Czytaj książkę: «So banal wie tiefgründig»

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Thomas Häring

So banal wie tiefgründig

Agenten, Legenden und Tragödien der Arbeit Teil 4

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Das Leben kennt keine Gnade

Der Neuanfang vom Ende

Impressum neobooks

Das Leben kennt keine Gnade

Anita war eine von den Frauen, die alles hatten, was man zum Leben brauchte. Sie arbeitete als Verkäuferin in einem Modeladen, hatte einen Mann, ein Kind sowie viele Freunde und Bekannte, alles in allem führte sie ein erfülltes Leben und erfreute sich ihres Daseins. Natürlich war es nicht immer einfach, denn da, wo man mit anderen Menschen in Kontakt trat, galt es Kompromisse zu schließen und auch mal zurückzustecken, denn wenn jeder seinen Willen durchsetzen wollte, dann führte das nur zu Konflikten und Schwierigkeiten. Alles in allem war Anita mit sich und ihrer Existenz sehr zufrieden und das sagte sie auch ihrer Freundin Ulrike, mit der sie sich zum Kaffeetrinken traf. „Ja, Du scheinst wohl das große Los gezogen zu haben“, bemerkte jene. „Absolut. Es kann überhaupt nicht mehr besser werden, ich habe wirklich alles, was ich mir schon immer gewünscht habe: Einen tollen Mann, der mich verwöhnt; ein Kind, das mir mehr Freude als Ärger macht; einen Job, der mich fordert und reizt, sowie jede Menge nette Leute um mich herum, die mich inspirieren und gut für mich sind.“ „Da wünsche ich Dir nur, daß es dabei auch bleibt, denn man kann das Glück nicht festhalten. Es ist wie ein Schmetterling, der sich auf einer Blume niederläßt und sobald sich die Blume daran gewöhnt hat, fliegt er schon wieder davon.“ Später dachte Anita noch einmal über die Worte ihrer Freundin nach und sie spürte, daß in jenen eine tiefe Wahrheit lag, mit welcher sie sich eigentlich nicht auseinandersetzen wollte. Ihr ging es einfach viel zu gut und deshalb hatte sie keinen Bock, darüber nachzudenken, ob es so bleiben würde oder nicht. Man sollte sowieso immer versuchen, im Hier und Jetzt zu leben, das war das Sinnvollste überhaupt, denn nur die Gegenwart zählte, alles Andere war Schnee von gestern oder von morgen. Klar, daß zum Beispiel Maniker oder Manisch-Depressive ihre Manie nicht als Krankheit ansahen, schließlich ging es ihnen hervorragend, sie hielten sich für die Größten und hatten Energie ohne Ende. Sie waren wie im Rausch und hatten selbstverständlich kein Interesse daran, daß jener je ein Ende nahm. Bei den Depressiven war es eher umgekehrt: Die hielten ihren Zustand fast nicht mehr aus und dachten meist nur noch an Suizid. Anita war leicht euphorisch, aber kein bißchen manisch, ihr ging es halt einfach nur gut. Daheim angekommen, sah sie einen Zettel auf dem Tisch liegen, auf dem Folgendes stand: „Bin mit Kurt zum Fußballschauen, komme am Abend wieder, muß mit Dir reden. Bis später! Bodo.“ Anita wunderte sich ein wenig, denn normalerweise schrieb ihr Mann solche Sachen nicht, aber dann telefonierte sie mit ihrer Arbeitskollegin und vergaß das Ganze schnell wieder. Danach holte sie ihren Sohn von den Großeltern ab und beschäftigte sich mit dem Kleinen noch eine Weile. Als der dann ins Bett gegangen war, las sie noch ein bißchen in der Zeitung, bevor sie Geräusche an der Tür hörte. Ihr Ehemann kam zurück und sie merkte sofort, daß er etwas getrunken hatte, was sie irgendwie annervte. Da wollte er mit ihr reden und dann so etwas! Na toll! Das konnte ja was werden! „Schön, daß Du auf mich gewartet hast! Ich muß Dir ein Geständnis machen“, lallte er. „Na, da bin ich aber gespannt. Wenn Du mir gestehen willst, daß Du getrunken hast, dann glaube ich Dir das sofort, denn das merke ich“, entgegnete sie. „Nein, das war nur notwendig, damit ich die Karten offen auf den Tisch legen kann. Weißt Du, ich glaube, daß es besser ist, wenn wir uns trennen.“ Anita war schockiert. Erst glaubte sie an einen schlechten Scherz, doch Bodo gehörte eigentlich nicht zu den Leuten, die Witze machten und solche schon gleich gar nicht. „Aber warum das denn?“ wollte sie entgeistert wissen. „Ach, ich fühle mich nicht mehr wohl in unserer Beziehung, alles ist so langweilig und beliebig geworden, wir leben nebeneinander her und wenn wir nicht Titus hätten, dann gäbe es für uns schon lange überhaupt keinen Grund mehr, zusammenzuleben.“ Das saß, sie war fertig.

