Czytaj książkę: «Krähwinkeltod»
Krähwinkeltod
Impressum
Personenregister
Prolog
Das Dorf
Ende der Schonzeit
Das leere Haus
Drei Unfälle
Misstrauen
Das Manöver
Panik
Der Koloss
Spurensuche
Neue Zeiten
Codename Parzival
Im Banne des Uranus
Das Versteck
Sturmnacht
Die Rückkehr der bösen Geister
Auslöschung
Das Vorwerk
Totentanz
Erlösung
Epilog
Über den Autor
Thomas L. Viernau
Krähwinkeltod
Linthdorfs 5. Fall
Kriminalroman
XOXO Verlag
Impressum
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
Print-ISBN: 978-3-96752-015-6
E-Book-ISBN: 978-3-96752-515-1
© 2020 XOXO Verlag
Umschlaggestaltung: Grit Richter
Coverbild: Thomas L. Viernau
Buchsatz:
Alfons Th. Seeboth
Hergestellt in Bremen, Germany (EU)
XOXO Verlag ein IMPRINT
der EISERMANN MEDIA GMBH
Gröpelinger Heerstr. 149
28237 Bremen
Alle im Roman vorkommenden Personen sind rein fiktiv. Sollte es zufällige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen geben, so ist das nicht beabsichtigt.
Personenregister
Ermittler:
KHK Theo Linthdorf, Ermittler beim Landeskriminalamt Potsdam
Kriminalrat Dr. Nägelein, Vorgesetzter Linthdorfs
KOK Petra Ladinski, Ermittlerin beim Landeskriminalamt Potsdam
Kriminalrat Bogumil von Katz, Chef der Wittstocker Polizeidienststelle
KOK Schwertfeger, Ermittler in Wittstock
KOK Kehl, Ermittler in Neuruppin
Dorfbewohner:
Herbert Golm, pensionierter Lehrer und Hobbyastronom
Erhard und Gisela Kappenbach, Rentnerehepaar
Marius und Silke Kappenbach, Sohn und Schwiegertochter, beide Angestellte in der Verwaltung
Irene Flumming, ehemals Verkäuferin, Witwe
Karl und Elli Lehmbeck, Bauern, schon gestorben
Dorchen Lehmbeck, deren Tochter, lebte in Neuruppin, bereits vor sieben Jahren mit dem Auto verunglückt
Enrico Lehmbeck, Sohn von Dorchen Lehmbeck, Herumtreiber und Kleinkrimineller
Günther und Almtrud Weidenbaum, Frührentner
Simone Weidenbaum, deren Tochter und Versicherungssachbearbeiterin
Giovanni, deren etwas zu klein geratener Liebhaber
Heidemarie Gontschorek, alleinerziehende Mutter von zwei Söhnen, Pflegedienstmitarbeiterin
Familie Jesko und Wanda Kleinschmidt, leben auf dem Bauernhof, Maurer und Hausfrau, haben drei Söhne
Boris und Nancy Kleinschmidt, Geschäftsleute, Naturliebhaber, haben eine Tochter
Karlheinz und Gundula Kruse, Architekt und Bankfilialleiterin
Ernst und Elvira Flachbein, Rentner und Hobbylandstreicher
Paul und Wally Wüllersbarth, Rentner, Alkoholiker
Reinhard Bachhorn, verwitweter Pensionär, Kettenraucher, ehemals Funktionär in der Kreisleitung
Trude Leimdank, verwitwete Konditorin
Siegbert und Irmtraud Schallert, beide noch berufstätig
Frieda Humprecht, verwitwete Fleischermeistergattin
Klaus und Minni Spengelrath, Fleischereibesitzer
Tina Vasquez-Heumann, Nagelstudio-Besitzerin
Militärangehörige der GSSD, Gentzrode:
Oberst Saweli Pankratow, stationiert in Gentzrode
Leutnant Juri Tichomirow, Panzerkommandant
Sergeant Waleri Stashenko, Richtschütze
Sergeant Ruweli Mkrschjan, Panzerfahrer
Weitere Personen aus dem Umfeld:
Peggy, Fahrerin des mobilen Bäckershops
Guido Linhardt, Forellenzuchtmeister in Rägelin
Willi Schaperow, pensionierter Polizist aus Wittstock
Familie Baierstedt, Rentner im Klosterstift Lindow
Alle im Roman vorkommenden Personen sind rein fiktiv. Sollte es zufällige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen geben, so ist das nicht beabsichtigt.
