Czytaj książkę: «Todesluft»
Todesluft
Impressum
Personenregister
Prolog
Ankunft
Das verzauberte Schloss
Eine Begegnung bei Mohnkuchen
Der geheimnisvolle Graf
Abgestürzt
Das heimliche Liebespaar
Der Hof auf dem Berg
Die Dunkelgräfin
Die Residenzen
Das Erbe des Grafen
Das Medaillon
Eine folgenreiche Entdeckung
Der Tote aus der Saale
Ein König wird gemacht
Die verschwundene Frau
Das Geschenk des Königs
Der Irrtum eines Idealisten
Die unsichtbare Spur
Georg und Radegundis
Das Geheimnis des Dr. Rahmstein
Irrlichter
Linthdorfs Pfingsten
Epilog
Über den Autor
Thomas L. Viernau
Todesluft
Linthdorfs 4. Fall
Kriminalroman
XOXO Verlag
Impressum
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
Print-ISBN: 978-3-96752-014-9
E-Book-ISBN: 978-3-96752-514-4
© 2020 XOXO Verlag
Umschlaggestaltung: Grit Richter
Coverbild: Thomas L. Viernau
Buchsatz:
Alfons Th. Seeboth
Hergestellt in Bremen, Germany (EU)
XOXO Verlag ein IMPRINT
der EISERMANN MEDIA GMBH
Gröpelinger Heerstr. 149
28237 Bremen
Alle im Roman vorkommenden Personen sind rein fiktiv. Sollte es zufällige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen geben, so ist das nicht beabsichtigt.
Personenregister
Ermittler:
KHK Theo Linthdorf, Ermittler beim Landeskriminalamt Potsdam,
zur Zeit außer Dienst, Kuraufenthalt in Thüringen
KHK Thiele, Ermittler bei der Kripo von Suhl
KOK Heilmann, Ermittler bei der Kripo von Suhl
Weitere ermittelnde Personen - Hobbydetektive:
Tom Hainkel, Journalist aus Schmalkalden
Angela Zeimitzsch, Mitarbeiterin der Thüringer Schlösserstiftung in Rudolstadt
Mitarbeiter der Thüringer Schlösserstiftung:
Dr. Winfried Rahmstein, Leiter der Stiftung bis November 2006
Dr. Knobbrich, Leiter der Stiftung seit November 2006
Dr. Konrad Hildebrandt, wissenschaftlicher Mitarbeiter
Dr. Bruno Rübsam, wissenschaftlicher Mitarbeiter
Eberhard Wulff, freiberuflicher Mitarbeiter
Dr. Milena Dragovic, freiberufliche Mitarbeiterin
Ursula Baumert, freiberufliche Mitarbeiterin
Weitere wichtige Personen:
Uwe-Hagen Dornberger, Künstler vom Tannenhof
Monsieur Blaireau und Madame Renard, zwei belgische Touristen
Die Rabenauer Schulkameraden
Zwei Ufologen vom Dolmar, die keine sind
Dr. Olaf Beutelspieß, Museumsmitarbeiter auf der Wilhelmsburg in Schmalkalden
Alfred Motschbach, Archivleiter auf Schloss Friedenstein in Gotha
Dr. Waldemar Bommerwalder, Museumsleiter auf Schloss Elisabethenburg in Meiningen
Gerti Schellenberger, Museumsleiterin auf Schloss Bertholdsburg in Schleusingen
Joachim Schaffenberger, Museumsleiter des Kyffhäuser-Museums
Iris Siegelblatt, Museumsmitarbeiterin auf Schloss Schwarzburg
Historische Persönlichkeiten:
Der Dunkelgraf
Die Dunkelgräfin
Alois Kühner, Pfarrer in Eishausen
Michel Palzfinger, ein dubioser Mensch, auf der Flucht
Weitere historische Persönlichkeiten:
Diverse Herzöge und Fürsten der Thüringer Länder
Alle im Roman vorkommenden Personen sind rein fiktiv. Sollte es zufällige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen geben, so ist das nicht beabsichtigt.
Im Herzen Deutschlands liegt ein ausgedehntes Ländergebiet, das gesegnete Fluren, blühende Städte, mäandrische Flüsse, ein hohes, höchst romantisches Waldgebirge umfasst und große, geschichtliche Erinnerungen bewahrt. Vor alten Zeiten war dieses Ländergebiet ein Königreich und hieß Thüringen. Sein Königtum versank in den Fluten des Zeitenstroms, das Land ward geteilt und zerrissen, es wurde vieler Herren Länder daraus, aber der alte Name blieb und lebt unaustilgbar fort.
