Czytaj książkę: «Letzte Fragen»

Czcionka:

Thomas Nagel

Letzte Fragen Mortal Questions

Erweiterte Neuausgabe

mit einem Schriftverzeichnis

Herausgegeben

von Michael Gebauer

CEP Europäische Verlagsanstalt

Titel der Originalausgabe: »Mortal Questions«

© 1979 Cambridge University Press

Die erste deutsche Übersetzung erschien 1984 unter dem Titel »Über das Leben, die Seele und den Tod«

Aus dem Amerikanischen von Karl-Ernst Prankel, Ralf Stoecker, Knut Emig, Tatjana Schaaf, Stefan Holler, Hans-Peter Schütt und Michael Gebauer.

Umschlag: Motiv: Thomas Nagel, © New York University

ISBN 978-3-86393-510-8

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Übersetzung, Vervielfältigung (auch fotomechanisch), der elektronischen Speicherung auf einem Datenträger oder in einer Datenbank, der körperlichen und unkörperlichen Wiedergabe (auch am Bildschirm, auch auf dem Weg der Datenübertragung) vorbehalten.

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeische-verlagsanstalt.de

Inhalt

Vorwort

Der Tod

Das Absurde

Moralische Kontingenz

Sexuelle Perversion

Massenmord und Krieg

Rücksichtslosigkeit im öffentlichen Leben

Die Strategie der Bevorzugung

Gleichheit

Die Fragmentierung des Guten

Ethik ohne Biologie

Hemisphärentrennung des Hirns und Einheit des Bewußtseins

Wie fühlt es sich an, eine Fledermaus zu sein?

Der Panpsychismus

Das Subjektive und das Objektive

Anhang

Das objektive Selbst

Menschenrechte und Öffentlichkeit

Schriften von Thomas Nagel

Biographische Notiz

Ausgewählte Bibliographie zu den Nagelschen Themen

Index

Ausgehend von der Diagnose, dass philosophische Irritationen auf ein grundlegendes Auseinanderfallen von individuellem Erleben und objektiver Realität reagieren, folgt Nagel der Einsicht der besten Vertreter der philosophischen Aufklärung, dass das legitime Streben analytischer Philosophie nach Klarheit und Präzision nicht zu Lasten der Behandlung der wichtigsten Fragen persönlicher Welt- und Selbsterfahrung gehen darf. Da hier Schlüsselfragen des persönlichen Lebens zu zentralen Themen der Philosophie führen, vermag »Letzte Fragen« auch den allgemeinen Leser gefangen zu nehmen.

Die vorliegende Ausgabe wurde gegenüber der amerikanischen Ausgabe, die bereits über 20 Auflagen erfahren hat, um einen längeren Essay über das Ich und einen neu verfassten Aufsatz über die Problematik der Menschenrechte erweitert.

Thomas Nagel, geboren 1937, Philosophieprofessor an der New York University School of Law. Zuvor Lehrtätigkeiten in Princeton und Berkeley, gehört zu den bedeutendsten lebenden Philosophen der Vereinigten Staaten. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Philosophie des Geistes, Ethik und politischen Philosophie.

meinem Vater

WALTER NAGEL

dem Pessimisten und

Skeptiker

Vorwort

Das Menschheitsunternehmen Philosophie umspannt eine schier uferlose Themenvielfalt, doch seit jeher galt seine Aufmerksamkeit zu einem beträchtlichen Teil dem vergänglichen Leben: Wie ist es zu verstehen, wie zu fuhren? Mit dem Leben werden es auch die in diesem Buch gesammelten Essays zu tun haben: seinem Ziel, seinem Sinn, seinem Wert, dem Bewußtsein und der Metaphysik des Bewußtseins. Philosophen analytischer Prägung haben diesen Fragen nur selten Beachtung geschenkt, denn es ist schwierig, klare und präzise Auskunft über sie anzubieten, und aus einem Gemisch von Tatsachen und Gefühlen diejenigen Schwierigkeiten zu destillieren, die abstrakt genug sind, um philosophisch untersucht werden zu können. Probleme dieser Art müssen mit Hilfe einer philosophischen Methode in Angriff genommen werden, die auf ein ebensogut persönliches wie theoretisches Verständnis abzielt und sich bemüht, beide Aspekte durch Einbettung der theoretischen Ergebnisse in ein Ganzes unserer Selbsterkenntnis zusammenzuführen. Ein solches Unternehmen birgt seine eigenen Risiken. Derart allgemeine und tiefe Fragen führen nur allzu leicht zu langatmigen und schwammigen Antworten.