Prolog
Krähwinkel
… ist ein fiktiver Ort, der zum ersten Mal in einer Satire von Jean Paul im Jahr 1801 auftauchte. Heinrich Heine verwendete ihn und auch August von Kotzebue, ein inzwischen fast vergessener Dramatiker, verwendete diesen Ort 1803 und 1809 in zweien seiner Stücke. Krähwinkel gilt als eine zutiefst spießbürgerliche Kleinstadt und wird manchmal als Vergleich herangezogen, um zu verdeutlichen, dass man einen Ort für ein langweiliges, spießiges und rückständiges Provinzstädtchen hält.
Begriffserklärung aus der Wikipedia 2017
Krähen im Winter
Krah, krah! Unüberhörbar melden sie sich zu Wort.
Krah, krah! Hallt es über die Felder fort.
Krah, krah! Voller Freude über ihre Gegenwart,
kritzel‘ schwungvoll Krähen auf mein Skizzenblatt.
Krah, krah! Krähen gehören im Winkel dazu,
bringen Leben in die öde Ruh.
Krah, krah! Gehören mit ins Bild, ob halb zahm oder wild,
ob zahlreich oder als einsame Kräh‘ im Schnee,
begleiten sie mich quer durchs Land.
Krah, krah! Hüpfen vor mir im Sand, blinzeln wissend herüber.
Krah, krah! Mit schiefgelegtem Schnabel:
Na, mein Lieber? Kommste wieder?
Krah, krah! Na klar … übers Jahr.
Ruppiner Heide
Mittwochnacht, 26. September 2007
Die Person lief nun schon fast zwei Stunden durch die Finsternis. Nur das leise Keuchen ihres Atems war zu vernehmen. Ab und zu knackte ein kleiner Ast, auf den sie trat, aber das war auch alles. Viel war nicht zu erkennen, die Person hatte ein dunkles Kapuzenshirt angezogen und die Kapuze über den Kopf gezogen. Sie vermied es, auf dem kleinen Pfad zu laufen. Die klare Sternennacht beleuchtete halbwegs ausreichend die Lichtungen und Wege. Nur im Schutz der Bäume war man wirklich unsichtbar. Die Person wusste das.
Vielleicht fünfhundert Meter entfernt lief eine andere Person ebenfalls im Schutz der Bäume, mit schnellen Schritten der Spur der ersten Person folgend. Auch diese Person war dunkel gekleidet. Woher sie kam, war schwer festzustellen. Möglicherweise gehörte sie zu dem verlassenen Auto, das vorn auf der Fernverkehrsstraße stand. Die Straße verlief hier schnurgerade durch ein ehemaliges Militärsperrgebiet.
Vor zwanzig Jahren rollten die russischen Panzer durchs Gelände, übten für den Ernstfall, um dann jedoch glücklicherweise beim wirklich eingetretenen Ernstfall im November des Jahres 1989 friedlich in ihren Unterständen zu bleiben.
Noch weiter in dem nur spärlich mit niedrigen Bäumchen bewachsenen Gelände solle es bis heute noch Minen und Blindgänger geben. Der Räumdienst käme so schnell nicht voran und das Gebiet erwies sich für die Spezialisten als zu groß und schlecht zugänglich. Das Betreten des Geländes war daher strikt verboten.
Die beiden Personen, die sich im Schatten der Bäume bewegten, wussten. Mit einer gewissen Unbekümmertheit folgten sie jedoch den ausgetretenen Pfaden, die von den Soldaten bei ihren Manövern angelegt worden waren.
Plötzlich lichtete sich der Kiefernwald. Vor den beiden Personen lag eine endlose, offene Hügellandschaft, nur bedeckt von Feldern und ein paar vereinzelt stehenden Büschen. Eine denkbar ungeeignete Gegend um sich zu verstecken.
Dennoch lief die eine Person geduckt hinaus ins Offene, hoffend, dass der Verfolger dieses Manöver nicht mitbekam. Ein dunkler Schatten bewegte sich auf dem abgeernteten Feld vorwärts.
