Czytaj książkę: «Die Einmischer»
Thomas Wagner
Die Einmischer
Wie sich Schriftsteller heute engagieren
Argument Verlag
Impressum
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Deutsche Originalausgabe
Alle Rechte vorbehalten
© Argument Verlag 2010
Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg
Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020
Satz: Iris Konopik
Umschlaggestaltung: Martin Grundmann, Hamburg
Covergrafik: »take up thy pen« © Kit Malo
ISBN 9783867549448
Erste Auflage 2010
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013
Die kanadische Illustratorin Kit Malo tummelt sich in der Kunstszene von Montreal. Eigentlich ist sie stur mit ihrem Bleistift liiert, kann aber Herausforderungen schlecht widerstehen, was zu Experimenten mit interaktiver, Live-Action- und Animationskunst, Sensor-Installationen und kuratorischen Tätigkeiten (Pop-Festivals, Visual Art Blogs) führt.
Von Natur aus analysierwütig, ist ihr Thema die subversive und humoristische Verarbeitung alltäglichen Lebens, wie es sich dokumentieren und neu dokumentieren lässt, um herrschende Vorstellungen von Realität, Wahrheit und Perspektive zu konfrontieren und herauszufordern.
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Impressum
Einleitung - Worum es geht
Die Gespräche
Dietmar Dath
Die Gegner schlafen auch mal
Raul Zelik
Nichts legitimiert, dass der Staat zu terroristischen Mitteln greift
Juli Zeh
Mit dem Fingerabdruck können Geheimdienste anrichten, was sie wollen
Ilija Trojanow
Das Gegenmodell heißt: völlige Umwälzung der Verhältnisse
Robert Menasse
Die Jasager und Mitmacher sind für mich Faschisten
Wolfgang Schorlau
Dank Marx verstehe ich, wie unsere Gesellschaft funktioniert
Saddek und Sabine Kebir
Die Nation kann nur multikulturell sein
Erasmus Schöfer
Widerstand braucht Literatur, um sich zu verständigen
Michael Wildenhain
Politische Literatur braucht einen Resonanzraum
Sabine Kuegler
Am wichtigsten ist, dass das Töten und die Unterdrückung aufhören
Jürgen Todenhöfer
Die Lösung ist: Mit dem Krieg aufhören und verhandeln!
Wladimir Kaminer
Die Angst, was zu verlieren
Eva Jantschitsch (»Gustav«)
Ein Rock’n’Roll-Leben ist strukturell nicht möglich
Kai Degenhardt
Wie es sein könnte
Biermösl Blosn
Wir haben dieses Scheißfernsehen nicht gebraucht
Erwin Riess
Die Donau als Ausweg
Christine Lehmann
Unsere Kultur hat ein Y-Chromosom
Dagmar Scharsich
Ich wollte die DDR erhalten und zu einem demokratischen Land machen
Michael Mäde
Ich hielt die DDR für den besseren deutschen Staat
Matthias Frings
Über Ronald M. Schernikau: Die Revolution wäre für ihn das Unterhaltendste gewesen
Danksagung
Anmerkungen
Worum es geht
Wenn Literaturwissenschaftler Märchen erzählen, dann hört sich das so an: Es war einmal eine Zeit, in der sich die Schriftsteller ins politische Geschehen einmischten. Seit dem Zusammenbruch des Sozialismus in Europa sei dieses Engagement allerdings passé. Seitdem habe man sich nur noch gewundert, dass die Autoren der Linken fernblieben. Heute fehle selbst die Verwunderung darüber. Die Ursache der Misere sei schließlich darin zu suchen, »dass Links nicht mehr rockt«1. So will es der langjährige Juror und Juryvorsitzende des Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Preises Burkhard Spinnen und findet mit dieser Argumentation ausgerechnet in dem rechtsgerichteten Romancier Thor Kunkel2 einen Geistesverwandten. Auch dieser meinte, jüngere deutsche Autoren meldeten sich heute kaum je zu Wort, wenn es um politische Fragen geht3. Kommentare zu wichtigen gesellschaftlichen Entwicklungen kenne er keine. Selbst die allesfressende und wiederkäuende Kulturmaschinerie werde kaum kritisiert. Jeder Fußballer, jede Viva-Moderatorin mische sich provokanter in die Tagespolitik ein als die Schriftsteller. Spinnen und Kunkel sprechen eine Ansicht aus, die unter Literaturwissenschaftlern, Feuilletonisten und selbst unter Autoren heute weit verbreitet ist.