In jeder theoretischen Disziplin kommt es zu einer Spannung zwischen Extravaganz und Borniertheit, Phantasie und argumentativer Strenge, Weitschweifigkeit und Präzision. Nicht selten verfällt man aus Furcht vor Exzessen des einen Extrems den Exzessen des anderen. Und eine Vorliebe für den erhabenen Gestus kann dazu führen, daß man die Forderung nach Strenge ungeduldig beiseite schiebt und das Unverständliche in Kauf nimmt. Doch in der analytischen Philosophie stellte sich dieses Problem in umgekehrter Form – die Schwächen einer Tradition sind meist die Kehrseite ihrer Stärken. Wohl wäre es alles andere als richtig, behaupten zu wollen, die angloamerikanische Philosophie gehe den großen Fragen aus dem Weg, denn zum einen gibt es schlechterdings keine tieferen und bedeutenderen Schwierigkeiten in der Philosophie als die metaphysischen, erkenntnistheoretischen und sprachphilosophischen Probleme, die im Brennpunkt ihrer theoretischen Aufmerksamkeit liegen. Und zum anderen war das Establishment analytischer Philosophen sehr aufgeschlossen für einige in jüngerer Zeit unternommene Versuche, ihm bislang unbekanntes Terrain begehbar zu machen. Gleichwohl hatte die Furcht vor Unsinn hier nach wie vor einen äußerst hemmenden Einfluß auf das Denken. Noch lange nach dem Abdanken des Logischen Positivismus neigte die analytische Philosophie dazu, sich mit übertriebener Vorsicht in dieses Neuland voranzutasten – und dabei mit dem neuesten technischen Rüstzeug zu überladen.

Es ist nur allzu verständlich, daß die Vorliebe für bestimmte Präzisionsmaßstäbe und Methoden zur Konzentration auf Probleme führt, die sich mit diesen Methoden voranbringen lassen. Als forschungsstrategische Entscheidung kann dies völlig rational sein. Aber oft führt die Entscheidung dann die ungesunde Tendenz mit sich, die Legitimität von Fragestellungen im Rückgriff auf die derzeit verfügbaren Lösungswege definieren zu wollen. Und diese Angewohnheit macht sich noch nicht einmal nur in den im engeren Sinne theoretischen Forschungsdisziplinen breit: Wir kennen sie unter Ismen wie »Pragmatismus« oder »Realismus« auch aus Kontroversen über politische und soziale Fragen. Sie gewährleistet zwar stets eine lässige Bequemlichkeit – die Möglichkeit, daß man genuine und wichtige Probleme erst gar nicht in den Blick bekommen könnte, wird ja von vornherein ausgeschlossen –, doch kommt sie in allen Fachgebieten, und insbesondere in der Philosophie, regelrechter Unzurechnungsfähigkeit gleich. Wer sich hingegen noch nicht dem Schwachsinn ausgeliefert hat, wird wissen, daß es nämlich gerade dann wirklich interessant wird, wenn neue Verfahren und zu ihnen passende Maßstäbe geschaffen werden müssen, damit sich auch solche Fragen behandeln lassen, die im Rahmen der bestehenden Untersuchungsmethoden nicht gestellt werden können. Bisweilen läßt sich ein volles Verständnis solcher Fragen erst erreichen, nachdem die entsprechenden Methoden erarbeitet worden sind, und es bleibt sicher wichtig, daß man bestrebt sein sollte, vage, obskure und unbegründete Behauptungen zu meiden und ein hohes Niveau der Rechtfertigung und Argumentation zu wahren. Aber andere Werte sind nicht minder wichtig, und manche von ihnen erschweren es, die Dinge in säuberlicher Ordnung zu halten.