Am Waldesrand stand die andere Person und spähte ins Land. Nichts war zu erkennen, was eine flüchtende Person sein könnte. Ein leichter Wind hatte eingesetzt, blies die trockene Erde vom Feld in die Luft, so dass ein Staubnebel entstand, der sich über dem offenen Land ausbreitete. Der Verfolger musste seine Augen zusammenkneifen. Staub machte es unmöglich, die Augen offen zu halten. Irgendwo schräg voraus schien der Staub etwas dunkler zu sein. Als ob sich im Schutz des Staubs etwas bewegte. Da war sie wieder, die dunkle Gestalt, klar und deutlich war sie gegen den hellen Sternenhimmel zu sehen.
Leichtfüßig folgte die Person dem dunklen Schatten im Staub. Es war kurz vor drei Uhr nachts. Eine Straße querte die Felder. Die fliehende Person rannte jetzt auf der Straße entlang. Sie hatte Panik bekommen. Nichts hatte geholfen, den Verfolger abzuschütteln. Er blieb einfach an ihr haften. Möglicherweise schaffte sie es ja, wenn sie einfach nur schnell genug rannte. Der Atem ging stoßweise. Seitenstechen setzte ein. Die fliehende Person wurde langsamer, pausierte. Der Atem normalisierte sich.
Ein Blick nach hinten genügte, da war sie wieder, die dunkle Gestalt, die einfach nicht verschwinden wollte.
Vorn wurden ein paar Häuser sichtbar.
War hier etwa schon das Dorf?
Mitten in der größten Einöde gab es wirklich ein Dorf. Nicht groß, eher bescheiden, nur eine Handvoll Häuser, keine Kirche, nichts Bemerkenswertes. Wenn, ja, wenn man es bis dorthin schaffen würde, dann könnte man sich wirklich verstecken.
Mit der letzten Energie rannte die Person im dunklen Kapuzenshirt los. Doch es war zu spät. Hinter sich spürte sie schon den heftig keuchenden Atem des Verfolgers. Nur noch wenige Meter waren es jetzt. Eine Frage von Sekunden. Durch das Gehirn jagten alle möglichen Optionen. Keine war wirklich gut. Es blieb nur noch die allerletzte Option. Das Messer.
In der Tasche des Kapuzenshirts war es verborgen, zusammengeklappt. Ein Handgriff genügte um es herauszuholen und aufzuklappen. Oft schon hatte die dunkle Gestalt im Kapuzenshirt damit geübt.
Beim Herumdrehen bemerkte die Person, dass der Verfolger ebenfalls auf die Idee gekommen war, ein Messer zu zücken.
Dann ging alles sehr schnell. Ein durchdringender Schrei entrang sich der Kehle des Getroffenen. Das Messer lag auf der Straße, zu weit weg, um Widerstand leisten zu können. Blut spritzte im hohen Bogen aus der aufgeschlitzten Schlagader. Der Mund füllte sich mit Blut, heftig atmend blickte die Person in den klaren Sternenhimmel, spürte das immer schwächer werdende Pochen des Herzens und den nahen Tod.
Er kündigte sich an durch ein kälter werdendes Gefühl in den Füßen, dann in den Beinen und Armen, schließlich im ganzen Körper. Das Leben floss stoßweise aus dem Körper heraus. Das letzte, was die verblutende Person am Straßenrand sah, war der dunkle Schatten der anderen Person, die sich jetzt über sie beugte und sie stumm anstarrte.
Nur hundert Meter weiter war das erste Haus der kleinen Siedlung zu sehen. Der Schrei war laut und durchdringend, aber in den Häusern blieb es dunkel. Niemand hatte etwas gehört.
Aufgeschreckt von dem Schrei flatterten ein paar Krähen verstört davon. Sie hatten wohl ihr Nachtlager direkt in dem kleinen Apfelbaum am Straßenrand. Niemand kümmerte sich um ihr ärgerliches Gekrächze.
Das Dorf
Weit draußen in der Ostprignitz spärlich besiedeltes Land,
Dörfchen, verstreut wie Inseln im endlosen Feldermeer,
fast vergess‘ne Leuchtfeuer der Zivilisation,
einsame Höfe recken sich empor.
Sind sie noch bewohnt? Und wenn ja, von wem?
Wer hält es hier draußen aus?