Später hatte sie natürlich noch herausgefunden, daß hinter der ganzen Sache wesentlich mehr steckte und das erzählte sie am Tag darauf ihrer Arbeitskollegin: „Ja, natürlich hat er eine Neue und zwar schon seit drei Monaten. Ich habe nichts davon gemerkt und er hat es gut vor mir verborgen. Jetzt weiß ich nicht mehr weiter. Ich meine, für mich ist das der totale Schock, denn damit war aus meiner Sicht überhaupt nicht zu rechnen, aber es hilft alles nichts,“ jammerte Anita. „Du Arme. Das hast Du wirklich nicht verdient“, glaubte ihre Kollegin. „So, was hätte ich denn Deiner Meinung nach verdient?“ „So war das doch nicht gemeint, sei doch nicht gleich so empfindlich! Aber vielleicht ist es auch das Beste für Euch alle, denn was nützt eine Ehe, die eigentlich gar keine mehr ist?“ „Du hast doch überhaupt keine Ahnung! Ich habe Bodo immer geliebt und ich liebe ihn immer noch! Natürlich hat auch er seine Fehler und Schwächen, aber die hat jeder Mensch, außer Jesus vielleicht. Ich bin völlig am Ende.“ Daraufhin betrat eine Kundin den Laden und Anita war erst einmal abgelenkt. Allerdings war es mit ihrem Job auch so eine Sache: Da gab es zum Beispiel die Kundinnen, die einfach nur schauen wollten, alles anfassen mußten, nichts kauften und wieder verschwanden; die waren zwar auch irgendwie nervig, aber im Grunde harmlos. Dann waren da aber noch diejenigen, die wirklich anstrengend waren und zwar handelte es sich dabei um Frauen, die meist ziemlich scheiße aussahen, sich aber für eine Schönheit oder gar eine Königin hielten und dementsprechend hofiert werden wollten. Bei denen mußte sich Anita immer sehr verstellen und das fiel ihr umso schwerer, da sie gerade den Schock ihres Lebens zu verkraften und zu verarbeiten hatte. Der Kundin fiel recht schnell auf, daß Anita nicht bei der Sache war und das sprach die Frau auch sofort direkt an. Anita murmelte irgendeine Entschuldigung, doch die Frau nervte weiter und irgendwie hatte Anita das blöde Gefühl, daß das alles erst der Anfang war. Sie spürte, daß ihre Welt aus den Fugen geraten war, doch sie wollte das nicht wahrhaben und erst recht nicht hinnehmen; sie wollte um ihr Glück, das sie sich ihrer Ansicht nach hart erarbeitet hatte, kämpfen und deswegen überlegte sie sich auf der Heimfahrt, was sie ihrem Mann sagen wollte. Der war da, sogar nüchtern und spielte gerade mit seinem Sohn, was ihr beinahe das Herz brach. Alles schien so wie immer zu sein, die Fassade wurde künstlich aufrechterhalten, doch alle wußten, daß es so nicht mehr weitergehen würde. „Ich muß mit Dir reden“, ließ sie verlauten. „Jetzt nicht, ich bin beschäftigt“, erwiderte er. Das verletzte sie sehr und sie zog sich ins Schlafzimmer zurück um zu heulen. Eine Stunde später setzte sie sich zu ihm an den Küchentisch und fragte: „Liebst Du mich denn überhaupt nicht mehr?“ „Darum geht es nicht. Ich habe endlich die Frau gefunden, die wirklich zu mir paßt.“ „Und was wird aus Titus?“ „Der wird sich daran gewöhnen. Unsere Ehe war doch schon lange nicht mehr das Wahre, da brauchen wir uns doch wirklich nichts vormachen. Du lebtest Dein Leben, ich das meine und so vergingen die Jahre, ohne daß wir uns wirklich miteinander beschäftigten. Sabine ist da ganz anders, die interessiert sich für mich und das, was ich tue; sie teilt auch alles mit mir und bei ihr fühle ich mich rundum wohl, geborgen und glücklich. Sie soll die Frau meines Lebens werden und das mit uns war ganz in Ordnung, aber warum mit etwas Gutem zufrieden sein, wenn man etwas Besseres haben kann?“ Nach diesen Worten stand er auf und ging, sie fragte ihn nicht wohin, denn sie konnte es sich ohnehin schon denken. Traurig legte sie sich auf ihr Bett und erst jetzt wurde ihr klar, daß da viel mehr als eine Beziehung zerbrochen war; sie hatte außerdem in einer Scheinwelt gelebt, die überhaupt nicht existiert hatte und das machte ihr noch viel mehr zu schaffen. Würde sie jemals wieder glücklich sein können? Dieser undankbare Kerl, was bildete sich der eigentlich ein? Wie konnte er sie nur dermaßen verletzen? Das Leben war ein Schwein, das stand für sie fest, aber irgendwie mußte sie sich damit arrangieren.