Mit der Wirklichkeit hat all das Gerede vom Verstummen der engagierten Literatur heute freilich kaum etwas zu tun. Wer genau hinsieht, statt den kurzlebigen Literaturmoden zu folgen, die im Rhythmus der Buchmessen und Literaturpreis-Verleihungen alljährlich ausgerufen werden, erkennt bald: Zwanzig Jahre nach dem Mauerfall ist die Literatur so breit und vielgestaltig engagiert wie schon lange nicht mehr. Jenseits von Pop-Literatur, Fräuleinwunder und einem sogenannten Neuen Feminismus melden sich Autorinnen und Autoren deutlich vernehmbar zu Wort, greifen Schriftsteller als kritische Intellektuelle kraftvoll und beherzt in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ein.
Dabei schienen vor nicht allzu langer Zeit gerade jene Autoren die Diagnose vom Ende der engagierten Literatur zu bestätigen, die sich gegen den damals vorherrschenden Trend im klassischen Sinne demonstrativ parteilich zeigten und sich für den Wahlkampf der SPD einspannen ließen. Als Juli Zeh, Benjamin Lebert, Feridun Zaimoglu oder Durs Grünbein im Jahr 2005 einem Ruf von Günter Grass folgten und für die Wiederwahl des Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) warben, wirkte das politisch eher einfallslos, angepasst, jedenfalls meilenweit entfernt von fortschrittlichen gesellschaftspolitischen Visionen. Die 1968 in Westberlin geborene Schriftstellerin Tanja Dückers vermisste bei ihren Kollegen damals einen utopischen Überschuss der Literatur, der auf nicht realisierte Möglichkeiten des Zusammenlebens verweist: »Wenn Literatur sich mit Politik beschäftigt, sollte sie nicht den Status quo bestätigen (dafür sind die Realpolitiker da), sondern den schlechten Ist-Zustand mit dem vergleichen, was möglich wäre. Gute Literatur verhält sich in diesem Sinne wie gute Musik: Sie transzendiert die Realität und vermittelt für einen Moment die Aussicht auf ein besseres Leben. Welche Utopie in der Unterstützung für Hartz IV liegen soll, ist hingegen völlig schleierhaft.«4
Auch eine im selben Jahr von der Wochenzeitung Die Zeit angeschobene Debatte über die Aufgaben des Romans schien die politische Harmlosigkeit der Gegenwartsliteratur nur zu bestätigen. Martin R. Dean, Thomas Hettche, Matthias Politycki und Michael Schindhelm stellten ein »Manifest für einen Relevanten Realismus«5 vor, das sich gegen eine vermeintlich belanglose Gegenwartsliteratur positionierte, dabei aber selbst inhaltlich vage und politisch auffällig richtungslos blieb. Aber stimmte wenigstens die Diagnose des Positionspapiers? Mitnichten. Selbst unter den als infantile Pop-Literaten geschmähten Autorinnen und Autoren hatten zu diesem Zeitpunkt einige längst selbst Relevantes zu Papier gebracht. »Man denke etwa an Christian Krachts 1979 von 2001, an Juli Zehs Adler und Engel, ebenfalls von 2001, an Kathrin Rögglas wir schlafen nicht von 2004 oder an Doron Rabinovicis Ohnehin, ebenfalls von 2004.«6 Der Literaturwissenschaftler Paul Michael Lützeler attestiert den Manifest-Autoren deshalb zu Recht eine »partielle Blindheit gegenüber dem zeitgenössischen Roman«7 .