Bei einem Pott Kaffee und einem Stück Streuselkuchen sitzend,
beobachte ich Hühner und Enten beim Suchen nach Futter,
mümmelnde Karnickel zupfen Kräuter im Garten,
ein Radio leise dudelt, Zeit vergeht wie im Fluge,
lässt keine Gedanken an Einsamkeit aufkommen.
I
Das Dorf, Haus Nr. 12
Mittwochnacht, 26. September 2007
Der Übergang zwischen dem Ruppiner Land und der Prignitz wird als Ostprignitz bezeichnet. Nicht ganz so dünn besiedelt wie der westliche Teil der Prignitz, aber immer noch an die Grafschaft Ruppin erinnernd. Die Dörfer sind gepflegt und die Entfernungen zwischen ihnen erträglich. Hier tobte im Dreißigjährigen Krieg eine der größten Schlachten. Danach war die Gegend entvölkert.
Ein Hauch von Prignitz zieht seitdem durchs Land. Alles ist flach und starker Wind pfeift ausreichend. Windräder ragen in jeder Richtung in den Himmel. Die Ostprignitz gibt sich unspektakulär und bescheiden.
Die Septembernacht war schon kalt. Der Herbst kündigte sich mit kühlen, klaren Nächten an. Ideale Nächte zum Sternegucken.
So nannte er seine heimliche Leidenschaft, die ihn, den Schlaflosen, nächtelang auf dem ausgebauten Dachboden in den Himmel starren ließ. Er hatte zwei Fernrohre aufgebaut, beides teure Präzisionsgeräte, die es ihm ermöglichten, weit in die Tiefe des Weltalls zu blicken, Planeten zu beobachten, Mondlandschaften zu studieren und den Lauf der Sterne zu bewundern.
Die ganze Woche war es schon so kalt und klar des Nachts. Vor sich hatte er diverse Astrokalender aufgeschlagen, in denen die Positionen der Planeten genau beschrieben waren.
Er suchte den Saturn, der sollte gerade jetzt im späten September gut zu beobachten sein. Ein paar Mal hatte er ihn schon ins Visier genommen. Das Fernrohr gestattete ihm eine Auflösung, die sogar das Ringsystem um den Planeten sichtbar machte.
Ein gelblich schimmerndes Scheibchen mit einem hellen Kreis, der sich schräg darumlegte. Schon seltsam, was sich die Natur für Objekte einfallen ließ.
Aus der Nähe könnte man sehen, dass es keine Ringe waren, sondern kleine Eispartikel, die von der Gravitation des Gasriesen auf diese sonderbare, ringförmige Bahn gezwungen wurden. Astronomen nahmen an, dass es wohl ein ehemaliger Mond gewesen war, der dem Planeten zu nahekam und von dessen Gravitation zerrissen wurde. Saturns Monde waren größtenteils Eiswelten. Gefrorenes Methan. Bizarre Welten mit Eisvulkanen und Nebelwolken aus Ammoniak. Überhaupt, da draußen in den Weiten des Weltalls schien alles nur noch aus gefrorenen Gasen zu bestehen. Ungemütliche Orte.
Fröstelnd zog er sich für einen Moment von seinem Beobachterposten zurück. Er schaute auf seine Uhr. Es war kurz nach drei Uhr nachts. Aus seiner Thermoskanne goss er sich einen Kaffee in seinen Becher. Die Müdigkeit kam um diese Uhrzeit mit aller Macht und setzte ihm zu. Ab um Vier ging es dann wieder. Aber genau diese Stunde zwischen Drei und Vier war immer sein Totpunkt. Nur viel starker und heißer Kaffee half darüber hinweg. Stille herrschte. Kein Geräusch drang durch die sternenklare Nacht. Der Sternengucker schlürfte seinen Kaffee und vertiefte sich wieder in die vor ihm ausgebreiteten Astrokalender.
Man könnte ja auch noch einmal auf die Suche nach dem mit dem bloßen Auge kaum sichtbaren Uranus gehen. Selbst durch sein starkes Präzisionsteleskop war dieser türkisfarbene Eisriese nur als schwacher Lichtpunkt zu sehen.
Gerade wollte er sein Fernrohr auf die Koordinaten des weit entfernten Planeten ausrichten als er zusammenzuckte. Ein Schrei durchbrach die nächtliche Stille. Markerschütternd und nicht enden wollend. Er bekam unwillkürlich eine Gänsehaut, konnte zudem nicht einmal orten, von wo der Schrei kam. Er war so unmittelbar und plötzlich gekommen, als ob er über ihm ausgestoßen worden wäre. Aber da war natürlich nichts außer dem sternenübersäten Himmel.
