Blaues Feuer

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Blaues Feuer
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Thomas Hoffmann

Blaues Feuer

Die Fahrten des Norbert Lederer

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

Impressum neobooks

1.

I. Teil

Die Siedlung im Gornwald

1.

Wenn die Läden vor den kleinen Fenstern gegen die Kälte und die Winterstürme geschlossen wurden – und gegen die dämonischen Geister, die in der dunklen Jahreszeit rings um die Dorfhütten lauerten – dann saß die Großmutter in dem mit Decken ausgepolsterten Lehnstuhl neben dem Feuer und die tief liegenden Augen in ihrem zahnlosen, runzligen Gesicht blickten dem Treiben der Hausgemeinschaft zu - voller Sehnsucht, so schien es Norbert: ein trauriger, hoffnungslos einsamer Blick.

Keiner der Hausbewohner beachtete sie. Norbert ging zu ihr, setzte sich auf den Stoß Feuerholz neben ihrem Lehnstuhl und lehnte den Kopf auf die Stuhllehne, wie er es alle Abende getan hatte seit er denken konnte. Und die Großmutter fuhr ihm mit der faltigen, dürren Hand durchs Haar und ihr runzliges Gesicht lächelte.

„Erzähl mir eine Geschichte, Großmutter,“ flüsterte Norbert. „Nicht eine von denen, die ich schon kenne. Erzähl mir eine neue Geschichte. Erzähl mir von drüben.“

Aber die Großmutter erzählte doch nur eines der alten Märchen, die sie Norbert früher schon erzählt hatte. Leise erzählte sie, sehr leise. Sie mussten beide leise sein, damit die Hofgemeinschaft sie nicht hörte.

Aber sie mochten noch so heimlich sein, die anderen bemerkten es doch.

„Was machst du da schon wieder, Bert,“ kreischte Norberts eineinhalb Jahre ältere Schwester Lene.

„Die Großmutter erzählt mir eine Gute-Nacht-Geschichte!“

„Großmutter ist tot, sie liegt in der Flussaue begraben! Komm da weg, das ist gruselig!“

Der Vater prügelte ihn. Norbert biss die Zähne zusammen, um nicht aufzustöhnen. Zwischen den Schlägen auf seinen wunden Hintern blickte er über Vaters Knie gebeugt immer wieder zum Lehnstuhl hinüber, wo Großmutter saß und stumm und verzweifelt ihren Sohn betrachtete.

„Ich habe dir verboten, da bei Mutters Stuhl zu hocken!“ wütete der Vater. „Du lockst uns die Totengeister ins Haus!“

Dann flüsterte Norberts Mutter hastig ein Gebet zur schwarzen Dame der Grotte, bevor sie ängstlich zum Lehnstuhl blickte, auf dem Großmutters Decken ausgebreitet waren wie zu ihren Lebzeiten. Als könne sie tatsächlich jeden Moment zurückkommen und böse werden, wenn sie ihre Decken nicht fände.

***

Hans Lederer prügelte seine Kinder und wenn es ihm notwendig schien auch seine Frau nicht aus Jähzorn, sondern weil er sich Sorgen machte um seine Familie, um ihrer aller Wohlergehen. Er war ein aufrechter Mann. Er trank nicht und vertrödelte den Tag nicht mit den anderen Hofbauern Wildenbruchs, die sich zum Pfeife Rauchen unter der Dorfeiche trafen. „Faules Gerede“ nannte er ihre täglichen Zusammenkünfte. Es machte ihm nichts aus, von Tagesanbruch bis zum späten Abend zu arbeiten, Kühe und Schweine zu versorgen, den Stall auszumisten, im Wald Holz zu schlagen. Und es war auch nicht oft, nicht einmal jede Woche, dass er für einen Nachmittag zu Verena ging, der jungen Witwe Jochen Methorsts, die ihren Hof allein mit ihren zwei Söhnen bewirtschaftete.

Wenn er ein Ferkel oder eine Speckseite für sie mitnahm, erklärte er: „Schließlich muss sie ihren Hof ganz allein führen. Wir müssen zusammenhalten in der Siedlung.“

Norberts Mutter kniff dann die Lippen zusammen und blickte bitter in eine Ecke. Aber sie sagte nichts dazu.