Meine eigenen philosophischen Sympathien und Antipathien lassen sich ohne weiteres in wenigen Sätzen zusammenfassen. Ich glaube, wir sollten eher den Problemen trauen als den Lösungen, eher Intuitionen als Argumenten und eher pluralistischer Dissonanz als der Harmonie eines Systems. Einfachheit und Eleganz können niemals den Glauben an die Wahrheit von etwas begründen, auch nicht an die Wahrheit einer philosophischen Theorie. Normalerweise sollten sie im Gegenteil den Verdacht auf sich ziehen, daß die betreffende Theorie womöglich nicht wahr ist. Denn wird irgendein schlagendes Argument für eine intuitiv unannehmbare Konsequenz angeboten, liegt stets die Vermutung nahe, daß die Argumentation einen bislang noch versteckten Fehler in sich birgt – wiewohl es zugestandenermaßen auch sein kann, daß der Zweifelnde sich über die Quelle seiner intuitiven Vorbehalte im Irrtum befindet. Wenn Argumente oder systematische theoretische Überlegungen zu Ergebnissen führen, die man intuitiv für ungereimt halten würde; wenn eine glatte Lösung des Problems unseren Glauben nicht zu verdrängen vermag, daß sich das Problem noch immer stellt; oder wenn der Nachweis, daß irgendeine Fragestellung kein genuines Problem zum Ausdruck bringt, unsere Neigung nicht zum Verschwinden bringen kann, die Frage nach wie vor zu stellen: immer dann muß an der betreffenden Argumentation etwas verkehrt sein, und eine weniger arbeitsscheue Beschäftigung mit der Sache wird unumgänglich. Oft wird das Problem neu zu formulieren sein, da eine schlüssige Beantwortung der Frage in ihrer ursprünglichen Form nach wie vor nicht das Gefühl zum Verschwinden bringt, daß hier ein Problem besteht. Weil in der Philosophie stets auch unsere Methoden selber in Frage stehen, ist es gerade in dieser Disziplin grundsätzlich vernünftig, dem intuitiven Gespür, daß ein Problem eben noch ungelöst ist, größten Respekt zu zollen. Dies gibt einem die Möglichkeit, sich dafür offen zu halten, die etablierten Lösungswege jederzeit zu verlassen.

Solcherlei Einschätzungen philosophischer Praxis gehen alle davon aus, daß Philosophie stets auch überzeugen muß, soll sie so etwas wie Verstehen überhaupt ins Leben rufen können. Damit meine ich, daß Philosophie entweder zu Überzeugungen Anlaß geben oder dazu führen muß, daß sie aufgegeben werden. Für Verstehen genügt es nicht, lediglich mit einem System konsistenter Behauptungen versorgt zu werden. Und für das Fürwahrhalten hat, ganz im Gegensatz zu bloßen Verlautbarungen, zu gelten, daß es niemals unserer willkürlichen Kontrolle unterworfen werden sollte, wie immer diese auch motiviert sein mag. Unser Überzeugtsein muß unwillkürlich erfolgen.

Natürlich werden Überzeugungen nicht selten willkürlich kontrolliert, manchmal werden sie gar erzwungen. Schlagende Beispiele hierfür sind uns aus Politik und Religion vertraut. Aber dem befangenen Denken begegnet man in seinen subtileren Erscheinungsformen auch in intellektuellen Kontexten, und eine besonders augenfällige Rolle spielt dabei namentlich der Hunger nach Gewißheit. Wen dieses Verlangen quält, der findet sich ungern damit ab, auch nur für kurze Zeit keine Meinung zu einem Thema zu haben, das ihn interessiert. Jemand mag seine Meinungen zwar häufig wechseln, sobald sich ihm eine passable Alternative einstellt, kann aber den Zustand, in dem er sich vorläufig des Urteils zu enthalten hätte, einfach nicht aushalten.

Dies kommt auf unterschiedliche Weisen zum Ausdruck, die in der Philosophie nur allzu vertraut sind. Zum einen begegnet uns hier der Hang zum systematischen Theoretisieren, eine Vorliebe für Theorien, die Schlußfolgerungen zu allem und jedem zulassen. Sodann finden wir eine gewisse Neigung zu lupenreinen Dichotomien vor, die zur Entscheidung zwischen einer richtigen und einer falschen Alternative nötigen. Und schließlich begegnet uns die Bereitschaft, eine Theorie allein schon deshalb für wahr zu halten, weil alle anderen gegenwärtig zu diesem Thema denkbaren Auffassungen bereits widerlegt worden sind. Nur ein ungezügelter Appetit auf Überzeugungen kann die Anerkennung einer Theorie aus solchen Gründen motivieren. Und eine letzte Zuflucht für jene, die damit unzufrieden sind, keine festen Meinungen zu einem Thema zu haben, denen es aber auch nicht herauszufinden gelingt, was wirklich wahr ist, besteht darin, kurzerhand festzulegen, daß es innerhalb der strittigen Gebiete ein Wahr und Falsch gar nicht gibt: Wir brauchen uns also erst gar nicht für eine Überzeugung entscheiden, sondern können entweder per Dekret behaupten, was wir wollen, solange wir dabei nur konsistent bleiben, oder über das Schlachtengetümmel irregeleiteter theoretischer Gegner hinauswachsen und es als unparteiischer Beobachter – wohl mit Interesse, aber aus sicherer Distanz – verfolgen.