Von da oben konnte er nicht gekommen sein, ja, er konnte nicht einmal feststellen, ob der Schrei aus einer männlichen oder weiblichen Kehle gekommen war. Vielleicht war es ja auch kein menschlicher Schrei.
Einige Tiere im Todeskampf sollten auch solche Schreie von sich geben. Möglicherweise hatte ein Fuchs einen Hasen … oder ein Uhu eine Maus… Kopfschüttelnd verwarf er jedoch die Idee, nein, die Intensität und die Länge des Schreis wiesen eindeutig auf eine menschliche Quelle hin.
Doch wer sollte nachts um Drei so markerschütternd schreien? Hier im Dorf schlief um diese Uhrzeit jeder. Nirgends war ein Licht zu sehen. Ob noch jemand anders den Schrei gehört hatte? Er beobachtete die Häuser, möglicherweise waren durch den Schrei ja ein paar leichte Schläfer geweckt worden.
Doch nichts passierte. Das Dorf lag still und dunkel vor ihm. Aber er hatte sich den Schrei doch nicht eingebildet! Er hatte ihn gehört, klar und deutlich. Was war da los?
Er klappte seine Astrokalender zu, trank noch einen Schluck heißen Kaffee und stieg vorsichtig die Treppe hinab. Irgendwo musste doch die Ursache des Schreis zu finden sein.
Möglicherweise brauchte jemand Hilfe. Er lief mit seiner Taschenlampe die Straße entlang. Nichts war zu sehen. Auch die andere Straße des kleinen Dorfs war still und dunkel. Hatten ihm seine Sinne nicht doch etwa einen Streich gespielt?
Ein Schatten huschte über die Straße ins unbewohnte Haus Nummer Sieben. Eine Katze? Ein Marder? So richtig konnte er es nicht erkennen. Vielleicht narrte ihn auch nur seine Einbildung.
Schwarze Schatten flogen plötzlich durch die Nacht, begleitet von einem ärgerlichen Krächzen. Golm zuckte zusammen. Seit wann waren den Raben nachtaktiv?
Verunsichert ging er wieder zurück ins Haus. Sternegucken war für heute Nacht erst einmal passé.
II
Das Dorf, Haus Nr. 14
Freitag, 28. September 2007
Das Dorf lag verlassen und vergessen inmitten der eintönigen Felder. Es gab nur zwei Straßen. Insgesamt waren es vierzehn Häuser, die sich entlang der beiden Straßen versammelt hatten. Die meisten waren alte Feldsteinhäuser mit dazugehörigem Hof und Stallungen nebst Scheunen. Einige Häuser, vielleicht eine Handvoll, schienen neueren Ursprungs zu sein. Sie besaßen meist nur einen Vorgarten und ein Carport.
Kein Kirchturm kündete vom Vorhandensein des Ortes, kein Schloss oder Gutshaus machte es für Wanderer zu einem beliebten Reiseziel. Es gab nichts wirklich Besonderes. Nur die beiden Straßen und ihre vierzehn Häuser.
Der Freitagabend war die Zeit, in der die Pendler von ihren Arbeitsstellen in den benachbarten Städten heimkehrten. Vor den Häusern parkten Autos, meist praktische Kombis, in denen man auch seine Einkäufe transportieren konnte.
Im Dorf gab es keine Läden. Der nächstgelegene Lebensmittelmarkt war in der Stadt. Zweimal in der Woche kam ein mobiles Bäckereigeschäft ins Dorf. Es war ein umgebauter Kastenwagen, dessen Seitenwand aufklappbar war und eine Verkaufstheke mit Vitrinen und einem kleinen Regal verbarg.
Das Bäckerauto, so nannten die Dorfleute den mobilen Verkaufswagen, kam stets zur selben Tageszeit. Pünktlich um Elf, immer dienstags und freitags.
Außer dem Bäckerauto gab es noch den mobilen Fleischer, ebenfalls ein Kastenwagen mit Verkaufstheke und das Postauto. Die kamen allerdings unregelmäßig.
Manchmal verirrte sich auch ein Feinfrostwagen ins Dorf, der sein Kommen mit einer nervigen Musikfanfare ankündigte.
