Asian Princess

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Asian Princess
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THOMAS

EINSINGBACH

ASIAN PRINCESS

THRILLER

mitteldeutscher verlag

2017

© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagabbildung: fotolia.com – Jiri Hera / Teteline

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

ISBN 978-3-95462-968-8

E-Book-Umsetzung: Zeilenwert GmbH

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

PROLOG

Lacrimosa dies illaTränenreich ist jener Tag. Aus der Einsegnungshalle schwebten die Streicherstimmen des berühmten Requiems. William LaRouche beobachtete, wie eine elfenbeinfarbene Limousine den Ruländerweg zum Friedhofstor hinaufkroch. Dort angekommen, entstieg zuerst der Fahrer. Er umrundete das Fahrzeug, öffnete die Beifahrertür und bot einer Dame seine Hilfe beim Aussteigen an. Die hochgewachsene Frau trug einen dunkelbraunen Kamelhaarmantel und einen breitkrempigen Hut, dessen Schleier ihr Gesicht verbarg. Viele der Trauergäste wendeten sich ab. Nur wenige brachten den Mut für einen direkten Blick auf. Nie zuvor hatte William eine vergleichbare kollektive Bedrücktheit wahrgenommen, die noch dazu bei manchem mit einer verschämten Sensationslust verknüpft zu sein schien.

Die Menschen waren zum Katzenberg gepilgert – hinauf zum Friedhof, auf dem die Toten zu dieser frühen, schattigen Stunde nur selten in ihrer letzten Ruhe gestört wurden. Die Laubbäume zwischen den Grabreihen hatten längst ihre Blätter verloren. Pelziger Raureif ummantelte die kahlen Verästelungen und über allem lagen die Fetzen aufsteigender Dunstschwaden einer feuchtkalten Herbstnacht. Der Altweibersommer, der die Gegend in den letzten Wochen immer wieder mit Sonnenschein und angenehmen Temperaturen verwöhnte hatte, war Vergangenheit. Es roch nach Winter. Die Weingärten ringsum waren längst abgeerntet. Besonders der Spätburgunder versprach in diesem Jahr eine ordentliche Qualität, die ihre Liebhaber finden sollte.

Williams Blick strich über den Vorplatz der Trauerhalle,wo die in Grau und Schwarz gekleidete Gemeinde unruhig den Kies unter ihren Tritten knirschen ließ und weiße Atemwolken in den ungemütlichen Morgen des dritten Novembertages stieß. Zweifellos stand die bemerkenswerteste Beisetzung bevor, die man auf dem Katzenberg bis zu diesem Tage gesehen hatte. William konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass einige der Anwesenden das Gefühl auskosteten, Zeugen des letzten Aktes einer Verbrechensserie zu sein, die ganz Süddeutschland aufgewühlt hatte.

Nach all dem, was geschehen war, konnte auch William sich unmöglich auf die Position eines neutralen Beobachters zurückziehen. In den letzten Wochen hatte er die Bekanntschaft etlicher der Trauergäste gemacht, von denen eine Handvoll sogar verwandtschaftlich mit ihm verbunden war. Er spürte vereinzelte Blicke, die ihn halb zufällig, halb mit Vorsatz erreichten. In nicht allen erkannte er die wohlwollende Gastfreundschaft wieder, mit der er anfangs begrüßt worden war. Die Bluttaten, an deren Aufklärung er mitgewirkt hatte, würden auf ewig mit der beschaulichen Region um die älteste Universitätsstadt Deutschlands verwoben sein, die so stolz auf ihren tadellosen Ruf gewesen war.

 

Kamerateams bemühten sich derweil, ratlose Gesichter einzufangen, um damit die Ungeheuerlichkeit des Geschehenen zu unterstreichen. Reporter mit lässig verknoteten Schals umklammerten ihre Mikrofone und resümierten betroffen vor starren Objektiven noch einmal die schrecklichen Ereignisse.