In der Philosophie ist es keineswegs leichter als in anderen Disziplinen, Oberflächlichkeit zu meiden. Nur zu gern verfällt man auf sogenannte ›Lösungen‹, die vor der Tiefe und Schwierigkeit ihrer eigenen Ausgangsprobleme nicht standhalten. Dieser Tendenz kann man nur entgegensteuern, indem man sich unbeirrbar um genuine Antworten bemüht und während seines Ausschauhaltens auch eine längere Zeitdauer ohne Lösungen in Kauf zu nehmen bereit ist. Dafür muß man aber auf einen gepflegten Widerwillen gegen jedes bloße Beiseiteschieben bislang unerklärter Intuitionen zurückgreifen können und auf die Gewissenhaftigkeit, vernünftige Maßstäbe klarer Problemstellung und stimmiger Argumentation zu wahren.

Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß es für manche philosophischen Probleme so etwas wie echte Lösungen nicht geben können wird. Ich vermute, daß dies auf die tiefsten und ältesten dieser Probleme wirklich zutrifft. Sie verweisen uns in der Tat auf Grenzen unseres Erkenntnisvermögens. Aber auch in solchen Fällen können wir ein wenig profundere Einblicke nur gewinnen, indem wir uns standhaft auf das Problem einlassen – anstatt es einfach fallenzulassen – und ein Verständnis dafür ausbilden, weshalb jeder neue Lösungsversuch nicht minder zum Scheitern verurteilt war als samt und sonders alle seine Vorgänger. Aus keinem anderen Grunde studieren wir ja durchaus auch die Schriften von Philosophen wie Platon und Berkeley, deren Antworten in unseren Tagen von niemandem mehr als glaubhafte Lösungen anerkannt werden. Ein Problem ist nicht schon deshalb ein Scheinproblem, weil man es nicht zu lösen vermag.

Die im vorliegenden Band versammelten Essays sind sowohl aus der Beschäftigung mit internen, themenspezifischen als auch mit externen, übergreifenden Fragen hervorgegangen. So disparat meine Essays auch ausgefallen sein mögen, eint sie gleichwohl ein Interesse an der Perspektive des persönlichen menschlichen Lebens und an ihrem prekären Verhältnis zu diversen impersonaleren Realitätsauffassungen; und diese Schwierigkeit – sie wird im vierzehnten Kapitel in allgemeiner Form angesprochen –, kommt in allen philosophischen Disziplinen auf: von der Ethik bis hin zur Metaphysik. Die Frage nach der Stellung der Subjektivität in einer objektiven Welt motivierte gleichermaßen meine Aufsätze zur philosophischen Psychologie, meinen Essay über das Absurde und meine Beschäftigung mit moralischem Glück oder Pech. Sie stand im Zentrum meiner Interessen, seit ich begann, über Philosophie nachzudenken und bestimmt ebenso wesentlich die Probleme, mit denen ich mich auseinandersetze; wie die besondere Art des Verständnisses, das ich dabei erreichen möchte.

Einige der Essays wurden in einer Zeit geschrieben, während der die Vereinigten Staaten von Amerika an einem verbrecherischen Krieg beteiligt waren, den sie auf verbrecherische Weise führten. Das hat seinerzeit meine Sensibilität für die Absurdität meiner Beschäftigung mit rein theoretischen Fragestellungen gesteigert. Die Staatsbürgerschaft erweist sich als eine überraschend starke Bindung, selbst für diejenigen von uns, deren patriotische Gefühle nur sehr schwach ausgeprägt sind. Voller Entsetzen und Wut lasen wir tagtäglich die Zeitung und verspürten dabei andere Empfindungen als die Gefühle, die sich einzustellen pflegen, wenn man von den Verbrechen des Auslands liest. Diese Betroffenheit war es auch, die dazu führte, daß sich in den späten sechziger Jahren immer mehr Philosophen mit professionellem Ernst gesellschaftlichen Fragen zuwandten.