Hans Lederer ging hart mit sich um und dasselbe verlangte er von seiner Familie: seiner Frau Sigurt, ihren Kindern Norbert, Lene und Margit sowie seinem Bruder Beorn und dessen Frau Leika mit ihrem fünfzehnjährigen Sohn Oliver. Hans Lederers Vater hatte den Hof als einer der ersten Ansiedler in diesem Flusstal des Gornwaldes gegründet. Er war Kürschner gewesen in Trümmelfurt. Nach der Vertreibung der Kürschner aus den Stadtmauern im Jahr 749 war er fortgezogen. Das Kürschnergewerbe war einträglich, aber die Ledermacher waren verachtet und gefürchtet, weil es hieß, der Leichengeruch, der beim Gerben entstand, locke die Dämonen an.

***

„Bert, steh auf!“

Lene zog die Filzdecke weg, unter der Norbert sich in einem Winkel des Küchen- und Wohnraums auf seinem Lager zusammengerollt hatte, die ganze Nacht auf der Seite liegend, um seinen von den Schlägen wunden Hintern zu schonen. Hinter den Ritzen der geschlossenen Fensterluken graute der Morgen. Von der Herdstelle her flackerte Feuerschein durch den dunklen Raum. Die vierzehnjährige Margit und Leika unterhielten sich leise bei der Herdstelle. Sie hantierten mit Töpfen. Eiskalte Luft kroch Norbert unter die Wolljacke.

„Lass mich!“ zischte er seine Schwester an.

„Steh schon auf, du Faulpelz!“

Ein paar Atemzüge lang versuchten Lene und Norbert, einander die Filzdecke aus den Händen zu reißen, dann gab Norbert nach und setzte sich auf. Sofort verzog er das Gesicht vor Schmerzen.

„Margit und ich haben schon längst jede einen Eimer Wasser geholt! Das Frühstück ist gleich fertig und du hast deinen Eimer immer noch nicht gebracht,“ schimpfte Lene ihren stöhnenden Bruder aus. „Du bist acht Jahre alt und kein Kind mehr! Geh, raus mit dir!“

„Ich hasse dich, Lene.“

„Da, nimm deine Fußlappen!“ triumphierte das hagere Mädchen. „Und putz' dir die Nase!“

Es war nicht so sehr seine Schwester Lene, die Norbert hasste, es war vielmehr der frühe Morgen selbst. Im Sommer ertrug er es noch, in aller Frühe mit nackten Füßen über die feuchten Wiesen zum Bach zu gehen. Dann lagen Urwald und Felsen zu den Seiten des Tals im Frühnebel verborgen. Wenn er zur Bachmitte watete, wo es tief genug war, um den schweren Holzeimer voll zu schöpfen, spielte Norbert das eisige Wasser um die Füße und die Kiesel im Bachbett drückten sich ihm in die schwieligen Sohlen. Wenn er dann mit dem vollen Eimer zurück zu den Hütten ging, wurden ihm die Füße ganz warm. Es war kein Ersatz für die Wärme unter seiner Decke, aber doch ein kleiner Trost, ein Fingerzeig, dass das Leben es nicht völlig schlecht mit ihm meinte.

Jetzt im Winter biss die Kälte durch die um seine Füße geschnürten Leinenlappen, wenn er dem glatten, ausgetretenen Pfad den Bach entlang folgte. Wolljacke und die um die Schultern geschlungene Filzdecke nützten nichts. Die Kälte kroch von unten durch seine Kleider hinauf. Der Bach war zugefroren und im klammen Nebel musste Norbert weit hinauf in die Felsen steigen, um an die Stelle zu gelangen, wo der Bach unter Eiszapfen hervor einen Felsabsatz hinabstürzte.

Der schmale Trampelpfad führte an dem Felseinschnitt vorbei, in welchem die Grotte der schwarzen Dame lag. Die Klamm vor der Grotte war von Schnee freigeräumt. Ein paar Kränze aus vertrockneten Herbstblumen lagen vor dem schwarzen Grottenschlund, daneben verfaultes Obst. Björn Feldnersohn hatte die Grotte entdeckt, als die Neuansiedlung an dem kleinen Zufluss der Gorn gerade gegründet worden war. Norbert schauderte, wenn er zu dem im Nebeldunst liegenden Höhleneingang hinübersah. Ein Gefühl wie von klammen Fingern kroch ihm über den Rücken den Nacken hoch, ganz ähnlich dem Gefühl, das er hatte, wenn die Großmutter ihm die Haare kraulte, seit sie tot war. Aber hier bei der Grotte war es grausig und das Herz begann ihm zu rasen. Hastig stieg er den steilen Pfad bachaufwärts fort von der Klamm.