Heute ist die engagierte Literatur nicht mehr »unmodern«, wie Alban Nikolai Herbst noch jüngst behauptete.8 Ein Großteil der professionell mit Literatur befassten Kulturarbeiter sieht das freilich noch anderes. Ursächlich dafür ist nicht zuletzt der Umstand, dass alle bisherigen Debatten um eine Renaissance der politisch engagierten Literatur in zweierlei Hinsicht defizitär waren. Zum einen stand die »klassische« Form des Romans im Mittelpunkt. Aktuelle politische Tendenzen im Bereich der Spannungsliteratur, des Krimis, der Science-Fiction, des Jugendbuchs oder der Poesie blieben ausgeklammert. Dabei war gerade hier längst zu finden, was im Gegenwartsroman vermisst wurde: die literarische Befassung mit brisanten politischen Themen. Das trifft auf die populären Politthriller eines Wolfgang Schorlau genauso zu wie auf die Jugendbücher Michael Wildenhains. Selbst die politische Lyrik ist auf die literarische Bühne zurückgekehrt, was die Rotbuch-Anthologie Alles außer Tiernahrung (2009) eindrucksvoll dokumentiert. Zum anderen war der Blick auf die Bücher selbst fokussiert. Kaum jemand fragte nach dem Engagement der Autoren als Intellektuelle. Dadurch erschien die Literatur deutlich unpolitischer, als sie es nach 1989 tatsächlich war. Gegenläufige Tendenzen blieben unterhalb der medialen Wahrnehmungsschwelle.
Wer die Intellektuellen sind
Schriftsteller füllen heute zunehmend eine Leerstelle der demokratischen Öffentlichkeit: die des Intellektuellen, der sich für das Wohl des Gemeinwesens einsetzt. »Ein Intellektueller gibt politische Orientierung und erörtert öffentlich generelle Fragen.«9 Jean-Paul Sartre war es, der am 1. 10. 1945 die erste Ausgabe seiner Zeitschrift Les Temps Modernes mit dem Appell eröffnete, die Schriftsteller sollten Verantwortung übernehmen und für die öffentlichen Belange eintreten. »Der Hunger in der Welt, die atomare Bedrohung, die Entfremdung des Menschen – ich wundere mich, dass sie nicht unsere ganze Literatur färben«, konkretisierte er zwanzig Jahre später, was er von den Autoren erwartete.10 In Westdeutschland wandte sich die »Gruppe 47« zunächst gegen die Reste faschistischer Propagandasprache und den autoritären Untertanengeist im Adenauerstaat. Die Autoren protestierten gegen die Wiederbewaffnung und den Vietnamkrieg oder unterstützten die Befreiungsbewegungen in der »Dritten Welt«. Später ging es um die Haftbedingungen der RAF-Gefangenen, Atomenergie und die Stationierung amerikanischer Nuklearwaffen.
Die kritischen Interventionen von Heinrich Böll, Martin Walser, Günter Grass und Max Frisch beeinflussten im Westen das politische Bewusstsein ganzer Generationen. Bertolt Brecht erprobte mit seinem Theaterkollektiv in der DDR Elemente einer radikal demokratischen Gesellschaft, die auch im Realsozialismus noch ihrer Verwirklichung harrte. Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss und Brechts eingreifendes Denken beflügelten die Diskussionen auf beiden Seiten des »Eisernen Vorhangs«. Als dieser 1989 fiel, schienen der Sozialismus und mit ihm die Zukunftshoffnungen vieler Intellektueller auf Nimmerwiedersehen ins Reich der Utopie verbannt. Manche Kommentatoren meinten, dass damit auch die Schriftsteller ihre Rolle als Kritiker der herrschenden Verhältnisse für immer eingebüßt haben würden. Die Figur des kritischen Intellektuellen galt als tot. Die Grabesrede hielten die französischen Poststrukturalisten. Von Deleuze über Foucault bis Baudrillard erklärten sie, wenig Sinn in dem Anspruch zu sehen, mit ihrer Deutungsarbeit für alle zu sprechen, wenngleich sie es selbst weiterhin taten.11
»In den 1990er Jahren pfiffen dann auch die kleineren intellektuellen Spatzen von den Flachdächern der Konzerne, die Zeit der Intellektuellen sei vorbei, ja sie hätten uns ins Unglück gestürzt mit ihren Utopien.«12 Auch die Strukturen der Öffentlichkeit haben sich in dieser Zeit dramatisch verändert. Die öffentliche Rolle des Schriftstellers stand in der Bundesrepublik Deutschland vor 1989 noch in enger Beziehung zum Bildungsauftrag eines öffentlichrechtlichen Rundfunks, dessen Monopol gerade erst zu bröckeln begann. Mit dem von der Regierung Helmut Kohl durchgesetzten Siegeszug der Konzernmedien nahm die Präsenz der Schriftsteller und der »klassischen« Intellektuellen in Radio und Fernsehen deutlich ab. Andere nahmen ihre Stelle ein. »Wie der Übergang vom Stummfilm zum Tonfilm eine neue Generation von Stars hervorgebracht hat, so hat das Fernsehen den telegenen Intellektuellen und die Talkshow hervorgebracht. Der vom Katheder verkündende ›Geist‹ ist marginalisiert, wenn auch nicht ganz verschwunden.«13 Die Printmedien verringerten ihren Platz für kritische Interventionen und luden lieber sogenannte Experten zu Stellungnahmen ein. Anstelle von Schriftstellern beantworten seit den neunziger Jahren zunehmend Unternehmensberater die Frage, in welcher Gesellschaft wir künftig leben wollen.