Die Besuche der Versorgungswagen waren die Höhepunkte im wöchentlichen Dorfleben. Es waren immer dieselben Leute, die sich bei der Ankunft der fahrbaren Geschäfte trafen. Meist ältere Bewohner, die bereits in Rente waren, manchmal auch Mütter mit ihren Babys, die noch nicht kitatauglich waren.
An der Kreuzung, die von den beiden Straßen gebildet wurde, die das Dorf schnitten, gab es einen kleinen, grasbewachsenen Platz, der als idealer Standort von den Fahrern der Mobilgeschäfte auserkoren worden war. Der Grasplatz war von den Häusern links und rechts der Straßen gut einsehbar.
An diesem Freitagabend war der Grasplatz jedoch verwaist. Ein dunkelgrüner Opel Astra bog sanft um die Ecke und hielt vor dem Grundstück mit der Nummer Vierzehn.
In dem Haus mit der Hausnummer Vierzehn, die beiden Straßen hatten keine Namen, es gab daher nur Hausnummern, war am Abend ebenfalls Leben eingekehrt. Ein mausgrauer Golf parkte bereits vor dem Haus. Unter dem Carport stand ein großer Octavia-Kombi. Das Haus Vierzehn gehörte zu den wenigen, neuerbauten Anwesen des Dorfes. Weißverputzt, dunkelrote Ziegel, große, schallisolierte Fenster und ein Balkon, der für das Einfamilienhaus eine Spur zu groß geraten war, stand es auf einem mit Ligusterhecken begrenztem Grundstück am Ende der Straße. Der Astra parkte gleich neben dem Golf. Eine junge Frau in Rüschenbluse und etwas zu engen Jeans um die fülligen Hüften stieg aus.
Gleich hinter dem Grundstück begannen die endlosen Felder. Ende September waren die bereits abgeerntet. Eine trostlose, braune Erdwüste breitete sich bis zum Horizont aus.
Auf dem Grundstück standen ein paar vereinzelte Obstbäume, die sorgsam gepflegt wurden. Zwei Apfelbäume, deren schwer mit knallroten Früchten behangene Äste sich fast bis zum Gras neigten und ein Birnenbaum, der mit leuchtendgrünen Früchten behangen war. Gemüsebeete und ein Miniacker mit Kartoffelstauden waren im vorderen Teil des Gartens angelegt, der hintere Teil war Grasland.
Neben dem Wohnhaus stand ein großer Geräteschuppen. Zwischen dem Schuppen und dem Wohnhaus verband ein gläserner Wintergarten die beiden Gebäude. Vor dem Wintergarten glitzerte es tiefblau. Ein Swimmingpool mit Leiter, vielleicht zwölf mal zehn Meter, war der ganze Stolz der Bewohner.
Fünf Bewohner hatte das Haus Nummer Vierzehn. Erhard und Gisela Kappenbach, beide Anfang Sechzig, Marius und Silke Kappenbach, beide Anfang Dreißig, und deren kleiner Sohn Nick, gerade einmal vier Jahre alt.
Das ältere Paar wohnte in der linken, das jüngere Paar in der rechten Hälfte des Hauses. Man ging sich aus dem Weg, obwohl es eigentlich nicht nötig war. Marius war der Sohn von Erhard und Gisela. Ihm gehörte das Haus, obwohl er selbst dafür keinen Euro beigesteuert hatte. Es sei wegen der Steuerklasse, wurde allen immer erzählt. Marius könne die Kosten besser absetzen.
Marius und seine Frau Silke arbeiteten beide in der Kreisstadt auf dem Amt. So nannten die Dorfbewohner die Kreisverwaltung. Was er da genau machte, wusste keiner so richtig. Irgendwas mit Finanzen …, aber es interessierte auch nicht wirklich jemanden. Marius war nicht sehr gesprächig. Seine Frau war auch auf dem Amt, Sekretärin.
Die beiden älteren Hausbewohner waren bereits in Rente. Erhard hatte die Möglichkeit der Frühberentung genutzt und sich schon mit achtundfünfzig Jahren ins Privatleben zurückgezogen und seine Frau Gisela war seit ihrem Arbeitsunfall sowieso schon lange Zeit Invalidenrentnerin.