***

Zum Frühstück saß die achtköpfige Hofgemeinschaft um den langen Esstisch in der Mitte der Wohn- und Arbeitsküche. Großmutters Stuhl am oberen Ende des Tischs gegenüber Vaters Platz stand unbesetzt. Ihr Platz war nicht eingedeckt. Nur die ersten Tage nach ihrem Tod hatte Leika noch gedankenlos wie gewohnt für sie mit eingedeckt. Großmutters Holzteller und Löffel blieben dann stehen und wurden erst nach der Mahlzeit mit dem restlichen Essgeschirr wieder abgeräumt.

 

Auf dem Frühstückstisch dampfte ein Topf Gerstengrütze. Hans Lederer als einziger aß Brot dazu, denn sie hatten nicht genug Korn, um den Winter über für alle zu backen. Aber er riss doch ein Stück vom Brot ab und legte es seiner Frau auf den Teller. Sigurt warf ihm still einen Blick zu, bevor sie wieder auf ihren Teller schaute. Es war ein ängstlicher Blick, fand Norbert. Mutter schien immerzu Angst zu haben.

Norbert schluckte den zähen Brei herunter, drehte sich Lene zu, die neben ihm saß, brachte seinen Mund nah an ihr Ohr und flüsterte: „Die schwarze Dame der Grotte ist ein Dämon!“

„Bert!“ kreischte Lene.

Und dann schrie sie über den Tisch: „Der Bert sagt schon wieder Sachen, die man nicht sagen darf!“

„Halt deinen Mund, Lene!“ fuhr Leika sie an. „Und du, Bert, hör auf, sie zu ärgern!“

Norbert rutschte ein wenig auf der Holzbank umher, um die Schmerzen in seinem Hintern zu lindern. Stumm löffelte er seine Grütze, zufrieden, sich an seiner Schwester gerächt zu haben.

***

Den ganzen Tag über arbeitete Norbert auf dem Hof, wie die anderen Mitglieder der Hofgemeinschaft auch. Als es zu dämmern begann, beeilte er sich, die letzten zwei Kiepen Holzscheite ins Haus zu tragen und neben der Herdstelle aufzustapeln, um anschließend noch den schweren Eimer mit den Küchenabfällen in den Schweinestall zu tragen.

Während er die Essensreste in den Trog schüttete, hinter dem die Scheine sich drängten, rief Lene draußen vor dem Stall: „Beeil dich, Bert. Trödel nicht so rum!“

Aber er blieb doch noch einem Moment am Verschlag stehen und sah den schnaufenden und grunzenden Schweinen zu, wie sie sich um die Küchenabfälle stritten. Es machte ihm Spaß, die schmatzenden Tiere beim Fressen zu beobachten.

Lene trat in der klirrenden Kälte ungeduldig von einem Bein aufs andere, als er aus dem Stall kam. Sie wickelten sich ihre Filzdecken fest um den Leib und huschten zwischen den Hütten durch den Schnee. Als sie an Kurt Morgners Haus vorbeikamen, deutete Lene auf eine Lücke zwischen zwei Holzstapeln unter dem Vordach.

„Der Oliver tuschelt schon wieder mit der Grete Morgner!“

„Warum denn nicht?“ fand Norbert.

„Das verstehst du nicht. Dafür bist du noch zu klein!“

Denkst du! dachte Norbert. Ich weiß, was Oliver am liebsten mit der Grete machen würde! Ich hab's doch bei Vater und Mutter oder Onkel Beorn und Leika nachts schon oft mitgekriegt. Ich bin schließlich kein Kind mehr!

Aber er sagte Lene nichts davon.

Als sie bei Lutz Torstensohns Scheune ankamen, sahen sie die siebenjährige Maja und ihren zwei Jahre älteren Bruder Horst von Martin Feldnersohns Hof her kommen. Lene stemmte das Scheunentor auf und die vier huschten hinein. Oben auf dem Heuboden hatten sich bereits zwei Jungen und ein Mädchen eingefunden. Norbert schnupperte den Heuduft, der ihn in der Nase kitzelte. Im Halbdunkel setzte er sich zwischen Liese und Horst in das wärmende Heu. Roderig, mit dreizehn Jahren der Älteste von ihnen, schob das Heu auf den Bodenbrettern zur Seite und entzündete einen Kienspan an den glühenden Kohlen, die er in einer Tonschale mitgebracht hatte. Im unruhigen Licht wurden die Gesichter der Kinder erkennbar.