Ludwig Bechstein
Thüringen ist und bleibt … mir der liebste Strich in Deutschland. Es ist so etwas Heimisches, Befreundetes in dem Boden; wie ein alter herzlicher Jugendfreund heißt er den Wandrer willkommen. Wenn man durch die freudenleere Leipziger Fläche sich müde und matt hindurchgearbeitet hat, dann empfängt den Pilger das freundliche Land mit seinen tausendfach wechselnden Reizen. Die Natur entfaltet sich mit jedem Schritt immer reicher, kühner, üppiger. Ich sagte Dir schon, die Bäume bekämen ein ganz andres Grün, so wie man Thüringens Boden betritt. Herrliche Berge krönen das Land mit unverwüstlichen Wäldern; romantische Gründe laden zu fröhlichem Lebensgenuss; kühne gigantische Felsen predigen mit ewiger Begeisterung die Allmacht der Natur und enthüllen auf kolossalen Blättern die urälteste Geschichte der Erde und das tiefe Wunder ihrer ewigen Metamorphose.
Über dem ganzen Lande schwebt der Geist der Vorzeit noch mit hörbarem Flügelschlag und mit prophetischen Stimmen; das Werk der Gewaltigen ist nicht dahin, in himmelanstrebende Bäume und Felsen ist es aufgegangen, aus den schauervollen Ruinen redet noch Heldenkraft und Ritterliebe in vernehmlichen Tönen. Manche Quadratmeile Thüringer Boden ist mehr wert, ist denkwürdiger, als die ganze Mark Brandenburg samt Pommerland.
Friedrich Gottlob Wetzel
Prolog
Rudolstadt
Montag, 27. November 2006
Das Wochenende war viel zu schnell vergangen. Der Mann, der sich gerade vor dem Spiegel kämmte, hatte einen flüchtigen Blick über den Spiegel nach hinten geworfen. Da lag sie, schön wie von Gott geschaffen. Weiße Haut, samtig weich, die blonden Haare wie eine Aureole um den Kopf, die Augen, die sonst immer etwas skeptisch blickten, waren noch geschlossen.
Seufzend riss er sich von dem friedlichen Bild los. Er hatte nicht mehr viel Zeit. Noch zwei Stunden bis zum Wochenbeginn. Um neun Uhr wurde er bereits zu einem ersten Termin erwartet. Oben auf dem Schloss. So nannte er kurz seine Arbeitsstätte.
Einfach das Schloss.
Es war ja auch wirklich ein Schloss, und was für eins. Eines der größten in Thüringen. Wenn man noch dazu wusste, dass die Erbauer dieses Monstrums gerade mal über ein Ländchen verfügten, nicht größer als ein Drittel Luxemburgs, dann kam man schon ins Grübeln.
Heutzutage, da war er sich ganz sicher, wäre so ein gewaltiger Profanbau unmöglich. Die Prioritäten hatten sich gewandelt. Es gab neue Renommierstücke, um zu punkten. Superschnelle Autobahnen, Flughäfen, gewagte Brückenkonstruktionen, naja, alles eben immer dem Funktionalen unterworfen.
Ein Blick nach draußen genügte, um die Stimmung zu dämpfen. Strömender Novemberregen hatte seit zwei Wochen die gesamte Natur mit seinen Wassermassen gepiesackt. Die Saale war zu einem schmutzig braunen Strom angeschwollen. Nichts erinnerte bei ihrem Anblick mehr an den klaren, friedlichen Fluss des letzten Sommers. Überall waren riesige Pfützen entstanden. Das Erdreich war wasserdurchtränkt, gesättigt von den Regenmassen, konnte kein Wasser mehr aufnehmen. Auch die Straßen waren zu glitschigen Schleuderbahnen geworden. Die Nachttemperaturen lagen manchmal schon unter Null.
Der Weg hinauf zum Schloss, eigentlich eine nette Fitnessübung, mutierte zu einem Schlammparcours. Sollte er wirklich?