Linksliberale Positionen verloren in den Feuilleton-Redaktionen spürbar an Gewicht und rechte Intellektuelle gewannen Deutungsmacht. Als Daniel Kehlmann seine Eröffnungsrede zum Brecht-Festival des Jahres 2008 in Augsburg für eine Generalabrechnung mit der Gesellschaftskritik linker Intellektueller am Beispiel Bert Brechts nutzte14, fühlte sich im Feuilleton kaum jemand provoziert. Während rechtsgerichtete Schriftsteller wie der selbsterklärte Reaktionär Martin Mosebach15 und der katholische Herrendenker Nicolás Gómes Dávila (1913 – 1994) viel Lob im Kulturbetrieb ernteten16, ließen die in den vergangenen Jahren unter dem Stichwort »Politischer Roman« geführten Feuilleton-Debatten linke Autoren weitgehend außen vor.
Nach dem vorläufigen Ende des Sozialismus und dem Siegeszug des Neoliberalismus in Europa waren die kritischen Intellektuellen und sozial engagierten Künstler aus der herrschenden Weltsicht nahezu verschwunden. Und mit ihnen verschwanden die Begriffe, mit denen die dramatische Ungleichheitsentwicklung hätte analysiert, die Parolen, mit denen Freiheitskämpfe hätten ausgefochten werden, und die Organisationen, in denen sich Widerstand hätte formieren können. »Das war die Zeit, in der das Kapital sich von Spekulationsblase zu Spekulationsblase fiktiv aufblähte, während die intellektuellen Konjunkturritter die Welt als Schneeballsystem imaginierten. Damit hat die große Krise Schluss gemacht. Sie hat die Abschaffungen abgeschafft. Wahrheit und Wirklichkeit haben sich zurückgemeldet.«17
Die in globalem Maßstab ständig wachsende Ungleichheit, die Folgen des Klimawandels, drohende Verteilungskämpfe um Trinkwasser, Bodenschätze, fossile Energieträger und nicht zuletzt die kaum überstandene Weltwirtschaftskrise machen die Notwendigkeit von politischen Alternativen unübersehbar. Konkrete Utopien in diesem Sinne vorzuschlagen und öffentlich zu vermitteln, das ist in der bürgerlichen Öffentlichkeit traditionell die Aufgabe von Intellektuellen. Doch ausgerechnet zu einer Zeit, wo politische Zukunftsvisionen wieder vermehrt nachgefragt werden, ist diese Position im Feld des öffentlichen Diskurses mehr oder weniger verwaist. Parteien und Gewerkschaften haben längst darauf verzichtet, eigene Geistesarbeiter heranzubilden. Die Universitäten spannen junge Sozial- und Geisteswissenschaftler heute viel zu sehr in den Alltagsbetrieb und in Karrierezwänge ein, als dass diese noch daran denken könnten, sich öffentlich einzumischen. Zwischen Lehrverpflichtungen, Drittmitteleinwerbung, Gremienarbeit und wissenschaftsinternen Publikationszwängen verlieren sie beinahe zwangsläufig den Blick für die großen Zusammenhänge. Journalisten, die gar nicht so selten den Ehrgeiz entwickeln, selbst in die Fußstapfen der großen Intellektuellen zu treten, geben sich häufig damit zufrieden, im Auftrag von Think-Tanks als Lautsprecher der Konzerninteressen zu fungieren. Wirklich innovative Ideen oder fortschrittliche gesellschaftliche Entwürfe sucht man bei ihnen in der Regel vergeblich.