Den Sommer und den Herbst über bis zum Winterbeginn, so lange noch kein Schnee lag, hatten die Wildenbrucher Kinder sich nach der Hofarbeit unten bei der Flussaue oder auf einer nahen Waldlichtung getroffen und die ein, zwei Stunden bis zum Anbruch der Nacht zusammen im Freien verbracht. Sie erzählten sich ihre eigenen Geschichten, welche die Erwachsenen höchstens deshalb noch kannten, weil sie selbst einmal Kinder gewesen waren, erklärten sich gegenseitig die Rätsel ihrer Welt und erforschten die Umgebung des Dorfs, überall Geheimnisse entdeckend. Sie nannten es „ihre eigenen Sachen machen“. Das Wort „spielen“ kam ihnen nicht in den Sinn.

Schnee und Winterkälte hatten sie in Lutz Torstensohns Scheune getrieben. Lutz war ein geduldiger Mann. Er ließ die Kinder gewähren. Sie vertrieben sich die Zeit mit Geschichten, dachten sich Reime aus, erfanden Lieder und manchmal brachte jemand ein paar runde Kiesel mit, um gemeinsam damit Murmeln zu spielen.

„Wir wollen uns Spukgeschichten erzählen,“ schlug Maja vor.

„Nein!“ sagte Lene.

Aber es war bereits beschlossene Sache.

„Der Norbert sieht doch immerzu Gespenster,“ meinte Roderig. „Bert, erzähl uns eine Gruselgeschichte.“

„Nein, das soll er nicht!“ protestierte Lene vergeblich.

Norbert dachte nach. „Als Sven Hüttner gestorben war, im letzten Frühjahr – er hatte diese eitrige Beule über dem Auge, die immer schlimmer wurde, bis sie aufplatzte und so eklig stank, erinnert ihr euch?“

Die anderen nickten ernst. Lene guckte sauer vor sich hin. Norbert bemerkte es mit heimlicher Genugtuung.

„Als er tot war, stand er an den Abenden, wenn es dunkel wurde, bei der Kastanie gegenüber von seinem Haus und schaute hinüber zur Tür. Er stand immer nur da und sah die ganze Zeit zu seinem Haus hinüber.“

Erwartungsvolle Spannung in den Gesichtern der Zuhörer.

„Und?“ hauchte Maja.

Norbert blickte nachdenklich in die Flamme des Kienspans. Sven Hüttner hatte ihm leid getan, wie er da so ganz allein unter der Kastanie stand und zu seinem Hof hinüberblickte.

„Nach ein paar Wochen war er immer seltener da. Schließlich kam er gar nicht mehr.“

Norberts Gefährten sahen enttäuscht aus.

„Das soll eine Gruselgeschichte sein?“ beschwerte sich Roderig. „Das war ja überhaupt keine Geschichte!“

„Es ist aber wahr,“ verteidigte sich Norbert.

Roderig ließ es nicht gelten. Er packte Norbert und stieß ihn zur Leiter.

„Geh, such nach einem richtigen Geist! Wenn du einen gefunden hast, kannst du wiederkommen und uns erzählen, was er gemacht hat!“

Norbert stapfte in der Dämmerung durch den Schnee zum nächsten Heuschober und kroch ins dunkle Heu. Er fingerte den Dörrapfel aus seiner Jackentasche, den er aus der Speisekammer gestohlen hatte, biss hinein und lutschte das mürbe, süße Fleisch.

***

Von Woche zu Woche wurde Großmutters Stimme leiser, wenn sie spät abends Norbert eins ihrer Märchen erzählte. Manchmal konnte er sie nur noch undeutlich im Lehnstuhl sitzen sehen. Die Prügel des Vaters wurden seltener und wenn der Vater Norbert übers Knie legte, schlug er nicht mehr hart zu. Es geschah wohl nur deshalb noch, damit Norbert nicht glauben sollte, der Vater hätte seine Meinung geändert und verzeihe ihm, dass er sich Abend für Abend wieder auf den Holzstoß bei Großmutters Stuhl setzte.

„Räumt doch das Holz da weg, dann kann er sich nicht mehr neben Großmutters Stuhl setzen!“ forderte Lene.

Aber das tat niemand. Auch der Vater überhörte Lenes trotzige Forderung.