Philosophischer Kritik der Sozialpolitik haftet indessen noch eine ganz andere Art von Absurdität an. Ohne Frage können moralische Urteilskraft und ethische Theorie für politische Problembereiche ebensogut Geltung beanspruchen wie für Schwierigkeiten der Individualethik, doch bleiben sie auf dem Feld des Politischen bemerkenswert unwirksam: Sobald es um handfeste und machtvoll verteidigte Interessen geht, will es einem immer unmöglicher scheinen, noch etwas durch Argumente verändern zu wollen, die an so etwas wie Anstand, Menschlichkeit, Mitgefühl oder Gerechtigkeitssinn appellieren, und seien sie noch so zwingend. Von nun an müssen sich solche Argumente auch noch gegen all die primitiven moralischen Regungen durchsetzen, die mit Ehre, Vergeltung und Autoritätshörigkeit einhergehen und sich in unsererem Zeitalter eine derart wichtige Rolle anmaßen, daß es mit einem Mal nicht mehr ratsam erscheint, in seinen politischen Appellen noch aggressives Handeln verdammen und Altruismus oder Humanität verlangen zu wollen. Schließlich setzt die Wahrung der Ehre allenthalben voraus, daß man zur Aggression bereit und dazu in der Lage ist, Regungen der Humanität in sich zu unterdrücken. Doch ist der Ehrbegriff freilich flexibel genug: Gerade er könnte dereinst vielleicht auch einmal so erweitert werden, daß er konkrete Anforderungen an die moralische Integrität mit einschließt. Im Hier und Jetzt allerdings ist das moralische Bewußtsein der Öffentlichkeit von diesem moralischen Profil noch weit entfernt.

Ich bleibe daher pessimistisch im Hinblick auf theoretische Ethik als eine Art öffentlicher Dienstleistung. Nur unter sehr besonderen Bedingungen, von denen ich mir noch kein allzu deutliches Bild machen kann, vermögen ethische Argumente mit einem Mal auch auf das konkrete Handeln von Menschen Einfluß zu gewinnen. Diese Bedingungen sind es, die man in einem Durchgang durch Geschichte und Psychologie der Moralen einmal zu untersuchen hätte – zwei besonders wichtige, wiewohl unzureichend entwickelte Forschungsgebiete, die nach Nietzsche in der Philosophie kaum noch beachtet wurden.

Mit Sicherheit hat es nicht ausgereicht, bloß die Ungerechtigkeit eines Handelns und die Illegitimität einer politischen Praxis drastisch vor Augen zu führen. Menschen müßten auch soweit sein, daß sie auf die Argumente hören, und solche Bereitschaft läßt sich durch kein bloßes Argument herstellen. Ich sage dies nur, um ausdrücklich zu betonen, daß das Geschäft der Philosophie, selbst wenn sie sich mit den brennendsten gesellschaftlichen Fragen beschäftigt, allemal theoretisch bleibt, und philosophische Schriften nicht etwa an ihrer praktischen Wirkung zu messen sind. Philosophie wird stets mit großer Wahrscheinlichkeit wirkungslos bleiben und könnte allein aufgrund der Publizität ihrer Themen noch keinen Vorrang vor Forschungen beanspruchen, die für die gesellschaftlichen Probleme irrelevant sind, deren Weltverständnis dafür aber einen weitaus größeren theoretischen Tiefgang erreicht. Ich bin mir nicht sicher, ob es nun wichtiger ist, die Welt zu verändern oder sie zu verstehen, doch Philosophie jedenfalls gehört zu den Disziplinen, die man allemal besser an ihrem Beitrag zum Verständnis als am Einfluß auf den Gang der Dinge messen sollte.

Der Tod

Warum eigentlich ist es schlimm zu sterben, wenn der Tod doch das Ende unserer Existenz ist, unwiderruflich und in alle Ewigkeit?