Doch die neoliberale Hegemonie hat erste Risse bekommen. Innenpolitisch ist mit der Linkspartei eine Kraft entstanden, die das sozialdemokratische Erbe antritt und die öffentlichen Foren für kritisches Denken deutlich vermehrt. An den Universitäten entstehen Marx-Lesekreise. Und immer mehr Schriftsteller nutzen die neu geschaffenen Möglichkeiten, sich für das linke Projekt zu engagieren. Tendenz steigend. Mit dem Aufwind, den sowohl die globalisierungskritische Bewegung als auch die parteipolitische Linke seit einigen Jahren erfahren, werden ihre Themen auch von den großen Medien wieder aufgegriffen. Die Ratlosigkeit vorgeblicher Experten angesichts der Weltwirtschaftskrise hat diese Tendenz noch befördert. Schriftsteller werden wieder häufiger eingeladen, das Für und Wider politischer Vorschläge aus ihrer Sicht zu kommentieren und eigene Impulse zu geben. Sie sind keine Experten, die zahlenden Auftraggebern Gutachterwissen präsentieren, sondern Bürger, die das allgemeine Wohl im Auge haben. Die Spielräume für kritische Interventionen sind wieder etwas größer geworden. Als Thea Dorn, Krimi-Autorin, Fernsehmoderatorin und vermeintliche Hoffnungsträgerin eines erneuerten Feminismus18, 25 prominente Künstler und Schriftsteller, die den möglichst raschen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan forderten19, als Repräsentanten eines neuen »Vulgärpazifismus«20 diffamierte, gab man dem marxistischen Schriftsteller Dietmar Dath in der Zeit genügend Raum für eine kluge Replik.21
Was sich engagieren heute bedeutet
Von 2007 bis 2010 habe ich Gespräche mit engagierten Schriftstellern und Liedschreibern geführt, die den Grundstock bilden für dieses Interviewbuch.22 Die Gespräche geben unter anderem Auskunft darüber, wie diese Autoren heute zum Begriff des Engagements stehen. Für den österreichischen Romancier Robert Menasse hat sich die öffentliche Rolle des Schriftstellers nach dem Ende des Kalten Kriegs in einer Hinsicht deutlich geändert. Heute sei das Engagement nicht auf die Unterstützung kommunistischer oder sozialistischer Parteien beschränkt. Es sollte zur Grundausstattung jedes denkenden Menschen gehören. »Aber eben nicht in diesem parteipolitischen, sondern in einem umfassenderen Sinne, der nichts anderes bedeutet, als unausgesetzt das Defizit abzuschreiten zwischen gesellschaftlicher Realität und gesellschaftlichem Selbstbild.«23 Die oft gestellte Frage, warum ein Dichter im Hinblick auf gesellschaftliche und politische Fragen eine qualifiziertere Meinung haben soll als andere Staatsbürger, beantwortete Menasse wie folgt: »Die Frage ist vielmehr, ob es in der Welt der individuellen Interessen doch auch Individuen gibt, die zumindest theoretisch die Möglichkeiten haben, die Welt ohne Klassen-, Standes- und Schichtinteressen zu sehen, und die Chance, das, was sie tun und denken, öffentlich so zu kommunizieren, dass es über alle soziologischen Grenzen hinweg von allgemeinem Interesse ist. Der Einzige, der aufgrund seiner Lebens- und Produktionsbedingungen die Möglichkeit dazu hat, ist der Künstler, der freie Geist, der frei ist von allen Abhängigkeiten und Zwängen, wie sie für alle anderen Berufe gelten.«24
Auch Menasses deutscher Kollege Dietmar Dath sieht eine einschneidende Änderung nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus. Zuvor hätten im Westen die Autoren von der Abteilung Dritter Weg die Debatten geprägt. »Dieses Kontingent von nachdenklichen Menschen war damals wichtig. Sie mussten irgendwie links sein, also das Gute im Menschen wollen, etwas gegen Franz Josef Strauß und bestimmte Unternehmer sagen, aber auf jeden Fall nicht für die bösen Russen sein. Dafür gab es eine Menge Geld, Aufmerksamkeit und Mikrofone, die man nicht den ganzen Tag vollbrüllen konnte mit: Fresst! Kauft! Arbeitet!«25 Von nichts anderem sei damals geredet worden »als von einem Dritten Weg zwischen dem bösen Ostblock und dem liberalen, aber kalten und unmenschlichen Westen. Diese kritischen Intellektuellen, das war die Abteilung Dritter Weg«26 . Dath misst dem kritischen Intellektuellen heute zwar keine Bedeutung mehr zu, die über den Exotenwert eines Experten für bestimmte Spezialfragen, zum Beispiel für den Kommunismus, hinausgeht. Doch auch diese »Rolle des Experten der Rote-Mützen-Sekte im ökumenischen Konzert der komischen Sekten« kann seiner Ansicht nach genutzt werden, um ein gutes Argument öffentlich wirksam zu platzieren: »Denn selbst da könnte einmal jemand sagen: Dieser Zeuge Jehovas da ist eigentlich ganz vernünftig«.