Lacrimosa dies illa. Das eigene Kind zu Grabe zu tragen, zerreißt jeder Mutter das Herz. Für einen Moment schien die Frau mit dem Schleier zu zögern. Wäre es für alle nicht erträglicher, wenn sie umkehren würde? In diesem Moment löste sich ein anderes weibliches Wesen, deutlich kürzer an Wuchs, dunkelgrau gekleidet und mit farbenfrohen Accessoires geschmückt, aus der Menge. Sie schritt mutig auf die Vermummte zu. Die beiden Frauen umarmten sich, die kleinere strich der längeren dabei liebevoll über den Rücken. Ein kahlköpfiger, rundlicher Mann in einem halblangen Allwettermantel legte seine Hand auf die Schulter eines jungen Rollstuhlfahrers, der zu ihm aufblickte und stumm nickte. Dann bahnten sich die beiden Frauen den Weg durch das zurückweichende Menschenspalier zur Einsegnungshalle.

1

Einige Monate früher …

Es war ein lauer Spätsommerabend, viel wärmer, als es die Wettervorhersage angekündigt hatte. Und geregnet hatte es ebenso wenig. Hildegard Möller-Schwinnhoff begleitete ihre Freundinnen zur Tür. Betty, die Haushälterin, reichte den Damen ihre Sommermäntel, die allesamt in gedeckten Weißtönen gehalten und damit schwer zu unterscheiden waren. Dann wurden die Hüte und die vorsichtshalber mitgeführten Schirme verteilt. Man verabschiedete sich und versprach, in zwei Wochen wieder vollzählig zum Bridgespiel in der Villa Raabe zu erscheinen.

Nachdem die Gastgeberin ihrer Angestellten beim Aufräumen im Salon zur Hand gegangen war, fühlte sich die bald achtzig Jahre alte Witwe ein wenig schläfrig. Sie gab Betty für den Rest des Abends frei, die daraufhin freudig ihre Badesachen packte, um sich ein paar erholsame Stunden in den Taunusthermen im nahe gelegenen Bad Homburg zu gönnen, die an Samstagen erst um Mitternacht schlossen.

Hildegard Möller-Schwinnhoff zog sich in ihr Schlafzimmer in der ersten Etage zurück. Dort setzte sie sich in ihren Lieblingssessel ans Fenster. Um diese Jahreszeit, dem Übergang vom Spätsommer zum frühen Herbst, schien es die Sonne jeden Tag eiliger zu haben, der Dunkelheit das Regiment zu überlassen. Der Blick der betagten Dame streifte von der Höhenlage am Fuße des Altkönigs über die Hügellandschaft des Vordertaunus, strich über das kleine Steinbach, die Bürostadt Eschborn bis hinunter nach Frankfurt, wo die beeindruckende Skyline des Banken- und Finanzzentrums in der Abenddämmerung glitzerte.

Hildegard war ein wenig blümerant zumute. Die Roteichen und Bergulmen, die das Anwesen umgaben, schienen im Zwielicht zu verschmelzen und das Blattwerk tanzte blass verschwommen vor ihren Augen. Ihr fiel ein Eichendorff-Gedicht ein: Dämmrung will die Flügel spreiten, schaurig rühren sich die Bäume, Wolken ziehn wie schwere Träume – Was will dieses Graun bedeuten?

Wahrscheinlich der niedrige Blutdruck, überlegte sie. Oder war es der Eierlikör, dem man während des Kartenspiels in geselliger Runde zugesprochen hatte? Sie schloss die Augen und erinnerte sich an Josef, ihren verstorbenen Mann. Blümerant. Dieses Wort schien auf ewig mit Josef verknüpft zu sein. Auch er hatte sich stets blümerant gefühlt, wenn er zu tief ins Glas geschaut oder in der Sommerhitze seine Kopfbedeckung vergessen hatte. Sie war fünfzig Jahre mit diesem Mann verheiratet gewesen, ehe er dahingegangen war. Hildegard wollte nicht klagen. Sie hatte zwei anständige Söhne und es fehlte ihr an nichts. Selbst gesundheitlich war sie ihrem Alter entsprechend zufrieden. Manchmal kam es ihr unnatürlich vor, dass sie sich an keinen einzigen Streit mit Josef oder den Kindern in all den Jahrzehnten entsann. Aber so war es nun einmal gewesen. Vielleicht hatte es daran gelegen, dass im Hause Möller-Schwinnhoff grundsätzlich wenig gesprochen wurde, denn Josefs Lebens- und Hausregel lautete: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.