Irgendwann kam Großmutter nicht mehr und Norbert sagte zu Leika: „Ihr könnt die Decken von Großmutters Stuhl wegräumen. Großmutter ist tot.“

Die Mutter sprach ein Dankgebet zur schwarzen Dame. Lene kreischte irgendetwas. Hans Lederer sah seinen Sohn nachdenklich an. Am nächsten Tag legten Margit und Leika Großmutters Decken zusammen und rückten den Lehnstuhl vom Feuer. Niemand verlor ein Wort darüber. Nicht einmal die sonst so vorlaute Lene.

***

Die Zeit der Winterstürme kam Norbert kürzer vor und die Kälte weniger bitter als in den vorhergehenden Jahren. Er erinnerte sich, dass er in früheren Wintern nachts vor Kälte geweint hatte unter seiner verschlissenen, dünnen Decke. Vielleicht ließ ja seine neue Decke die Winternächte weniger kalt erscheinen. Im Herbst hatte Vater von seiner Marktreise Filzdecken mitgebracht und Norbert hatte auch eine bekommen, weil es sein achtes Lebensjahr war und er vollwertiges Mitglied der Hofgemeinschaft geworden war. Doch vielleicht war der Winter einfach nur milder als die vorhergehenden.

Es taute früh. Der von der Schneeschmelze angeschwollene Bach überschwemmte die Wiesen unterhalb des Dorfs und die Flussaue verwandelte sich in einen See. Die Wildenbrucher Kinder bastelten aus Rindenstücken, Zweigen und feuchtem Laub kleine Schiffe, die sie unten an der Flussaue ins Wasser setzten. Sie schlossen Wetten ab, welches Schiffchen am längsten über Wasser bleiben würde. Norberts Schiff sank, kaum dass es vom sumpfigen Ufer losgekommen war. Er ließ den Blick das überschwemmte Flussufer entlang schweifen, dorthin, wo am Ende der Auenniederung die nebelverhangenen Ruinen der alten Elbensiedlung von Erlengehölz überwuchert standen.

„Das ist doch seltsam, dass die Elbenruinen immerzu im Nebel liegen,“ meinte er zu Lene.

Sie hörte nicht zu.

„Mein Schiffchen hat gewonnen!“ kreischte sie jubelnd.

Roderig richtete sich auf und blinzelte zu den vermodernden Hüttenresten des Elbendorfs hinüber.

„Da ist überhaupt kein Nebel, Bert. Du siehst schon wieder Gespenster!“

Jetzt stellte sich auch Lene an Norberts Seite. „Vater sagt, in dem Ruinendorf hausen Elbengeister, die jeden umbringen, der in die Nähe der Ruinen kommt. Sie wollen sich dafür rächen, dass die Soldaten vor hundert Jahren ihr Dorf zerstört und sie alle umgebracht haben, damit das Land besiedelt werden konnte.“

Roderig kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe. „Irgendwann dieses Jahr gehen wir die Elbensiedlung erforschen.“

„Die Eltern haben es verboten!“ protestierte Lene.

Aber selbstverständlich würde sie mitkommen, sollten die Gefährten losziehen, den verrufenen Ort zu untersuchen.

„Nach der Schneeschmelze gehen wir hin,“ entschied Roderig. Grinsend wandte er sich an Norbert. „Wenn wirklich ein Elbengeist kommt, kannst du uns ja warnen.“

***

An den Abenden, wenn Norbert und Lene von den Treffen mit den Gefährten in die rauchige Wohnküche zurückkehrten, war jetzt häufig Smeta da, Lutz Torstensohns Tochter, die Frau von Lars Weidner. Leika und sie saßen abseits der anderen an der Hauswand hinter dem Webstuhl und Smeta weinte oft.

Lene griff sich einen Stapel Holzschalen, um Margit beim Eindecken fürs Abendessen zu helfen. Sie warf Norbert einen nassen Lumpen zu.

„Da, geh den Tisch abwischen!“

Wenn ich dir den Lumpen ins Gesicht klatschen würde, das würde ein Gekreisch geben! dachte Norbert.

Aber er tat es nicht. Er schnupperte nach dem Kessel, der über der Herstelle hing.

Dicke Bohnen.

Hoffentlich hatte Mutter Speck dazu gegeben.

Beim Abendessen erklärte Lene ihrem jüngeren Bruder leise: „Die Smeta und der Lars sind jetzt schon zwei Jahre verheiratet und sie hat immer noch kein Kind bekommen. Deshalb weint sie immer. Leika gibt ihr Ratschläge. Leikas Mutter war doch Heilerin. Von der hat sie viele Geheimnisse erfahren.“

Norbert hörte nur mit halbem Ohr hin. Gedankenverloren kaute er auf einem Speckstreifen. Die nebelverhangenen Elbenruinen gingen ihm nicht aus dem Kopf.