Die Meinungen in dieser Frage gehen auffallend weit auseinander. Für manche Menschen ist der Tod etwas Schreckliches, andere hingegen haben am Tod als solchem nichts auszusetzen, obwohl auch sie sich wünschen, daß er im eigenen Fall nicht zu bald eintritt, und wenn, dann kurz und schmerzlos. Während die Vertreter der einen Anschauung die der anderen schlicht für blind halten, da sie doch das Nächstliegende nicht erkennen, sehen andererseits diese in jenen nur die bedauernswerten Opfer einer Verwirrung. Die eine Seite kann geltend machen, daß das Leben alles ist, was wir haben, und sein Verlust das schlimmste Übel, das wir überhaupt erleiden können. Die andere Seite führt an, dagegen spreche doch aber gerade, daß der Tod diesen vorgeblichen Verlust ja seines Subjekts beraubt. Sobald wir erkennen, daß der Tod nicht etwa ein unvorstellbarer Zustand einer Person ist, die womöglich nach wie vor existiert, sondern an sich schlicht – nichts, werden wir auch einsehen, daß ihm weder eine positive noch eine negative Valenz zugeschrieben werden kann.

Ich will die Frage ausklammern, ob wir in irgendeiner Weise unsterblich sind oder es überhaupt sein könnten. Deshalb werde ich mich für mein Teil mit dem Wort »Tod« oder verwandten Ausdrücken im folgenden auf den endgültigen Tod beziehen, auf jenen wirklichen Tod, der alle Formen bewußten Weiterlebens ausschließt. Ich werde diskutieren, ob der Tod an sich selbst etwas Schlechtes ist, wie groß dieses Übel gegebenenfalls ist, und von welcher Art. Dafür sollte sich sogar jemand interessieren, der an irgendeine Form der Unsterblichkeit glaubt, denn zwangsläufig hätte unsere Einstellung zu ihr zu einem Teil von unserer Einstellung zum Tod abzuhängen.

Ist der Tod ein Übel, dann nicht etwa aufgrund positiver Qualitäten, die wir ihm zuschreiben könnten, sondern allein aufgrund dessen, was er uns raubt. Die Schwierigkeiten, mit denen ich fertig zu werden versuche, entstehen im Umfeld der natürlichen Ansicht, daß der Tod deswegen ein Übel ist, weil mit seinem Eintreten all das Gute ein Ende hat, das uns das Leben bietet. Wir brauchen nicht im einzelnen darauf einzugehen, was hier mit dem Guten gemeint ist; wir sollten lediglich festhalten, daß einiges dazugehört – Wahrnehmen, Wünschen, Handeln und Denken –, das allgemein genug ist, um für das menschliche Leben als solches konstitutiv zu sein. Es ist eine weit verbreitete Ansicht, daß es sich hierbei um vorzügliche Himmelsgaben handelt, ungeachtet der Tatsache, daß es eventuell einer ausreichenden Anzahl einzelner Übel gelingen könnte, den Vorteil dieser Gaben aufzuwiegen, und daß sie Bedingungen für Freud und Leid gleichermaßen sind. Das, glaube ich, will gegebenenfalls die Bekundung ausdrücken, es sei schon gut, nur am Leben zu sein, gleichgültig wie entsetzlich das ist, was man durchmacht. Im großen und ganzen handelt es sich darum, daß es auf der einen Seite Komponenten gibt, die zu einem besseren Leben führen, wenn man sie der Erfahrung hinzufügt, und andererseits Komponenten, die der Erfahrung hinzugefügt das Leben schlechter machen. Was aber übrig bleibt, wenn man von diesen Komponenten absieht, ist eben nicht bloß neutral, es ist entschieden positiv. Deshalb ist das Leben lebenswert, selbst wenn sich die üblen Erlebnisse häufen und die guten so dürftig sind, daß sie allein keinen Ausgleich schaffen können. Den Ausschlag zum Positiven gibt dann die Erfahrung selbst, und nicht einer ihrer Inhalte.