Sein Haus lag direkt am Fuß des Schlossbergs. Normalerweise lief er den kleinen Weg mit den eingebauten Treppen täglich hinauf. Es waren nur fünf Minuten. Er sah auf seine frischgeputzten Schuhe und entschied sich, doch den Wagen zu nehmen. Das dauerte auch nicht länger, obwohl die Straße hinauf in ein paar großen Kurven weit ausholen musste.
Der Wagen parkte glücklicherweise direkt vorm Haus. Schnell war er im Wagen, steckte den Zündschlüssel ins Schloss und betätigte den Hebel für die Scheibenwischeranlage. Das Wasser lief in kleinen Sturzbächen vom Dach.
Der Montagmorgen hatte erst begonnen, war noch im trüben Dämmerlicht des Novembertags gefangen. Die Straßenlaternen verbreiteten ihr diffuses Licht, dass sich auf dem dunkel schimmernden Asphalt brach und helle Flecken erzeugte. Kaum eine Menschenseele war unterwegs. Die Stadt schlief noch.
Er mochte diese frühe Zeit, die blaue Stunde des Übergangs. Sie hatte etwas Magisches. Keine Nacht mehr, aber noch nicht Tag. Die Gedanken über die blaue Stunde sollten seine letzten normalen Gedanken sein. Gerade als er seinen Wagen auf dem weitläufigen Schlosshof parkte, löste sich ein dunkler Schatten von der lichtabgewandten Seite des Flügels.
Nur wenige Sekunden brauchte der Schatten, bis er dem Mann, der umständlich seinen Mantel und Regenschirm aus dem Wagen holte, präzise eine Injektionsspritze in den Hals rammte. Die Spritze war mit nichts gefüllt.
Es war Luft, was er dem Mann mit großer Kraft in die Halsschlagader injizierte. Die Kanüle war dünn, unter 0,6 Millimeter, das spürte man kaum. Ein winziger Schmerz nur. So schnell er die Injektion gesetzt hatte, so schnell zog er die Nadel auch wieder heraus. Es gab nicht mal einen Blutstropfen, der an der winzig kleinen Eintrittswunde austreten konnte. Der Kanal war einfach zu klein.
Der soeben noch vital wirkende Mann wandte sich um. Der Schatten verschwand wieder im diffusen Licht der Laternen, wurde eins mit der Fassade.
Am Fenster des beleuchteten Nordflügels waren für einen kurzen Moment die Silhouetten zweier Männer zu sehen, die den Vorfall beobachteten.
Etwas war geschehen.
Er spürte es.
Sein Herz, sein Herz …, es begann unruhig zu schlagen. Irgendetwas bewegte sich in seinem Inneren auf das unruhig schlagende Herz zu. Als ob es ahnte, dass es damit nicht fertig werden würde. Es waren fünfzehn Milliliter Luft, komprimiert in kleinen Bläschen, die sich ihren Weg durch die Blutbahnen suchten.
Nach wenigen Sekunden brach der Mann einfach zusammen. Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen. Es sah aus wie ein natürlicher Schwächeanfall. Noch eine ganze Stunde würde vergehen, bis der Mann gefunden wurde.
Zu spät für Wiederbelebungsmaßnahmen. Seine Körpertemperatur war bei dem kühlen Novemberwetter bereits zu weit abgesunken. Das Blut kam zum Stillstand, keine Pumpe war mehr da, dass es in die entlegensten Winkel seines Körpers schickte. Der Mann war tot.
Ankunft
Määi schätze onse Geest sähr hooch, doch Hüts unn Broate höcher nooch. Bääi so enn gute Sonntichsässe tutt me de trurich Ziet vergässe.
Spruch auf einem Liebensteiner Notgeldschein von 1921
Bad Liebenstein
Mittwoch, 2. Mai 2007
Die Reise war, abgesehen von der kleinen Verspätung und dem zweimaligen Umsteigen, angenehm. Linthdorf war schon lange keine Bahn mehr gefahren. Als passionierter Autofahrer waren für ihn die Straßen die wichtigsten Verkehrsadern. Doch jetzt musste er mit dem Zug fahren, besser gesagt mit drei verschiedenen Zügen. Damit verbunden ein dauerndes Treppauf-Treppab in den Bahnhöfen, die ihn gar nicht mehr an Bahnhöfe, sondern eher an Einkaufszentren mit Gleisen erinnerten.