Ein paar Tage später begegnete Norbert Smeta am Dorfrand. Er kam mit einer Kiepe voll nassem Klaubholz ins Dorf herabgestiegen. Smeta hatte sich ein Tuch umgeschlungen gegen den Nieselregen. Wald und Felsen lagen in grauem Dunst. Das Wasser rann Norbert aus den Haaren und übers Gesicht. Er wischte es nicht weg. Er schaute auf den Korb voller Dörräpfel, den Smeta unter ihrem Tuch vor dem Regen zu schützen versuchte. Ein kleines Brot lugte zwischen den schrumpligen Äpfeln hervor. Norbert lief das Wasser im Mund zusammen.

„Gehst du zur schwarzen Dame?“ fragte er zitternd vor Kälte und Nässe.

Smeta nickte zögernd. Sie betrachtete Norbert, als wollte sie herausfinden, was der Junge von ihrer Not wusste.

„Du solltest nicht zu ihr gehen,“ flüsterte Norbert. „Sie hilft dir nicht. Und außerdem,“ ihm war selber nicht klar, woher er das wusste, „will sie nur Fleisch!“

Smeta gab ihm eine Ohrfeige.

„So was darfst du nicht sagen!“ zischte sie wütend. „Ich erzähle deinem Vater, was du lästerst. Der schlägt dich grün und blau!“

***

„Morgen Nachmittag gehen wir das Elbendorf erforschen,“ sagte Roderig beim Auseinandergehen. Er trat unter dem überhängenden Felsen hervor, unter den die Kinder sich nach der Arbeit verkrochen hatten, und ging hinaus in den Regen.

„Wir wollen lieber noch warten, bis es wärmer ist und der Regen aufgehört hat,“ fand Lene.

Einige der Kinder blickten zu Roderig, aber als er auf Lenes Einwand nicht einging, taten auch sie, als hätten sie Lene nicht gehört. Maja stieß Norbert den Ellenbogen in die Seite und grinste. Sie deutete mit dem Kopf nach Lene. Norbert zuckte bloß mit den Achseln.

 

Am Tag darauf ging Lene als letzte der Gefährten, während die kleine Gruppe sich einen Weg durch den Auenwald zu den Ruinen bahnte. Die Kinder zwängten sich durch nasses Geäst. Norberts Kleider waren klamm vom Regen. Zweige peitschten ihm ins Gesicht, wenn Maja und Roderig vor ihm das Erlengebüsch beiseiteschoben. Der Nachmittag verdämmerte in trübem Grau. Rings umher verschwand der Wald in Regenschleiern. Der feuchte Boden schmatzte bei jedem Schritt. Das Wasser war längst durch Norberts Fußlappen gedrungen.

Dem Ruinendorf zu stieg das Land an. Der Boden wurde fester. Das Erlengehölz schloss sich zum Dickicht. Norbert zwängte sich nach vorn zu Roderig und Maja, die zwischen den Zweigen hindurch nach den verfallenen Resten der Elbenhäuser auf der Anhöhe blickten. Die Ruinen lagen in der Dämmerung. Die trübe Helle des späten Nachmittags schien sich dort früher zurückzuziehen als über der Flussaue. Graue Nebelschwaden verdichteten sich zwischen den Resten der Holzhäuser.

„Kannst du Geister erkennen?“

Roderigs Frage klang ernst. Norbert spähte in den wogenden Nebel. Bewegte sich da etwas im Dunst? Er sagte nichts. Vor ein paar Wochen hatte Roderig ihn aufgezogen, weil er Nebel zwischen den Ruinen gesehen hatte. Stumm schüttelte er den Kopf.

„Also dann – gehen wir hin!“

Die Kinder zwängten sich Roderig hinterher zwischen den Zweigen hindurch. Lene murmelte etwas, jedoch so leise, dass es niemand verstehen konnte. Oben auf der Anhöhe wurde das Gehölz lichter.

„Wieso ist es da vorne bei den Ruinen so dunkel?“ überlegte Horst.

Als Roderig ihn wütend ansah, presste er die Lippen aufeinander und senkte den Kopf.

Die Reste der großen Holzhäuser ragten schwarz aus dem Boden. Nur wenige Dachsparren ließen steile, hohe Dächer erahnen. Erlen reckten ihre kahlen Äste aus den Ruinen hervor. An vielen Stellen wucherte Gebüsch. Zwischen den Häuserresten zerfaserte der Nebel. Norbert kniff die Augen zusammen. Grauer Nebel kroch in Schwaden aus den Ruinen heraus. Norbert sah es ganz deutlich.

