir wieder. Da war er nackt und schien mich ständig zu beobachten.

Ich drücke den Stecker in die Dose und dann den winzigen Schalter an der schmalen Gehäusekante. Milchig leuchtet die schwarze Scheibe auf und am Rand blinkt die Aufforderung in greller Schrift: You can talk now. Meine Ellenbogen sind auf den Tisch gestützt. In meine Hände, zu einer Muschel geformt, presse ich Nase, Mund und Kinn. Ich atme tief und starre dabei an die Decke meiner Zelle, die die gleiche fahle Farbe wie der Bildschirm hat. Dann höre ich meine Stimme, die mir fremd und losgelöst erscheint, als gehöre sie nicht zu mir. Dennoch spreche ich weiter – leise, zögernd – und verlasse diesen jämmerlichen Raum:

Die Vorstellung, dass die Dinge so bleiben, wie sie sind, hat mir stets gefallen. Funktioniert hat das natürlich nie. Zumal ich mich, im Widersinn dazu, ständig für Neues interessierte. Oft genug war das ausgefallen und abseitig von der Normalität. Vieles von dem, vermutlich zu viel, habe ich ausprobiert. Einige von der Heilkünstler-Innung meinen, dass sich das Innenleben der Menschen alle sieben Jahre umkrempelt. Und bei manchen, so wie bei mir, krempelte sich das Außenleben gleich noch mit um. Mein Wechsel-Zyklus allerdings brauchte nur drei Jahre für die ganze Umkrempelei. Und so hatte mich das Leben hin und her geschleudert. Alles ist nur halb geglückt, wenn überhaupt. Nichts habe ich zu einem guten Ende führen können. Ich bin ein Fünfzig-Prozent-Vielkönner. Diese Erkenntnis gibt keinen Anlass zu überbordendem Freudentaumel. Und nun soll ich die ganze Wahrheit offenbaren.

Mama hatte oft gesagt, ich solle doch alles aufschreiben, weil es so außergewöhnlich sei, was ich erlebte. Sicher würde mir meine Mum diese Empfehlung nicht gegeben haben, wüsste sie von all meinen bizarren Eskapaden und den rabenschwarzen Abgründen. Nun ist der Tag gekommen, an dem ich zwar nichts aufschreibe, aber reden werde. Ein Monolog. Geht das überhaupt? Aber vielleicht wird das mein Rettungsanker? Vielleicht. Von wegen, vielleicht. Bescheuert bin ich, das zu glauben. Was kann mich noch retten? Nichts. Und nichts kann mich mehr gefährden, auch wenn ich mich nun ausziehen werde bis auf die Haut. Am Ende werde ich dastehen wie der vitruvianische Mensch, nackt und von aller Welt vermessen. Was macht das noch? Also wage ich mich auch noch an dieses Abenteuer, begleitet von einer fernöstlichen Computer-Rarität. Eines allerdings ist sicher, nie könnte ich bücherfüllende Geschichten erfinden, auch nicht im Reclam-Format. Darum ist, was nun folgt, wirkliches Leben – zumindest aus meiner Erinnerung.

Das erste Entsinnen
Herr Ulbricht versprach, keine Mauer zu bauen

Mit kurzer Lederhose, langen Blondlocken und dem Terrier-Mischling Purzel, der festgebunden am wackeligen Holzroller hängt, so stehe ich mit sechs Jahren auf dem kleinen Platz vor unserer Hoftür, mitten in einer Wolke aus duftendem Wiesenheu. Das hatte mein Großvater zum Trocknen hier ausgebreitet. Damals war ich ein zierliches, niedliches Kerlchen, was sich später ändern sollte. Diese Erinnerung habe ich wahrscheinlich nur deshalb, weil es davon ein winziges Schwarzweißfoto mit Zackenrand gibt. Meine Kindheit hätte eine Mischung aus schnulziger Heidi mit ihrem Geißen-Peter und den Heiden von Kummerow werden können, wäre da nicht mein tyrannischer Vater gewesen. Mama arbeitete zu Hause. Das fand ich großartig. Wenn die anderen Kinder zur Nachmittagsschicht im Kindergarten ausharren mussten, weil beide Eltern in sozialistischen Großbetrieben Geld verdienen mussten, trabte ich froh heimwärts, in unser jahrhundertealtes Lehmgemäuer. Daheim angekommen, wurde ich liebevoll und mit einem zünftigen Mittagbrot empfangen. Das war häufig zu zünftig, denn aus dem niedlichen Blondschopf wurde bald ein dicker Landjunge. Bis zum heutigen Tag habe ich mir gewünscht, schlank zu sein. Das ist mir nie gelungen. Aber schon damals, als kleiner Mensch, genoss ich die Freiheit und Natürlichkeit des Landlebens. Lag ich zu Tagesende in meinem Bett, konnte ich aus meinem Schlafbüdchen den alten Kirchturm sehen, auf dem an warmen Sommertagen ein Amselhahn sein melancholisches Abendlied für mich pfiff. Ich fühlte mich geborgen und wusste, dass ich behütet schlafen würde.