Ich möchte hier nicht darauf eingehen, welchen Wert das Leben oder der Tod einer Person für andere haben können, und auch nicht, welches ihr objektiver Wert ist, sondern mich beschäftigt, welchen Wert der Tod für die Person selbst hat, die sein Subjekt ist. Das scheint mir der primäre Aspekt des Problems, aber auch der schwierigste zu sein. Ich möchte nur noch zwei Beobachtungen anfügen: Erstens kommt der Wert des Lebens und seiner Inhalte nicht dem bloßen organischen Überleben zu. Fast jedermann wäre es ceteris paribus egal, ob er auf der Stelle tot wäre oder nur in ein Koma fiele, das zwanzig Jahre später, ohne daß er je wieder erwacht wäre, mit dem Tod endete. Zweitens kann das Gute am Leben wie das meiste Gute durch die Zeit vervielfacht werden: je länger, desto besser. Dieser Prozeß muß keineswegs kontinuierlich vonstatten gehen (obwohl das etliche soziale Vorteile hätte). Manch einer fühlt sich von der Möglichkeit angezogen, die Körperfunktionen längere Zeit auszusetzen oder den Körper einzufrieren, um danach das bewußte Leben wieder aufzunehmen, und der Grund hierfür ist, daß er es aus der Innenperspektive einfach als Fortsetzung seines jetzigen Lebens bemerken würde. Angenommen, diese Techniken wären eines Tages weit genug entwickelt, könnte etwas, das von außen wie ein dreihundert Jahre dauernder Winterschlaf aussieht, vom Subjekt selbst lediglich als scharfer Bruch in der Kontinuität seiner Erlebnisse empfunden werden. Damit leugne ich natürlich nicht, daß auch dies seine Schattenseiten hätte. Freunde und Angehörige würden längst tot sein; die eigene Sprache könnte sich gewandelt haben; unsere komfortable Vertrautheit mit der eigenen Kultur, Geographie und Gesellschaft wäre dahin. Und doch würden diese Schwierigkeiten den grundsätzlichen Vorteil eines nunmehr fortdauernden, wenngleich diskontinuierlichen Daseins nicht aufheben.

Wenden wir uns statt den guten Seiten des Lebens den schlechten des Todes zu, so ändert sich die Lage vollständig. Es mag zwar problematisch sein, angeben zu wollen, was wir im einzelnen am Leben für wünschenswert halten, doch wird es sich dabei wesentlich um bestimmte Zustände, Bedingungen oder Aktivitätsformen handeln. Wir finden es gut, am Leben zu sein, gewisse Dinge zu tun und bestimmte Erlebnisse zu haben. Doch sofern der Tod ein Übel ist, ist es eher der Verlust des Lebens als irgendein Zustand, tot, nicht mehr existent oder bewußtlos zu sein, an dem wir etwas auszusetzen haben.1 Diese Asymmetrie ist entscheidend. Ist es gut, am Leben zu sein, kann man dieses Gut einer Person zeit ihres Lebens zuschreiben. Mithin war Bach darin reicher als Schubert, einfach weil er länger lebte. Beim Tod hingegen handelt es sich nicht um ein Übel, von dem Shakespeare bis heute eine erheblichere Portion einstecken mußte als Proust. Ist der Tod etwas Schlechtes, fällt es nicht leicht zu sagen, wann jemand eigentlich unter dem entsprechenden Nachteil leiden sollte.

Es gibt zwei weitere Anzeichen dafür, daß wir am Tod nicht bloß auszusetzen haben, daß er lange Perioden der Nichtexistenz einschließt. Wie gesagt würden erstens die meisten von uns ein zeitweiliges Aussetzen des Lebens, selbst für eine beträchtliche Zeitspanne, nicht schon per se für ein vergleichbares Unglück erachten. Sollte es dereinst einmal möglich werden, Menschen einzufrieren, ohne daß sich dadurch ihr bewußtes Leben verkürzte, wäre es im Grunde unangebracht, einen zu bedauern, der auf diese Weise eine Zeitlang aus dem Verkehr gezogen würde. Zweitens gilt ebensogut, daß keiner von uns existierte, bevor er geboren (oder gezeugt) wurde, daß jedoch kaum jemand dies jemals als Unglück empfindet. Davon wird später noch zu reden sein.