Seinen geliebten SuV musste er in Berlin lassen. Striktes Fahrverbot seitens der Ärzteschaft. Er solle sich erst einmal regenerieren und dann sähe man weiter …
Apathisch nahm er dieses Statement der Götter in Weiß entgegen. Es nutzte sowieso nichts dagegen zu rebellieren. Streng, aber höflich wurde ihm stets bedeutet, dass er gerade dem Tod von der Schippe gesprungen sei und mit der Aussicht, in Bälde wieder ein vollkommen genesener Mensch zu sein, er sich doch gefälligst an die Vorgaben der Mediziner zu halten habe.
Linthdorf seufzte. Natürlich, sie hatten ja recht. Mit einem Hinterwandinfarkt war nicht zu spaßen.
Vier Wochen lag er im Krankenhaus, vier lange Wochen, gefesselt ans Bett, angeschlossen an diverse Schläuche und Maschinen, die seinen Herzschlag, den Blutkreislauf und die Atmung kontrollierten. Anfangs kam er sich wie in einem surrealistischen Film von Bunuel vor. Alles wiederholte sich und die gerade durchlebten Situationen wurden immer realitätsfremder. Doch irgendwann nach ein paar Tagen hatte er sich mit der traurigen Tatsache abgefunden, dass er selbst es war, der jetzt im Krankenbett lag und dem Klang der Maschinen lauschte. Schmerzhafte Erinnerungen an die Wochen vor Weihnachten wurden wieder wach.
Louise …, seine arme Louise. Nun war sie tot, lag unter der Erde in einem Sarg aus Eschenholz. Jeder Gedanke an sie bereitete ihm Schmerzen, sein Herz war gebrochen.
Der Infarkt war nach den Turbulenzen des Jahreswechsels fast eine logische Folge. Louises Tod, der Skandal, der fast die halbe Landesregierung zum Rücktritt zwang, die grausamen Morde an den Arkadiern, Krespels Selbstmord und die Verstrickungen seiner eigenen Behörde in die Affaire – alles zusammengenommen etwas zu viel für ein einzelnes Herz.
Linhdorfs Herz, bereits angeschlagen durch die beiden großen Ermittlungen im alten Jahr, schlug immer heftiger, pochte schmerzhafter, umso mehr die Vorfälle ihn persönlich trafen.
Er wollte es sich nicht eingestehen, aber es schien so, als ob die Ermittlungen ihn jedes Mal mehr überwältigten, gleich den großen Wellen am Strand. Sie brachen über ihm, schütteten Unmengen von Wasser aus, so dass man kaum Zeit zum Atmen bekam und nach wenigen Sekunden entlud sich der nächste Brecher.
Die Nixenmorde, allesamt im Winter des vergangenen Jahres begangen, hatten ihn schon stark in Mitleidenschaft gezogen, im Herbst die Vorgänge um das Gut Lankenhorst, die mit der unseligen Verfolgungsjagd in den leerstehenden Gebäuden der Geistersiedlung Bogensee endeten und die ihm die gerade beginnende Hoffnung auf ein persönliches Glück, eben seine Louise, auf brutale Weise nahmen, waren eigentlich schon genug.
Doch was sich dann zum Jahreswechsel ereignete, raubte ihm den Rest der noch verbliebenen Energie.
Linthdorf war leergebrannt, völlig am Boden. Nur mit äußerster Anstrengung konnte er die Ermittlungen zu Ende führen. Dann kam der Crash. Erst im Krankenhaus spürte er, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Plötzlich war er ein alter Mann geworden, schwach, schlapp, antriebslos.
Er vegetierte die ersten Wochen vor sich hin, stierte an die Decke seines Krankenzimmers, registrierte kaum, wenn jemand kam und fühlte sich vollkommen überflüssig.
Nach und nach kamen die Lebensgeister wieder zurück. Die Ärzteschaft hatte den Infarkt als Folge einer totalen physischen und psychischen Erschöpfung diagnostiziert. Was er denn vom Beruf sei?
Ach, Kriminalist, dann wäre das ja kein Wunder …
Auf alle Fälle würde eine Kur das Richtige sein, um ihn wieder arbeitsfähig … und überhaupt, es wäre fraglich, ob er nach diesem schweren Infarkt noch in dem Beruf arbeiten könne.
Linthdorf musste schlucken, als er die Prognose gesagt bekam. Was sollte er sonst machen? Invalidenrentner? Mit 47 Jahren? Jeden Tag Enten füttern gehen? Sich mit anderen Rentnern und Versehrten auf Parkbänken treffen?