Sie kümmerten sich um Haus und Hof. Erhard war ein geborener Hausmeister, konnte gärtnern, reparieren und renovieren. Unter seinen geschickten Händen waren der Wintergarten und der Swimmingpool entstanden.
Neidisch beobachteten die Nachbarn das Tun auf dem Grundstück. Ihre Häuser waren älter, gehörten noch der Zeit an, als die Landwirtschaft die Dorfbewohner ernährte. Bauern gab es im Dorf keine mehr.
Der letzte Bauer war vor zehn Jahren in den Ruhestand gegangen. Seine Felder wurden von der Agrargenossenschaft aus dem Nachbarort übernommen. Der Genossenschaft gehörten die großen Felder, die das Dorf umgaben. Von weitem sah es aus, als ob das Dorf eine Insel inmitten eines Feldermeeres sei.
Die Kappenbachs zuckten immer mit den Schultern, wenn andere sie fragten, warum sie in dem gottverlassenen Nest ein Grundstück gekauft hatten. Sie hatten sich eben für das Dorf entschieden. Vielleicht mochten sie ja genau die Ruhe und Abgeschiedenheit. Sie waren bodenständig, gingen selten aus und schienen auch sonst keine Hobbys zu haben, die sie von ihrem Grundstück wegzogen. Im Sommer sah man Silke Kappenbach in einem albernen Bikini mit Rüschen am Beckenrand des Swimmingpools liegen, während ihr Mann sich um den korrekten Heckenschnitt bemühte. Der Nachwuchs war mit Oma und Opa im Grasgarten zugange und entdeckte Schmetterlinge und andere Kerbtiere. Haus Nummer Vierzehn war eine moderne Idylle. Alles hatte seinen Platz und seinen Sinn.
Der Freitagabend war für Familie Kappenbach Junior schon entspannte Freizeit, Einstieg ins Wochenende. Marius half seiner Frau, die großen Einkaufstüten ins Haus zu schleppen. Am Sonntagnachmittag wollten sie grillen. Eine Tüte war gefüllt mit Steaks, Würstchen, Schaschlik-Spießen und Putenbrustschnitzelchen. Auch ein Fünfzehn-Liter-Fässchen mit Bier rollte Marius ins Haus. Gäste wurden erwartet.
Erhard Kappenbach sah dem ganzen Treiben skeptisch zu. Dass die jungen Leute grillen wollten, hatten sie ihm noch gar nicht gesagt. Gerade wollte er einen Kommentar abgeben, als Marius ihn anblaffte. Ob er seinen Golf da wegfahren könnte, denn am Sonntag kämen doch Gäste, da würde der Parkplatz benötigt.
Erhard wollte etwas erwidern, hatte schon Luft geholt, ließ es dann doch bleiben. Diskussionen dieser Art hatte es im Hause Kappenbach schon oft genug gegeben. Es war sinnlos. Er winkte ab und ging zurück in seine Haushälfte.
Seine Frau Gisela erwartete ihn schon. Sie wusste natürlich Bescheid. Aber sie schien darüber nicht sonderlich überrascht zu sein. Marius war der einzige Sohn der Kappenbachs. Sein Wohlergehen war das einzige Lebensziel von Gisela Kappenbach. Auf ihr Betreiben wurde schließlich auch das Haus samt Grund und Boden Marius übertragen. Wer sollte sich denn um sie kümmern, wenn sie alt und krank würden?
Daher sollte Marius so früh wie nur möglich an das Grundstück samt deren Bewohner gebunden werden. Das waren ihre Hintergedanken. Sie kannte die Tragödien in den vielen Nachbarshaushalten. Die Alten blieben zurück, die Jungen zogen weg.
Sie konnte es jeden Tag beobachten. Gleich neben ihrem Grundstück lag der Hof Nummer Sechs der Baierstedts. Alte Bauernfamilie, drei erwachsene Töchter, allesamt weggezogen. Sie lebten mit ihren Familien weit entfernt, kamen nur alle paar Monate vorbei, blieben ein, zwei Tage und verschwanden wieder, ihre Eltern in der abgeschiedenen Trostlosigkeit ihres Dorfes zurücklassend. Kein Mensch kümmerte sich ansonsten um sie.