Das Faktum, daß wir uns den Tod nicht als einen unglückseligen Zustand denken, gestattet es uns, eine ebenso merkwürdige wie verbreitete Vermutung über die Ursache unserer Angst vor dem Tode zurückzuweisen. Nicht selten hört man, der Fehler all derer, die etwas gegen den Tod einzuwenden hätten, bestehe in dem Versuch sich vorzustellen, wie es sich anfühlt, tot zu sein. Man versichert, daß just dieses Unvermögen, die logische Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens einzusehen – die schlicht daher rührt, daß es da gar nichts vorzustellen gibt – das Moment sei, das zu der Überzeugung führt, der Tod sei ein mysteriöser und deshalb furchterregender künftiger Zustand. Doch kann diese Diagnose unmöglich richtig sein, und der Grund dafür ist der folgende: Es ist nicht minder unmöglich sich vorzustellen, wie es sich anfühlt, vollständig ohne Bewußtsein zu sein, wie sich vorzustellen, tot zu sein (obwohl man sich aus der Außenperspektive freilich mühelos vorstellen kann, in einem dieser beiden Zustände zu sein), und doch haben zahllose Menschen, die allerhand gegen den Tod haben, in der Regel gegen den Zustand der Bewußtlosigkeit nichts einzuwenden (jedenfalls solange damit keine entscheidende Einbuße in der Gesamtdauer ihres wachen Lebens verbunden ist).

Soll die Auffassung überhaupt einen guten Sinn ergeben, daß es schlecht ist zu sterben, so deshalb, weil das Leben etwas Gutes ist und der Tod der entsprechende Verlust oder Mangel. Zu sterben ist nicht etwa schlecht aufgrund positiv damit einhergehender Qualitäten, sondern aufgrund des negativen Sachverhalts, daß da vormals etwas Wünschenswertes war, das uns der Tod genommen hat. Ich möchte nun zu den ernsthaften Schwierigkeiten übergehen, die diese Hypothese mit sich bringt, zu Schwierigkeiten, die sich in Angelegenheiten des Verlusts und Mangels im allgemeinen und der Frage des Todes im besonderen ergeben.

Wir haben es im Wesentlichen mit drei Arten von Problemen zu tun. Zum ersten könnte man bezweifeln, daß für einen Menschen überhaupt etwas schlecht sein kann, ohne ihm wirklich unangenehm zu sein. Man mag insbesondere bezweifeln, daß es Übel gibt, die rein darin aufgehen, daß Gutes fehlt oder verloren geht, dabei aber niemanden voraussetzen, dem der Verlust etwas ausmacht. Zum zweiten tauchen im Zusammenhang mit dem Tod eine Reihe besonderer Schwierigkeiten auf, die damit zusammenhängen, wie man das vermeintliche Unglück überhaupt einem Subjekt zuschreiben kann. Es ist sowohl zweifelhaft, wer sein Subjekt ist, als auch, wann es vom Tod betroffen sein soll. Solange eine Person existiert, ist sie ja noch nicht gestorben, und wenn sie gestorben ist, existiert sie nicht mehr. Mithin scheint es erst gar keinen Zeitpunkt geben zu können, zu dem wir das Übel, das der Tod doch sein soll, seinem bedauernswerten Subjekt zuschreiben können. Und eine dritte Schwierigkeit betrifft die oben erwähnte Asymmetrie zwischen unseren Einstellungen gegenüber posthumer und pränataler Nichtexistenz: Wie kann die erstere schlecht sein, letztere aber nicht?

Man sollte sich jedoch über folgendes im klaren sein: Wären dies wirklich stichhaltige Einwände dagegen, im Tod ein Übel zu sehen, dann müßten sie sich auch auf viele andere vermeintliche Übel anwenden lassen. Die erste Art von Einwänden wird in allgemeiner Form durch das Sprichwort ausgedrückt: »Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß«. Das würde bedeuten, daß wir sogar von jemandem, der von seinen Freunden betrogen, hinterrücks verspottet und von denselben Leuten, die ihm freundlich ins Gesicht lächeln, verachtet wird, solange nicht sagen können, er sei unglücklich, wie er nicht darunter leidet. Ebensogut würde es besagen, daß derjenige nicht gekränkt wird, dessen letzter Wille vom Testamentsvollstrecker mißachtet oder über den nach seinem Tod das Gerücht verbreitet wird, das literarische Werk, das ihn berühmt gemacht habe, sei in Wahrheit von seinem Bruder verfaßt worden, der im Alter von achtundzwanzig Jahren in Mexiko gestorben sei. Es scheint mir die Frage angezeigt, welche Annahmen es in Sachen dessen, was gut oder schlecht ist, eigentlich sein sollten, die zu derart drastischen Einschränkungen führen?

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