Mit Titus wurde es auch immer schwieriger, denn der checkte natürlich, daß da etwas nicht stimmte und war deswegen selber völlig durcheinander, weshalb er seine Launen und Stimmungsschwankungen auch an seiner Mutter ausließ. Die kam damit überhaupt nicht zurecht, hatte jedoch mit sich und ihren Problemen genug zu tun. „Wissen Sie, früher war Ihr Sohn immer einer der Besten in der Klasse, aber seit ein paar Wochen führt er sich sehr merkwürdig auf. Er ist aggressiv, läßt sich nichts sagen und stört andauernd den Unterricht“, durfte sich Anita auf dem Elternsprechtag in der Schule anhören. „Na ja, es gibt bei uns daheim ein paar Probleme“, gab Anita zu. „Das habe ich mir schon gedacht, allerdings müssen wir etwas unternehmen, denn so kann es nicht weitergehen.“ „Das verstehe ich ja, aber irgendwie weiß ich nicht, was ich da persönlich dagegen tun kann.“ „Vielleicht sollten Sie und Ihr Mann erst einmal mit Titus reden und wenn das nichts hilft, dann müßten Sie halt auf professionelle Hilfe zurückgreifen.“ „Aber genau das ist es ja: Mein Mann ist nicht Teil der Lösung, sondern des Problems. Er will mich nämlich verlassen.“ „Das tut mir leid, aber so etwas habe ich mir fast schon gedacht. Nehmen Sie es bitte nicht persönlich, aber ich habe mich schon immer gefragt, was so ein toller Typ wie Ihr Mann an einer Frau wie Ihnen findet.“ Schön langsam wurde es Anita wirklich zu bunt. Es hieß ja immer wieder mal, daß, wenn man am Boden lag, die Leute noch extra auf einem herumtrampelten, aber wenn man es dann selber am eigenen Leib spürte, dann war das schon noch mal etwas völlig Anderes. Sie sprang auf und verschwand ohne ein weiteres Wort, denn so etwas mußte sie sich ja wohl nun wirklich nicht geben. Was für ein Scheißleben! In der Arbeit wurde es auch immer unangenehmer und das lag nicht etwa daran, daß sich dort irgendetwas geändert hatte; ganz im Gegenteil, alles war so wie immer und genau das regte Anita auf. Irgendwie hatte sie das Gefühl, daß ihr Leben und damit auch sie stillstand, doch dem war nicht so, es veränderte sich ja ständig etwas, allerdings in eine Richtung, die ihr nicht behagte. „Anita, kann ich mal kurz mit Ihnen reden?“ erkundigte sich ihre Chefin bei ihr. „Ja klar. Was gibt’s denn?“ „Mir ist aufgefallen, daß Sie in letzter Zeit nicht ganz bei der Sache sind und daß sich unsere Kundinnen immer häufiger über Ihre schlechte Beratung beschweren und das kann ich natürlich so nicht stehen lassen. Also, entweder reißen Sie sich gefälligst zusammen, oder wir müssen uns von Ihnen trennen.“ Das saß. Noch so ein Schlag unter die Gürtellinie. Sollte sie jetzt etwa alles verlieren, was ihr etwas bedeutete? War sie verflucht, oder was? Anita verstand die Welt nicht mehr und als sie mit ihrem Psychologen darüber reden wollte, da winkte der nur gelangweilt ab und behauptete, er hätte sie andauernd davor gewarnt, aber sie hätte seine Mahnungen ja nie ernst genommen, deshalb brauche sie jetzt auch nicht angeschissen kommen und ihm die Ohren volljammern, denn sie sei selber schuld an ihrem Schicksal; schließlich habe sie ihren Mann über Jahre total vernachlässigt und das mit dem Job wäre auch kein Wunder, denn so wie sie immer über die Kundinnen hergezogen hätte, überrasche es ihn kein bißchen, daß sie jene schlecht bediente. Anita war völlig am Boden zerstört, sie wußte einfach nicht mehr weiter und da es ihr so beschissen ging, traf sie sich mit einem Mann, den sie schon lange kannte und zu dem sie nur trottete, wenn sie am Ende war. Dabei handelte es sich um Arnd, den Barkeeper, der eine kleine Kneipe besaß, in die sich Anita nur selten verirrte, denn eigentlich fühlte sie sich unter den ganzen Alkoholikern nicht wohl, doch es gab so Phasen in ihrem Leben, in denen sie genau das brauchte, um zu erkennen, daß es ihr bei Weitem nicht so schlecht wie anderen Leuten ging. Es war der Vergleich mit Anderen, der einen wieder zu sich kommen ließ und in gewisser Weise auch am Leben hielt, denn ansonsten wäre sie schon längst vor die Hunde gegangen und hätte sich in ihrer Badewanne voller Selbstmitleid ersäuft. Arnd begrüßte sie erfreut:

„Anita, was für eine tolle Überraschung! Mit Dir hätte ich ja nie im Leben gerechnet! Eigentlich ist es ja wirklich schade, daß Du immer nur hier auftauchst, wenn es Dir beschissen geht, aber damit muß ich wohl leben. Also, was ist los mit Dir?“ „Alles geht in die Binsen, meine Ehe ist kaputt, in der Arbeit habe ich nur Streß und Ärger, mein Sohn dreht am Rad und irgendwie habe ich das Gefühl, daß ich bald völlig auf mich allein gestellt bin.“ „Wie meinst Du das?“ „Na ja, wenn der Stein erst einmal ins Rollen kommt, dann ist er nur schwer zu stoppen. Ich glaube inzwischen fast, daß ich mein ganzes Leben auf einer Lüge aufgebaut habe und zwar auf dieser scheinbar funktionierenden Beziehung, die nur eine Farce gewesen zu sein scheint und jetzt, nachdem der Lack ab ist, wird erst sichtbar, was bei mir noch alles im Argen liegt.“ „Ach, weißt Du, das ist alles relativ, ich habe da schon viel schlimmere Geschichten gehört. Du bist eine junge Frau, Du findest immer einen Mann und einen Job, da gibt es für mich überhaupt keine Zweifel. Veränderung ist gut, man braucht wieder neue Impulse und einen frischen Wind im eigenen Leben. Schau, hier sitzen Leute, die sind wirklich arm dran. Keinen Job, keine Frau, keine Kinder, keine Perspektive, da stehst Du immer noch gut da.“ „Mag sein, aber das Fundament bröckelt und wenn irgendwann mal alles einstürzt, dann stellt sich für mich schon die Frage, wie ich darauf reagieren werde.“ „Das Leben findet immer einen Weg. Vielleicht ist das gerade die Chance Deines Lebens! Womöglich triffst Du schon bald auf den Mann, der wirklich zu Dir paßt und Dich so liebt wie Du bist.“ „Na ja, bisher hatte ich ja immer geglaubt gehabt, daß Bodo derjenige wäre welcher.“ „Was ja ein Irrtum war, wie sich wohl gezeigt hat. Trauere nicht der Vergangenheit hinterher, die ist vorbei.“ „Na ja, Du redest Dich leicht, Du kennst keine Verantwortung, machst einfach Dein Ding, gehst jede Woche mit einer anderen Frau ins Bett und stiehlst Dich dann wieder davon. Ich aber habe eine bisher intakte Familie, es geht da um viel mehr, wir haben uns das alles in vielen Jahren aufgebaut und auf einmal soll das nichts mehr wert sein?“ „Anita, ich kann verstehen, daß Du verletzt und angepißt bist, aber es bringt jetzt auch nichts, auf mich einzuschlagen, denn ich lebe mein Leben und das ist meine Sache. Mir geht es gut damit und von den Frauen hat sich auch noch nie eine darüber beschwert, Ausnahmen bestätigen die Regel. Manche Weiber können halt einfach nicht begreifen, daß sie nur eine Affäre sind und die müssen dann halt leiden, weil sie nicht mit dem kleinen Finger zufrieden sein wollen, sondern die ganze Hand fordern.“ „Schon gut, war ja nicht böse gemeint. Jedenfalls bin ich echt im Arsch, denn für mich kommt das alles so plötzlich und unerwartet. Noch vor ein paar Tagen war ich felsenfest davon überzeugt, das perfekte Leben zu führen und wirklich glücklich zu sein.“ „Das glaube ich Dir gerne, aber so ist es oft im Leben: Genau in dem Augenblick, in dem man glaubt, daß alles paßt und funktioniert, geschieht etwas Unerwartetes und man wird auf den Boden der Tatsachen zurückgeworfen. Das ist das Leben und macht auch seinen Reiz aus.“ „Ja, toll, aber solche Sprüche helfen mir jetzt gerade auch nicht weiter. Was soll ich nur tun?“ „Höre auf die Stimme in Dir! Du weißt selbst am allerbesten, was gut für Dich ist.“ „Na, das war doch wenigstens mal ein vernünftiger Vorschlag!“ freute sich Anita, bezahlte, stand auf und ging. Arnd blickte ihr nachdenklich hinterher. Sie war seiner Meinung nach eine von den Frauen, die alles, was sie sich mühsam mit den Händen aufgebaut hatten, mit dem eigenen Arsch wieder einrissen. Er kannte die Geschichten von vielen Leuten, etliche Tragödien hatte er sich schon mit anhören müssen. Aus seiner Sicht jammerte Anita auf einem ziemlich hohen Niveau, aber wenn sie sich damit besser fühlte, dann sollte sie das halt tun. Es gab mehr als genug Leute, denen es schlechter als ihr ging, doch meistens schauten die Menschen nur auf sich und beklagten ihr eigenes Elend. Der Blick über den Tellerrand war unerwünscht, dabei wäre er oft so heilsam gewesen.