„Ist doch alles ganz normal hier,“ rief Maja.

Sie blickte neugierig in eine der Ruinen hinein. Nebelzungen leckten um ihre Füße.

Roderig stapfte durch niedriges Gebüsch. „Wenn wir Glück haben, finden wir noch irgendwas, was den Elben gehört hat.“

„Wartet!“

Es war Liese, die den gellenden Ruf ausgestoßen hatte. Alle fuhren herum und starrten sie an. Kalte Finger fuhren Norbert durchs Haar, tasteten seinen Rücken herab. Im Halbdunkel zwischen den Ruinen konnte er die Gefährten kaum noch ausmachen.

„Ich hab was gespürt.“ Lieses Stimme zitterte. „Mich hat was angehaucht.“

Von den schlanken, hohen Gestalten, die hinter ihr standen, konnte Norbert nur Umrisse erkennen.

„Liese,“ er versuchte, ruhig zu bleiben, „komm weg da. Komm hier herüber.“

„Es wird immer dunkler,“ keuchte Roderig.

Liese stolperte im Rennen und fiel der Länge nach hin. Roderig fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

„Da war ein Lufthauch vor meinem Kopf, ganz deutlich!“

Norbert sah den langen Pfeil, der neben Roderig in einem Hausbalken zitterte.

Horst bahnte sich zwischen widerspenstigen Zweigen einen Weg zum Hang zurück. „Hauen wir ab!“

Lene half Liese auf. Die beiden stolperten Horst nach.

„Komm, Bert!“

Hinter den schwarzen Gestalten lag blaue Dämmerung. Sie waren überall zwischen den Häusern. Norbert wandte sich um, schaute nach den Gefährten. Er hörte ihre Rufe in der Ferne. Tiefes, leuchtendes Blau hinter hohen Holzhäusern. Der Himmel war schwarz. Wo waren Roderig, Lene und die anderen? Eben noch waren sie in seiner Nähe gewesen. Vor ihm stand eine hochgewachsene Frau, in braun gemusterte Decken gehüllt. Er sah die klaffende Hiebwunde, die ihr das Ohr abgetrennt und die Schulter bis zum Schlüsselbein zertrümmert hatte. Die Decken, die sie als Kleidung trug, waren blutverklebt. In den Händen hielt sie ein wimmerndes, blutiges Bündel. Norbert wurde übel.

„Bert, wo bist du?“

Es klang von weither. Keine zwei Schritt vor ihm stand ein Elb. Blut rann ihm aus dem blonden, langen Haar übers Gesicht. Der Pfeil auf seinem gespannten Bogen zielte Norbert mitten ins Gesicht. Verzweifelt fuhr Norbert herum. Er schloss die Augen, lauschte auf die leisen Rufe der Gefährten, tastete sich ihnen entgegen, stolperte im dichten Buschwerk. Eine Flöte klagte in schrillen Tönen in seinem Rücken. Erst, als er den Regen in seinem Haar spürte, öffnete er die Augen wieder. Diesiges Nachmittagslicht drang ihm in die Augen.

„Den Sternen sei Dank, Bert, da bist du!“

Lene schloss ihn in die Arme, aber sofort kreischte sie auf. „Da ist Blut in deinen Haaren!“

Erst jetzt spürte Norbert das Pochen der Wunde.

„Sie haben auf mich geschossen. Die Soldaten haben Frauen und Kinder geschlachtet, sogar Säuglinge. Sie haben sie einfach abgeschlachtet.“

Die Gefährten sammelten sich um ihn. Allen stand die Angst in den Gesichtern. Regen rauschte in den Zweigen. Oben auf der Anhöhe wogte Nebel um die Elbenruinen.

Über Roderigs Wange zog sich ein blutiger Riss, wo der Elbenpfeil ihn gesteift hatte.

„Warum hast du uns nicht früher was gesagt?“ schleuderte er Norbert entgegen.

Roderigs Atem ging immer noch schnell. Norbert blickte ihn verkniffen an, ohne zu antworten.

Die Kinder kamen überein, zu behaupten, Norbert und Roderig hätten sich geprügelt, um die Verletzungen der beiden zu erklären.