Einige Schriftsteller reflektierten im Verlauf der Gespräche über die Wirkungschancen ihres Engagements. Denn diese sind abhängig von dem politischen Resonanzraum, den die Literatur historisch jeweils hat. »Wenn es eine soziale Widerstandsbewegung gibt, braucht diese auch Literatur, um sich zu verständigen, um andere zu gewinnen und um sich nach außen zu vermitteln. Das kann eine Literatur sein, die große gesellschaftliche Zusammenhänge in Romanen oder Essays sichtbar macht und Möglichkeiten des Widerstands beispielhaft zeigt. Oder eine aktuell eingreifende, wie bestimmte Brecht-Stücke oder -Gedichte oder solche Kampftexte, wie ich sie früher geschrieben habe«, sagt der Kölner Schriftsteller Erasmus Schöfer27. Sein Berliner Kollege Michael Wildenhain sieht das ähnlich: »Brecht, insbesondere mit seinen Lehrstücken, ist nicht vorstellbar ohne die Situation Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre, ohne eine sehr starke kommunistische Partei und die entsprechenden Publikationsorgane, die sich um sie rankten. Es gab also einen Resonanzraum für die Literatur, aus dem das Echo herausschallte. Heiner Müller ist nicht vorstellbar ohne die DDR. Er wurde zwar auch sehr stark im Westen rezipiert, aber nur vor dem Hintergrund dieses real existierenden Resonanzraumes. Ich glaube, politische Literatur braucht immer diesen Resonanzraum. Wenn dieser schmal und dünn ist wie im Moment, dann wird es schwer.«28 Unter diesen Voraussetzungen liegt es für einen oppositionell orientierten Autor nahe, sich selbst als Archivar eines widerständigen Wissens zu definieren, das von späteren Generationen genutzt werden kann. Michael Wildenhain hofft daher, dass seine Bücher einen Flaschenpostcharakter entfalten können. Gerade Romane könnten zu zeitgeschichtlichen Dokumenten werden, die in literarischer Form eine Wahrhaftigkeit erreichen, die sonst nur schwer möglich sei. Erasmus Schöfer hält mit seinem Romanzyklus Die Kinder des Sysifos auf diese Weise das demokratische Erbe des Aufbruchs von 1968 bewusst.
Der Schriftsteller Ilija Trojanow kann wie sein Kölner Kollege mit einer l’art pour l’art nichts anfangen. »Ich will andere Menschen erreichen, erfreuen, beglücken, bewegen und verändern. Wenn ich auch nur im Entferntesten daran zweifeln würde, dass das möglich ist, würde ich nicht schreiben bzw. nicht publizieren. […] Ich habe nur ein Talent. Ich kann ganz gut mit dem Wort umgehen. Das ist sozusagen meine einzige Waffe, und die benutze ich auch.«29 Juli Zeh wiederum mischt sich ein, weil sie die privilegierte Möglichkeit hat, in Zeitungen zu veröffentlichen und in Interviews ihre Meinung zu sagen: »Ich bin in der luxuriösen Situation, eine Art Plattform für Ansichten zu haben, und die nutze ich.«30
Das politische Engagement der Autoren zeigt sich sowohl in ihrer eigentlichen literarischen Arbeit als auch in ihren öffentlichen Interventionen. Schriftsteller thematisieren heute Probleme und Missstände, die von der Politik tabuisiert und in den großen Medien nicht genügend diskutiert, im Extremfall sogar ganz verschwiegen werden. Die Art und Weise, wie sie dies tun, ist jedoch sehr unterschiedlich.