Titus wurde immer anstrengender, Bodo ließ sich fast überhaupt nicht mehr blicken, ihre Eltern nervten sie auch immer mehr und in der Arbeit war es fast nicht mehr auszuhalten. „Aber Sie müssen mir doch sagen können, ob mir diese Bluse steht oder nicht“, ließ eine ältere Kundin von sich hören. „Na ja, ich bin mir da eben nicht so ganz sicher. Eigentlich schon, aber irgendwie sehen Sie damit auch merkwürdig aus“, gab Anita zu. „Also das ist doch wirklich die Höhe! Was man sich hier alles bieten lassen muß!“ empörte sich die Frau und ging. „Aber Anita, Du kannst doch den Kundinnen nicht einfach die Wahrheit ins Gesicht sagen“, meinte ihre Arbeitskollegin tadelnd zu ihr. „Warum denn nicht?“ „Weil wir hier sonst nichts mehr verkaufen würden. Unsere Kundinnen wollen Honig ums Maul geschmiert bekommen, die möchten im wahrsten Sinne des Wortes bedient werden und das weißt Du eigentlich auch.“ „Natürlich weiß ich das, aber irgendwie habe ich darauf keinen Bock mehr.“ „Darum geht es nicht. Entweder Du paßt Dich an und funktionierst, oder die schmeißen Dich raus.“ „Und wenn schon? Schön langsam ist mir das alles egal.“ „Aber hallo! Du hast immerhin einen Sohn, für den Du zu sorgen hast.“ „Um den kann sich sein Vater kümmern.“ „Schön langsam mache ich mir wirklich Sorgen um Dich. Vielleicht solltest Du mal einen Psychologen aufsuchen.“ „Bei dem war ich schon, der hat gemeint, das geschehe mir recht.“ „Na sowas aber auch! Das klingt nicht sehr professionell. Wie dem auch sei, Du mußt irgendetwas tun, denn wenn Du so weitermachst, dann stehst Du bald auf der Straße.“ „Was soll’s? Irgendwie geht es immer weiter.“ Anita war nicht mehr wiederzuerkennen, ihr wurde alles zuviel und sie zog sich immer mehr zurück. Ihre Freunde und Bekannten machten sich Sorgen und wollten ihr helfen, aber sie ging einfach nicht ans Telefon und wollte niemanden sehen. Mit ihrem Sohn kam sie überhaupt nicht mehr zurecht und als ihre Eltern verkündeten, daß sie sich nicht mehr um ihn kümmern würden, da er in letzter Zeit so frech und aufsässig geworden sei, brach wieder eine Sicherheit in ihrem Leben weg. „Womit habe ich das alles nur verdient? Ist es das, was ich immer haben wollte? So schlimm kann ich doch nicht sein, daß ich so eine Bestrafung auf mich gezogen habe,“ glaubte sie. Anita wurde immer unruhiger und unleidlicher, niemand wollte mehr Kontakt zu ihr haben und in der Arbeit ließen sich die Kundinnen absichtlich von den anderen Verkäuferinnen beraten, denn die negative Energie, welche Anita ausstrahlte, war nur schwer auszuhalten. So überraschte es sie nicht wirklich, als eines Tages die Kündigung ins Haus flatterte und damit war Anita ein freier Mensch, doch sie sah das vollkommen anders, denn für sie bedeutete das den Anfang vom Ende. Kein Mann, kein Job, nur Streß und Ärger, sie hatte eigentlich keinen Bock mehr, aber noch war sie nicht an dem Punkt angekommen, an dem es für sie nicht mehr weiterging. Anita ging zur Agentur für Arbeit, um sich dort arbeitslos zu melden, sie durfte den ALG I-Antrag ausfüllen und war damit finanziell erst einmal für ein Jahr abgesichert. Danach begann sie damit, zu versuchen, ihr Leben wieder auf die Reihe zu kriegen; sie ging tief in sich selbst und überlegte, was ihr wichtig war und worauf sie problemlos verzichten konnte. Nach wie vor ging es ihr nicht wirklich schlecht, sie hatte sich inzwischen daran gewöhnt, keinen Mann mehr zu haben und auch ihr Sohn wurde wieder etwas verträglicher. Alles in allem schien sie mit einem blauen Auge davongekommen zu sein, denn nun hatte sie die Zeit dafür, die Dinge zu machen, auf die sie schon immer Lust hatte und so begann sie damit, sich ein wenig selbst zu verwirklichen; ihre Laune besserte sich und nach einer Weile glaubte sie, ihr Leben wieder in den Griff bekommen zu haben. Sie bewarb sich, doch man wollte sie nicht, was sie nicht weiter störte, denn eigentlich hatte sie auch gar keinen Bock mehr auf den öden Job als Verkäuferin. Erst jetzt merkte sie so richtig, was ihr eigentlich wichtig war und das war schon ein gutes Gefühl, sich mit sich selbst zu beschäftigen.