Etwas ratlos war er schon. Dann kam eine freundliche Dame mit mütterlichen Zügen zu ihm, strahlte ihn an und eröffnete ihm, dass er zu einer sechswöchigen Kur ins thüringische Bad Liebenstein fahren solle. Das wäre wohl so etwas wie ein Sechser im Lotto. Also, die Luft in Thüringen, die sei ja noch so was von rein und sauerstoffhaltig, das spüre man sogar auf der Zunge. Die Lungen würden da ganz anders arbeiten, und das Herz, ja, das wäre dankbar für jeden Atemzug mit dem die gute Thüringer Luft in den Körper ströme.
Kur wäre ja nicht gleich Kur, also da gäbe es gewaltige Unterschiede. Aber Bad Liebenstein in Thüringen, also das wäre doch schon etwas Besseres.
Ob er denn schon einmal davon gehört habe?
Nein, ach wie schade. Naja, sie habe auf alle Fälle ein paar bunte Prospekte mitgebracht, da könne er sich schon einmal vertraut machen. Also, das wäre mehr ein Urlaub denn eine Kur!
Mein Gott, was für ein Glück, denn Bad Liebenstein liege im grünen Herzen Deutschlands, im wunderschönen Thüringen …
Linthdorf verband mit dem Bundesland Thüringen nicht viel. Er wusste, dass es existierte, mehr auch nicht. Selten hatte er mit Kollegen aus Thüringen zu tun, so gut wie nie war er dort unterwegs. Einmal, erinnerte er sich, war er zu einer Fachtagung in Erfurt, der thüringischen Hauptstadt. Aber von der Stadt hatte er damals nicht viel mitbekommen. Außerdem war das schon viele Jahre her.
Noch im Krankenhaus blätterte er lustlos in den bunten Faltblättchen und Prospekten, die ihm von der mütterlichen Dame überlassen worden waren.
Fachwerkhäuser vor sattgrünen Bergen, darüber ein makellos blauer Himmel, Täler mit tiefblauen Flüssen, Eichhörnchen und Spechte, Hirsche und Rehe und riesige Barockschlösser, alte Burgen und Ruinen. Verwirrend viele Städtenamen, die ihm allesamt irgendwie bekannt vorkamen, mit denen er jedoch keine Bilder assoziieren konnte.
Weimar, Gotha, Jena, Arnstadt, Rudolstadt, Gera, Meiningen, Mühlhausen, Saalfeld, Altenburg, Nordhausen, Greiz, Schleiz, Suhl … Mein Gott, wer sollte sich da denn zurechtfinden!
Ein Prospekt warb mit der besonderen Thüringer Luft. Es war der Thüringer Heilbäderverband, der die Wirkung der Bergluft auf den Körper erforscht hatte:
»Luft, das unsichtbare Lebenselixier … Das milde Mittelgebirgsklima Thüringens zeichnet sich durch deutlich abgeschwächte Höhenreiz- und Strahlungsfaktoren aus. Das Waldklima ist therapeutisch von großer Bedeutung, da es besondere Schonfaktoren besitzt …« Linthdorf musste gähnen und legte den informativen Prospekt zur Seite.
Und wo lag nun Bad Liebenstein? Er zog eine Landkarte zu Rate. Bad Liebenstein war nicht groß, ein klassisches Kurstädtchen im westlichen Thüringer Wald, unweit der Städte Eisenach und Schmalkalden.
Er würde dort in einem der berühmten Sanatorien, die auf Herzleiden spezialisiert seien, einen Platz bekommen. Aber erst müsse er wieder auf die Beine kommen. Linthdorf verbrachte den Januar und den Februar im Krankenhaus. Mühsam erholte er sich von den Folgen des Infarkts. Mühsam waren die ersten Schritte, mühsam war sein Aufbruch ins neue Leben.
Physisch war er inzwischen wieder recht gut wiederhergestellt, sein Seelenleben jedoch … Aber das ging niemanden etwas an, damit musste er allein klarkommen. Wem auch sollte er von seinen Ängsten und Nöten berichten? Bisher war es ja immer so, dass alle anderen mit ihren Problemen zu ihm kamen.