Norbert sah Roderig trotzig in die Augen. „Ich erzähl' allen, dass wir im Geisterdorf waren, wenn du sagst, du hättest mich verhauen.“

„Also gut – unentschieden,“ fauchte Roderig.

***

In der Wohnküche wusch Leika Norberts Kopfwunde mit einem Kräutersud aus, bevor sie ihm ein Leinentuch fest um den Haarschopf wickelte. Norbert presste die Zähne zusammen, um nicht vor Schmerz zu wimmern. Am Esstisch saßen Smeta und Mutter dicht beieinander. Smeta schluchzte laut. Mutter versuchte, sie zu trösten. Der Vater blickte Norbert nachdenklich an.

„Roderig ist fünf Jahre älter als du. Das war tapfer von dir.“

Es kam selten vor, dass Vater ein Lob aussprach.

„Womit habt ihr euch da geprügelt?“ fragte Leika. Da war ein misstrauischer Unterton in ihrer Stimme. „Das ist keine normale Platzwunde.“

„Wir haben Tonscherben genommen,“ murmelte Norbert.

Lene sah ängstlich von ihm zu Leika. Leikas Mutter hatte viel über Wunden gewusst.

Leika beugte sich zu Norbert herab und sah ihm fest in die Augen.

„Das ist eine Pfeilwunde,“ flüsterte sie so leise, dass nur Norbert und Lene es hören konnten. „Wo wart ihr?“

Norbert schwieg verbissen.

„Ich glaub', Lars verstößt mich,“ weinte Smeta am Tisch. „Er hat so was angedeutet. Was soll ich denn tun? Was kann ich denn nur tun?“

Mutter hielt sie im Arm. Sie musste tief Luft holen, um sich Mut zu machen, bevor sie zu Hans Lederer sagte: „Gib ihr ein Ferkelchen für die schwarze Dame, Hans. Eins können wir entbehren.“

Und als ihr Ehemann stirnrunzelnd zurückblickte, murmelte sie bitter, obwohl ihr die Stimme dabei zitterte: „Sie müssen nicht alle bei der Verena landen.“

Einen Moment lang sah Hans Lederer stumm zu Boden.

Dann knurrte er: „Morgen soll sie sich das Ferkel holen.“

Mit schweren Schritten ging er hinaus zu den Ställen. Norbert machte sich von Leika los und ging zu Mutter und Smeta an den Tisch. Das Herz pochte ihm bis zum Hals. Mit offenem Mund starrte er Smeta an. Wieder und wieder schüttelte er den Kopf.

„Nein, tu das nicht, Smeta!“ Die Stimme versagte ihm, er konnte es nur flüstern.

Die heftige Maulschelle, die Mutter ihm gab, spürte er kaum. Er hörte nicht, was die anderen schimpften.

Erst in der Nacht auf seinem Lager begannen ihm die aufgeplatzten Lippen zu brennen. Er wälzte sich in seiner Filzdecke hin und her. Der schwarze Grottenschlund stand ihm vor Augen. Der Schauder, der ihm jedes Mal den Rücken heraufkroch im Angesicht der Grotte. Später in der Nacht hatte ihn die Erinnerung an den blutenden Elbenkrieger in ihrer Gewalt, an die Pfeilspitze, die ihm ins Gesicht zielte. Das blaue Leuchten über dem dunklen Horizont zwischen den Silhouetten der Elbenhäuser – wie das Licht einer anderen Welt.

***

Am frühen Vormittag kam Smeta das Ferkel abholen. Sie hatte ihr schönes, volles Haar zu Zöpfen gebunden, die sie sich um den Kopf gewunden hatte wie für ein Fest. Unter dem wollenen Regenüberwurf trug sie ein sauberes Kleid. Es war dasjenige, welches sie zu ihrer Hochzeit getragen hatte, erinnerte sich Norbert. Mutter und Leika gaben ihr Segenswünsche mit auf den Weg. Smetas Miene wechselte zwischen Verzweiflung und Hoffnung.

Norbert schlich ihr nach, als sie den Weg in die Felsen zur Grotte einschlug. Auf halber Höhe holte er sie ein. Neben dem Pfad toste der von der Schneeschmelze geschwollene Bach. Norbert griff nach Smetas Überwurf und zerrte. Er musste schreien, um das Tosen des Bachs zu übertönen.

„Smeta, geh da nicht hin, sie bringt dich um!“

Die junge Frau fuhr herum und schlug Norbert auf den Mund, so dass die Wunde an der Oberlippe wieder aufplatzte. Norbert schmeckte Blut im Mund.