Die Monate vergingen und Anita lernte, daß das Leben nicht immer nur supertoll oder richtig ätzend, sondern manchmal auch total normal, durchschnittlich und langweilig sein konnte. Hin und wieder raffte sie sich auf, doch die meiste Zeit hing sie nur herum, die Antriebslosigkeit war nach und nach zu ihr zurückgekehrt, denn sie konnte es immer noch nicht fassen und hatte es nach wie vor nicht verkraftet, daß Bodo sie verlassen hatte. Aber so war das halt im Leben, man konnte sich nicht alles aussuchen und mußte sich auch mit Unannehmlichkeiten auseinandersetzen. „Vielleicht war es ja auch ein bißchen meine Schuld“, kam ihr eines Tages in den Sinn, als sie mal wieder mit Ulrike beisammen saß und jene stieg sofort darauf ein, nachdem Anita jenen Gedanken ausgesprochen hatte. „Absolut. Weißt Du, ich mag Dich wirklich gern und will Dir auch nicht zu nahe treten, aber im Grunde bist Du schon ein egoistisches kleines Arschloch.“ „Wie nett! Vielen Dank für die Blumen! Ich finde Dich übrigens auch unausstehlich!“ Sie lachten, aber irgendwie fühlten sie sich auch komisch, denn ihr Lachen war nicht echt. „Was ich Dir schon immer mal sagen wollte: Es kotzt mich an, daß wir uns die ganze Zeit nur über Dich und Deine Probleme unterhalten“, legte Ulrike nach. „Aber das stimmt doch überhaupt nicht! Erst letzte Woche haben wir über Deine Unfähigkeit, einen passenden Mann für Dich zu finden, geredet“, widersprach Anita. „Ja, für zehn Minuten und danach ging es gleich wieder um Deine Typen, die Du abgeschleppt hast.“ „Also wirklich, das muß ich mir nicht bieten lassen! Immer diese Halbwahrheiten und Lügen!“ erregte sich Anita und sprang auf. „Ach, wenn man Dir die Wahrheit ins Gesicht schleudert, dann wirst Du auf einmal komisch, Du Überempfindliche! Immer kräftig austeilen, aber nie etwas einstecken wollen.“ Anita hatte die Schnauze gestrichen voll und ging. Auf wen konnte man sich denn eigentlich überhaupt noch verlassen, das war die Frage, die einsam zurückblieb und welche sie nicht beantworten konnte. Alles war so beliebig, so austauschbar geworden, die Menschen um sie herum glichen einer gallertartigen Masse und immer wenn sie Pudding an die Wand nageln wollte, wurde sie damit konfrontiert, daß ihr Leben nicht mehr dasselbe war. Mit Titus lief es einigermaßen gut, seinen Vater sah er regelmäßig und der zahlte auch brav die Alimente, doch tief in ihrem Inneren spürte Anita, daß sie nie wieder jemandem richtig vertrauen würde können, da die Enttäuschung einfach zu kraß gewesen war. „Ich bin kein glücklicher Single“, bemerkte sie bei einem Blind Date und ihr Gegenüber erklärte: „Bei mir wechselt das immer hin und her. Manchmal bin ich so froh darüber, allein zu sein und an anderen Tagen halte ich es mit mir einfach nicht aus.“ „Was wäre, wenn ich Ihnen gestehen würde, daß ich immer noch an meinem Ex-Mann hänge, also emotional natürlich.“ „Dann würde ich das ganz normal finden, schließlich waren Sie mit ihm verheiratet und er ist auch noch der Vater Ihres Kindes.“ „Genau genommen bin ich auch noch mit ihm verheiratet. Scheiden tut nicht nur weh, sondern dauert auch verdammt lange. Ich wünsche mir nur, daß der Schmerz des Verlassenwordenseins eines Tages mal nachläßt.“ „Ja, das hoffe ich auch für Sie, denn erst dann werden Sie für eine neue Beziehung wirklich offen sein.“ „Ja, das glaube ich auch.“ Anita spürte, daß sie immer noch nicht so weit war, wie sie gerne gewesen wäre, aber es ging langsam vorwärts, auch wenn es bei der Jobsuche irgendwie überhaupt nicht lief, was natürlich auch damit zu tun hatte, daß sie nicht wirklich arbeiten wollte. Doch das Ende des ersten Jahres rückte näher und das bedeutete, daß es mit dem ALG I bald vorbei sein würde und das ALG II stand bereits drohend vor der Tür und wartete unruhig darauf, eingelassen zu werden. Anita war nicht scharf darauf, wieder in die Agentur für Arbeit zu marschieren, aber es blieb ihr nichts Anderes übrig, denn wer von Vater Staat Geld wollte, der mußte dafür auch Einiges in Kauf nehmen, schließlich war nur der Tod umsonst und der kostete bekanntlich das Leben. Ach ja.