Nun war er also angekommen. Es war genau wie in dem bunten Hochglanzprospekt. Bad Liebenstein empfing ihn mit bunten Fachwerkhäusern, saftig grünen Bäumen, Vogelgezwitscher und über allem ein makellos blauer Himmel.
Linthdorf atmete tief durch. Tatsächlich, die Luft war anders hier! Schärfer, klarer, kälter. Und auf der Zunge hatte er diesen seltsam waldartigen Geschmack, angesiedelt zwischen Fichtennadelschaumbad und feuchtem Moos.
Am Bahnhof wartete bereits ein Shuttleservice auf ihn. Ein freundlicher Mann nahm ihm seinen Koffer ab, bugsierte ihn in den Kleinbus und kutschierte ihn dann zum Sanatorium.
Linthdorf staunte nicht schlecht, das Städtchen bestand zum größten Teil aus Sanatorien, allesamt ziemlich groß und einige davon sogar schon altehrwürdig. Hier wurde schon lange gekurt.
Sein Zimmer war groß. Sogar ein Balkon gehörte dazu. Wenn er auf dem Balkon stand, konnte er auf dem gegenüber liegenden, dicht bewaldeten Bergrücken eine kastenförmige Burgruine erkennen. Das war der Liebenstein, Namensgeber für die kleine Stadt, die sich unterhalb des Berges angesiedelt hatte.
Das Aufnahmegespräch war kurz und bündig. Einen Plan hatte er auch schon bekommen, der Kurbetrieb war straff organisiert. Es gab zahlreiche Anwendungen, von Wassergymnastik angefangen über Wanderungen in die Umgebung bis hin zu gemeinsamen Abendveranstaltungen. Linthdorf kam ins Schwitzen. Eine Kur war eben kein Urlaub.
Er unterhielt sich mit ein paar anderen Kurpatienten auf dem Gang. An den wenigen freien Nachmittagen konnte man in eines der zahlreichen Cafés des Städtchens. Thüringer Kuchen sei ja wohlbekannt, und andere kulinarische Spezialitäten wären auch zu empfehlen.
Es gab sogar eine hauseigene Bibliothek. Linthdorf hatte bereits einen Stapel Bücher ausgeliehen. Nachts lag er oft schlaflos in seinem Bett, die Bilder des vergangenen Jahres holten ihn dann immer wieder zurück in einen seltsamen Dämmerzustand. Er lag mit geschlossenen Augen da, spürte die Müdigkeit, konnte aber nicht in den erholsamen Tiefschlaf fallen.
Die Bilder hielten ihn wach. Die toten Frauen in den eisigen Flüssen, die Kadaver der Kraniche, der abgetrennte Kopf des jungen Quappendorf, Stahlmanns sinnloses Opfer am Finowkanal, die arg zugerichtete Griseldis Blofeld, die wimmernd am Boden lag, der tote Felgentreu im Räucherofen und der aus den Apfelmieten herausragende Arm des toten Ziegenhals, Louise leblos im Keller in Bogensee, Louise an den Schläuchen in der Charité, der tote Brackwald im Hellsee, der unglückliche alte Quappendorf, der von der »Weißen Frau« heimgesucht wurde. Zu viel Leid, zu viel Tod.
Vielleicht war er ja wirklich nicht mehr für den Beruf geeignet. Mit Voßwinkel hatte er sich darüber unterhalten. Doch Voßwinkel schien davon nichts wissen zu wollen. Er war der Meinung, dass es einfach eine unglückliche Häufung von privatem und beruflichem Stress war, die zu seiner Auszeit geführt habe.
Jetzt war Linthdorf erst einmal weit weg von den Schauplätzen des letzten Jahres. Vor sich das Städtchen Liebenstein im besten Maiengrün, am Himmel ein paar Federwölkchen, Vogellärm und vor sich ein Getränk namens Vita-Cola. Durch Zufall hatte er die tiefschwarze Limonade entdeckt. Ein Großplakat am Bahnhof warb für das Getränk. Es sei der Geschmack Thüringens. Linthdorf kaufte sich am kleinen Kiosk am Bahnhof also eine Vita-Cola.
Wow! Kein Vergleich zu den anderen Colas. Sie schmeckte herber, zitroniger, nicht so klebrig süß. Koffein satt! So konnte man es aushalten im Kurbetrieb. Vorsichtig nippte Linthdorf an dem Glas. Dann atmete er wieder tief durch. Die klare, kühle Thüringer Luft umfing ihn.