Am schönsten aber war für mich die ständige Nähe zu unseren Haustieren. Schon damals waren Tiere für mich lebenswichtig. Das ist bis heute so geblieben. Unzählige Male haben sie mir Momente der Einsicht, Heiterkeit und Entspannung vermittelt. Das haben Menschen nur selten vermocht. Manches war dabei auch traurig, eben wie das Leben selbst. Stundenlang konnte ich dem tierischen Treiben um mich herum zuschauen und liebte es, niedliche Ziegenlämmer auf den Armen herumzuschleppen.

So konnte ich es kaum erwarten, dass unsere zwei Geißen im Frühjahr ihre Jungen bekamen. Und wie entsetzt war ich, als ich nichtsahnend Tage später im Kohlenschuppen zwei winzige Felle hängen sah, die mein Großvater dort zum Trocknen aufgehängt hatte. Ich stellte mir die geballte Grausamkeit des Schlachtens bis in alle widerwärtigen Einzelheiten vor. Und sah, wie mit groben Händen die kleinen, schneeweißen, zuckenden Körper auf dem Schlachtbrett festgeschraubt wurden. Ich hörte das gurgelnde Röcheln der durchtrennten Kehle, sah das Blut am baumelnden Kopfe herunterrinnen und glaubte den Schmerz zu spüren, den diese reizendsten aller Tier-Geschöpfe durch die kalte Messerklinge erleiden mussten. Die Ursprünglichkeit des Lebens, auch mit seinen derben Seiten, wurde mir so früh vermittelt und fühlbar bewusst.

Unsere Ziegen, die am Leben bleiben durften, hatten es augenscheinlich richtig gut. Mama, die Tiere ebenso liebt wie ich, sorgte dafür, dass sie von ständiger Kettenhaft befreit wurden und ich für frisches Sommergrün von der kargen Weide hinterm Kirchberg. Bei sonnigem Wetter rüstete ich mich aus mit Buch, Wolldecke und natürlich einer opulenten Zwischenmahlzeit. So zog ich los mit der zierlichen Lissy, der selbstbewussten Jenny und dem Rest der Herde. Sie folgten mir wie dressierte Hunde. Am liebsten mochten sie den Klee unseres mürrischen Nachbarn, der sich bei meinem Großvater über meine Unverfrorenheit und die der Ziegen wutschnaubend beschwerte. Opa nahm jene Schimpfkanonaden gelassen und mit vorausschauendem Pragmatismus hin. Denn am Ende gab frischer Klee, egal woher, die beste Ziegenmilch. Die Jungen aus unserem Dorf versuchten mich zu hänseln, gaben mir Spitznamen, die auf mein gelegentliches Hirtendasein abzielten und kamen damit nicht weiter, weil ich ihren Schmähungen mit Gleichmut begegnete. Niemand wusste, dass das Ziegenweiden mir meinen ersten sexuellen Höhepunkt einbrachte. Ein älteres Mädchen lud mich zu Doktorspielchen auf der Kamelhaardecke ein. Das war deutlich aufregender, als nur die Hippen im Herbst vom Bock bespringen zu lassen.

Jenny war die aufgeweckteste von unseren Geißen, von ungewöhnlich mächtiger Statur und selbstbewusst. Sie konnte manchmal boshaft sein. Wenn sie Lust hatte, stieg sie in ihrem Stall an der Mauer empor und schaute neugierig auf den Hof. In unmittelbarster Nähe hatte mein Vater seine Tauben untergebracht und beobachtete in gedankenversunkener Stille ihr flatterhaftes Treiben. Dazu hatte er sich unglücklicherweise direkt an dem Stallmauer-Quartier angelehnt, in dem Jenny residierte. Diese hatte für derartig beschauliche Momente meines Papas geringes Einsehen. Sie stieg empor, machte einen langen Hals und schnappte zu. Mit einem kräftigen Ruck zerrte die alte Geiß an der Haarfrisur meines Vaters, die er täglich in beängstigende Form zu striegeln pflegte. Die hinterlistige Ziege hatte ein gehöriges Büschel der gut geölten Haare ausgerissen und flüchtete sofort ins sichere Hinterland ihrer Residenz. Vor Verblüffung und Schmerz schrie der Gefolterte auf. Als Folge dieses heimtückischen Überraschungsangriffes flog die Papa-Brille in hohem Bogen von der Nase und auf Nimmerwiedersehen direkt in die Jauchengrube nebenan. Längst stand die Missetäterin mit gespielter Unschuld kauend an ihre Futterraufe, als ihr der zu Tode Erschrockene die Pest oder wenigstens den Ziegenpeter an den Hals wünschte.

Alljährlich schlachteten wir zwei fettgemästete Schweine und fraßen die übers Jahr planmäßig auf. Es gab drei Hausschlächter, die bei uns ihr blutiges Handwerk versahen. Ausnahmslos haben sie sich alle im Greisenalter ihr Bolzenschussgerät an den Kopf gesetzt und sich so vom Leben in den Tod befördert. Ist das nicht seltsam!? Oder müssen Menschen Schaden nehmen, wenn sie damit beschäftigt sind, ein Leben lang Leben zu liquidieren?

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