„Also, wir haben natürlich ein Interesse daran, Sie so schnell wie möglich in Arbeit zu vermitteln und ich hoffe sehr, daß das bei Ihnen auch der Fall ist“, machte die Arbeitsvermittlerin, die für Anita zuständig war, deutlich. „Aber selbstverständlich“, log die Angesprochene. „Sehr schön, das höre ich gerne. Wissen Sie, es gibt hier nämlich immer mehr Kunden, die überhaupt keine Lust haben zu arbeiten und mit denen tun wir uns verständlicherweise recht schwer, denn die machen immer nur das, was unbedingt nötig ist, also quasi Dienst nach Vorschrift.“ „Na ja, aber das machen Sie hier doch bestimmt auch.“ „Das habe ich jetzt überhört. Frau Becker, wir wollen, daß Sie Ihren Lebensunterhalt wieder selbst bestreiten können und deswegen werden wir, insbesondere ich persönlich, alles dafür tun, um Sie in Arbeit zu vermitteln. Aus diesem Grund werden wir nun ein Profil von Ihnen erstellen und Sie werden mir Ihre besonderen Stärken und Fähigkeiten nennen, damit wir eine zu Ihnen passende Stelle für Sie finden.“ Das klang alles durchaus verheißungsvoll und so ließ sich Anita darauf ein, sie fand ihren Elan wieder und arbeitete mit ihrer Arbeitsvermittlerin ausgezeichnet zusammen. Es war, als wenn man jemanden kennenlernte und sich mit demjenigen anfreundete; anfangs hatte man sich unheimlich viel zu erzählen, doch mit der Zeit konnte man sich einschätzen und die Themen wiederholten sich. So war es leider auch in diesem Fall: Die Arbeitsvermittlerin erkannte recht schnell, daß Anita ziemlich hohe Ansprüche hatte und deshalb nicht bereit war, unter ihren Möglichkeiten zu bleiben. „Hören Sie, Frau Becker! Heutzutage muß man auch mal kleinere Brötchen backen. Sie werden da draußen garantiert nicht Ihren Traumjob finden, so viel kann ich Ihnen jetzt schon mal versprechen. Seien Sie lieber froh, wenn Sie überhaupt eine Stelle finden, die Ihnen einigermaßen brauchbar erscheint.“ „Na super, aber wie soll ich mich dann motivieren? Ich sehe es nun mal nicht ein, für 900 Euro im Monat 40 Stunden in der Woche malochen zu gehen, da kann ich ja gleich zuhause bleiben.