Was die Bücher politisch macht
Den einen Pol bildet ein Autor wie Ulrich Peltzer, der die Frage nach den politischen Veränderungsmöglichkeiten unter den gegenwärtigen Herrschaftsbedingungen im Rahmen der Romanform selber stellt. Der 1956 in Krefeld geborene Schriftsteller stellt mit literarischen Mitteln die Frage nach der Veränderbarkeit der Welt unter den Bedingungen des Hightech-Kapitalismus. Die Figuren seines Romans Teil der Lösung (2007) loten aus, welche Möglichkeiten politischen Handelns angesichts flächendeckender Überwachung in den heutigen Metropolen überhaupt noch bestehen. Christian, die männliche Hauptfigur seines Romans, schlägt sich mäßig erfolgreich als freier Journalist mit Gelegenheitsarbeiten durch. Der unbehauste Mittdreißiger arbeitet an einer Story über ehemalige Mitglieder der Roten Brigaden, die sich in Frankreich eine bürgerliche Existenz aufgebaut haben und nun durch Auslieferungsbemühungen der rechtsgerichteten italienischen Regierung unerwartet bedroht werden. Er verliebt sich in die viel jüngere linke Studentin Nele, die an einer Magisterarbeit über Jean Paul sitzt, ohne Christians Wissen aber auch in einer militanten Gruppe aktiv ist. Bislang haben sie Fahrscheinautomaten verklebt, Überwachungskameras beschädigt und Autos in Brand gesteckt. Doch reichen symbolische Sachbeschädigungen aus, um einschneidende Veränderungen zu bewirken? Während die Protagonisten des Widerstands über die Frage streiten, wie oppositionelle Kräfte gebündelt, auf welche Weise Protestaktionen materielle Gewalt gewinnen können, versuchen Staatsschutz und BKA den politischen Untergrund durch V-Leute, Informanten und alle zur Verfügung stehenden Überwachungstechniken in ihrem Sinne zu steuern. Sie stacheln an zur Gewalt, um im entscheidenden Moment zugreifen zu können. Die parallel erzählten Handlungen des Journalisten, der Liebenden, der Akteure des Widerstands und der Repression erzeugen eine bis zur letzten Zeile andauernde Spannung. Die Darstellung der Berliner Schauplätze stimmt noch im kleinsten Detail. Auf Peltzers eher beiläufig eingestreute Schilderungen popkultureller Bildungserlebnisse hätte in den vergangenen Jahren manch ein Popliterat seine gesamte Karriere aufbauen können. Dabei reicht seine an filmische Montagetechniken erinnernde Erzählweise an die Arbeiten von Alfred Döblin oder Wolfgang Koeppen heran. Peltzer wird den sozialen Veränderungen in der urbanen Welt, ihren Prozessen der Gentrifizierung und den sich vervielfältigenden Milieus mit den perspektivischen Mitteln des modernen Romans auch formal gerecht.
Als Ende 2008 Erasmus Schöfers Roman Winterdämmerung erschien, wollte in Deutschland zunächst kaum jemand Notiz davon nehmen. Nach wie vor gehört Schöfer zu den großen Unbekannten unter den Romanciers seines Landes. Die ersten Rezensionen erschienen in kleinen linken Zeitungen. Dabei handelt es sich beim abschließenden Teil des vierbändigen Romanzyklus Die Kinder des Sisyfos um ein bedeutendes Stück engagierter Literatur. Erfolgreiche jüngere Autoren wie Ilija Trojanow und Dietmar Dath sind begeisterte Leser der Tetralogie. Von einer Fortsetzung der Ästhetik des Widerstands (Peter Weiss) ist zuweilen die Rede. Das 2000 Seiten starke Epos erzählt die Geschichte der westdeutschen Linken von 1968 bis 1990 entlang ausgewählter Stationen und fiktiver Biografien. Dabei versucht er die Motive der aufbrechenden Menschen, ihre Impulse und moralische Empörung so festzuhalten, wie sie damals von ihnen empfunden wurden. Ein Reporter, ein Historiker, eine Schauspielerin und ein Werkzeugmacher sind die Hauptfiguren. Im Mittelpunkt von Winterdämmerung stehen die Massenproteste der Friedensbewegung gegen die atomare Aufrüstung, der Kampf für die 35-Stunden-Woche und der Widerstand gegen die Schließung der Rheinhausener Stahlhütte. Die realistische Darstellung der Arbeitswelt seiner Akteure ist Schöfer dabei ebenso wichtig wie die lebendige Schilderung ihrer politischen Auseinandersetzungen, ihrer erotischen Begegnungen und Freundschaften. Seinen Stoff hat Schöfer als Journalist, Künstler und als politischer Aktivist selbst mitgeformt. Seine Szenerien sind authentisch, die Diskussionen realitätsnah, die Konflikte glaubwürdig geschildert. Obwohl Schöfers Figuren scheitern, gelingt es ihnen, den utopischen Funken immer wieder neu zu entfachen, sich gegenseitig aufzurichten. Als der Staatssozialismus zusammenbricht, entdeckt der marxistische Historiker Bliss gemeinsam mit seiner Enkelin in der anarchistischen Kommune Kaufungen den realutopischen Vorschein einer solidarischen Gemeinschaftsform.