Aus der nahen Kreisstadt kamen zweimal täglich die jungen Damen vom Pflegedienst und verrichteten die notwendigsten Handgriffe. Der Hof jedoch erstarrte in einer Zeitschleife. Man sah es den Gärten an, keine pflegende Hand sorgte für den Baumschnitt, anstelle der Beete wucherte überall Gras und die einst mit Tieren gefüllten Stallungen waren allesamt verwaist.
Ab und zu schlurfte der alte Mann oder dessen Frau über den Hof, spürte dem vergangenen Leben nach, um dann wieder kopfschüttelnd zurück ins Haus zu gehen.
Baierstedts waren inzwischen im Pflegeheim in Lindow. Der Hof blieb ohne Bewohner zurück.
Nein, so wollten Kappenbachs Senior nicht enden. Da nahm man eben auch die arrogante Attitüte des Sohnes und die schnippische Wesensart der Schwiegertochter in Kauf, zumal sie ja den kleinen Enkelsohn oft zu ihnen rüberbrachten, der für freudige Abwechslung bei Kappenbachs Senior sorgte.
Gisela Kappenbach hatte Probleme mit ihrer Hüfte. Ein künstliches Hüftgelenk hatte zwar die Schmerzen beim Laufen mildern können, aber sie war stark eingeschränkt in ihrer Bewegungsfreiheit. Treppensteigen bereitete ihr Höllenqualen, längeres Stehen ebenfalls. Meistens saß sie in der Küche auf ihrem bequemen Stuhl und beschäftigte sich mit dem Verarbeiten der Schätze aus ihrem Garten. Erhards »grüner Daumen« ließ alles in großer Menge und bester Qualität wachsen und reifen.
Zu jeder Jahreszeit, abgesehen vom Winter, hatte sie zu tun, alles zu zerkleinern, einzukochen, einzufrieren und einzukellern.
Der Keller der Kappenbachs war wohlgefüllt mit Dutzenden Einweckgläsern voller Obst, Bohnen, Erbsen, Beeren und sauer eingelegtem Gemüse. Der Sommer war lang und warm, die Ernte entsprechend groß. Jetzt zum Ende des Septembers kamen noch zahlreiche Tomaten, Gurken und Paprika aus dem kleinen Gewächshaus hinzu, dass von den jungen Leuten etwas hochtrabend als »Wintergarten« bezeichnet wurde. Auch die Äpfel, Pflaumen und Birnen warteten noch auf ihre Ernte.
Gisela Kappenbach seufzte. Heute Abend wollte sie eigentlich noch einmal ihre Schwester besuchen, die am anderen Ende der Straße lebte.
Irene Flumming war drei Jahre älter als sie und seit zwei Jahren verwitwet. Sie lebte allein in dem großen Haus mit der Hausnummer Zehn. Irene hatte keine Kinder. Gisela bekam immer ein schlechtes Gewissen, wenn sie an Irene dachte. Aber Irene war ein eigenwilliger Mensch. Sie beharrte darauf, dass sie gut allein mit allem zurechtkam und dass Alles, genauso wie es war, Bestens sei. Die beiden Frauen fuhren drei- bis viermal wöchentlich mit dem Auto in die Stadt zum Kaffeetrinken.
Am Markt gab es ein Café, in dem man stundenlang sitzen konnte und das Gefühl hatte, mitten im Leben zu sein. Ab und zu kam auch eine Bekannte vorbei, setzte sich mit dazu und man tauschte die neuesten Klatsch- und Tratsch-Geschichten aus. Es gab immer etwas, worüber man spekulieren konnte oder wo es Gerüchte gab.
Währenddessen kümmerte sich Erhard um das Anwesen. Er hatte sich eine Liste gemacht, auf der penibel alle Aufgaben notiert waren, die in der Woche erledigt werden sollten. Erhard arbeitete früher als Ingenieur, war es gewohnt, systematisch vorzugehen. Manchmal begleitete er seine Frau und die Schwägerin ins Café, aber eigentlich langweilte ihn das Herumsitzen und Stöbern in den Privatangelegenheiten wildfremder Menschen.
Da war er doch lieber mit seinen Pflanzen im Garten zusammen. Ab und zu besuchten ein paar gesellige Rabenvögel seine Obstbäume. Sie saßen gutgelaunt in den Ästen, krakeelten ein bisschen herum und flatterten nach ein paar Minuten wieder davon. Seltsamerweise fühlte sich Erhard Kappenbach durch die Besuche der Schwarzgefiederten erheitert.