“ „Sehen Sie und genau aus dem Grund gibt es in unserem Land immer mehr Leute, die der Meinung sind, daß man das ALG II kürzen müßte, damit endlich wieder mehr Anreize geschaffen würden, sich Arbeit zu suchen.“ „Nein, es müßte endlich einen Mindestlohn geben, dann würde sich Arbeit nämlich auch wieder lohnen“, erwiderte Anita. „Ja, das sagen die von der anderen Fraktion. Nichtsdestotrotz kommen wir so nicht weiter, Frau Becker. Ich befürchte, ich werde nicht umhinkommen, Sie zu sanktionieren, denn ich werde das Gefühl nicht los, daß Sie sich mit Ihrer Arbeitslosigkeit zu arrangieren beginnen.“ „Hören Sie mal, ich bin alleinerziehend!“ „Seien Sie froh! Stellen Sie sich vor, Sie wären Alien erziehend, dann würden Sie gar nichts bekommen. Ausländer und Aliens mögen wir nämlich nicht sonderlich.“ „Ja, das kann ich mir ganz gut vorstellen. Ich will arbeiten, aber wenn Sie mir nur so Scheißjobs anbieten, dann kann ich das halt einfach nicht.“ „Ach, jetzt wäre auf einmal die unfähige Arbeitsvermittlerin schuld an der ganzen Misere. Na vielen Dank aber auch! Was kann ich denn dafür, wenn Sie Ihren Arsch nicht hochkriegen? Es ist schließlich Ihr eigenes Leben, welches Sie sich da versauen.“ „Mir geht es eigentlich ganz gut.“ „Genau das ist das Problem! Sie haben es sich in der sozialen Hängematte gemütlich gemacht und wollen aus der überhaupt nicht mehr raus. Aber Ihnen werde ich schon Beine machen! Wenn hier nämlich jemand nicht arbeitet, dann sind das immer noch wir.“ „Das ist mein Leben und es ist meine Sache, was ich daraus mache.“ „Grundsätzlich richtig, aber wenn Sie Geld vom Staat wollen, dann müssen Sie dafür auch etwas leisten, das wäre sonst ja noch schöner! Ich werde Ihnen nun Ihr ALG II kürzen und dann werden wir ja sehen, ob Sie endlich zur Vernunft kommen, oder einfach so weitermachen wie bisher. Durch Zwang Chancen eröffnen, so lautet unsere Devise, wer nicht hören will muß fühlen.“ „Blöde Fotze!“ zischte Anita, bevor sie sich verdrückte. „Gut, dann kürzen wir halt um 20 Prozent.“

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Objętość:
90 str. 1 ilustracja
ISBN:
9783738045864
Wydawca:
Właściciel praw:
Bookwire
Format pobierania:
Audio
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