Neben anspruchsvollen politischen Romanen erlebt auch die Gattung der politischen Kampfschrift eine bemerkenswerte Renaissance. Neuere Texte von Dietmar Dath, Robert Menasse oder Raul Zelik zeigen eindrucksvoll, dass momentan inmitten der deutschsprachigen Literatur eine regelrechte Ideenwerkstatt für konkrete Utopien entsteht: sprachlich überzeugend, sachkundig und politisch vorwärtsweisend.
Den Anfang machten im Jahr 2006 Robert Menasses Frankfurter Poetikvorlesungen: Die Zerstörung der Welt als Wille und Vorstellung, eine fulminante Kampfansage an die neoliberale Ideologie und den Demokratieabbau im europäischen Einigungsprozess.31 Dem konformistischen Mainstream-Journalismus unserer Tage wirft Menasse ein Versagen auf der ganzen Linie vor, da er nicht zu analysieren vermöge, dass staatliche Sozialkürzungen nur deshalb notwendig erscheinen, weil das Kapital seinen Anteil am Gemeinwohl nicht mehr leisten wolle. Wo Konzerne von Steuern befreit, Sozialleistungen eingespart, Arbeitsdienste eingeführt, Freiheitsrechte eingeschränkt, durch das Feindbild islamischer Terrorismus gesellschaftliche Solidarität gestiftet, demokratische Errungenschaften der Nationalstaaten im Europa des Lissaboner Vertrags abgebaut und Rüstungsmaßnahmen legitimiert werden, erkennt Menasse eine Tendenz des neoliberalen Kapitalismus, die westlichen Gesellschaften auf eine neue Weise zu faschisieren. Mit dem Rückbau des Sozialstaats und der bürgerlichen Freiheiten sieht er heute Bedingungen kapitalistischer Herrschaft wiederhergestellt, für die Hitler lediglich die Antwort der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts gewesen sei. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 sieht Menasse alle zuvor bekannten Widersprüche des Westens in der totalitären Idee von »unserer Zivilisation« verschwinden, »die mit aller Gewalt verteidigt werden müsse«. Die Literatur habe dagegen die Aufgabe, sich für »die Befreiung von der Diktatur eines befreiten Kapitals« einzusetzen.
Juli Zeh und Ilija Trojanow gelang 2009 mit Angriff auf die Freiheit eine scharfe Polemik gegen den Abbau der Bürgerrechte im Zeichen des internationalen Antiterrorkampfes. Das Buch kletterte alsbald auf die vorderen Ränge der Spiegel-Bestsellerliste. Für das Autorengespann ist die einzige Gefahr, die vom Terrorismus ausgeht, die Art, wie unsere Gesellschaft auf ihn reagiert. In ihrem Buch beschreiben sie, wie sich demokratisch verfasste Gesellschaften seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 beinahe widerstandslos von ihren Regierungen in immer lückenloser überwachte Kontrollgesellschaften haben umbauen lassen. Rasterfahndung, biometrischer Reisepass, Telefonüberwachung und Online-Durchsuchung sind dafür einige der wichtigsten Stichworte. Sie zeigen, wie die NATO nach dem Ende des Kalten Krieges ihr Feindbild auf amorphe, prinzipiell nicht fassbare Gegner umstellte. Dabei handle es sich nicht nur um »terroristische Netzwerke«, sondern auch um Einwanderer, Flüchtlinge, ölfördernde Eliten sowie hungrige junge Männer, die sich nach Ansicht der westlichen Strategen nicht mehr im Griff haben und aufständisch werden.