Gold hatte es auch nach seinem Tod genug gegeben. Als das Testament geöffnet wurde, war selbst Rechtsanwalt Messerschmidt, der langjährige Vertraute und beste Freund ihres Mannes, überrascht gewesen, dass Josef mehr als die Hälfte seines Millionenvermögens in Gold und Schmuck investiert hatte. Der Verschiedene gehörte einer Generation an, die Papiergeld misstraute und, obwohl er jahrelang der bedeutendsten deutschen Privatbank vorstand, im Persönlichen selbst um werthaltige Aktien und Immobilien, dem sogenannten Betongold, einen Bogen gemacht hatte.

Hildegard griff nach einer Sammlung romantischer Sonette von Heinrich Heine. Im Hirn spukt mir ein Märchen wunderfein, und in dem Märchen klingt ein feines Lied, und in dem Liede lebt und webt und blüht ein wunderschönes zartes Mägdelein. Und in dem Mägdlein wohnt ein Herzchen klein, las sie und legte das Buch beiseite. Sie schloss die Augen. Im Tresor der Villa Raabe fanden sich nach Josefs Tod Goldbarren, Schmuck, kostbare Uhren und Edelsteine. Von all dem hatte Hildegard zu Lebzeiten ihres Mannes keinen Schimmer gehabt. Einiges davon konnte sie mittlerweile verkaufen, aber das meiste war noch im Safe gebunkert. Plötzlich riss ein klirrendes Geräusch sie aus ihren Gedanken. Ihr fiel das halb gefüllte Glas Milch ein, das sie auf dem Küchentisch im Erdgeschoss hatte stehen lassen. Sicherlich war es eine der beiden jungen Katzen gewesen, die sich neugierig und ungeschickt an das Milchglas herangewagt hatte.

Als die einzige Hausangestellte die Villa verlassen hatte, war der Mann im Schutz der hereinbrechenden Nacht über die Parkmauer gestiegen und zu der Tür geschlichen, durch die man von der Küche in den Kräutergarten gelangte. Mit routinierten Handgriffen setzte er die veraltete Überwachungskamera außer Betrieb und brach das Schloss auf. Er schlüpfte in die Küche, wo sich seine Augen schnell an die Dunkelheit gewöhnten. Der Mann fluchte stumm, als er sah, wie zwei schwarz-weiß gefleckte Katzen auf den Küchentisch sprangen und kurz darauf ein Milchglas zu Boden ging, wo es zerbarst. Als daraufhin im Haus alles ruhig blieb, überprüfte er den Sitz seiner Skimaske, verstaute das Einbruchswerkzeug in seinem Rucksack und tastete nach der Waffe, die entsichert im Gürtel steckte. Er wusste genau, wohin er sich nun wenden musste. Er kannte den Grundriss der Villa und hatte sich auch mit dem Schließmechanismus des Tresors vertraut gemacht. Die Katzen, die sich nun über die verschüttete Milch hermachten, waren allerdings eine Überraschung. Der Mann stieg geräuschlos die Marmortreppe zur ersten Etage hinauf. Das Schlafzimmer mit dem Tresor befand sich am Ende des Ganges. Der Mann sah, dass die Tür nur angelehnt war und kein Licht brannte. Behutsam schob er die Tür auf und betrat den Raum.

Hildegard verfügte über einen ausgezeichneten Gehörsinn. Sie hörte einen ruhigen, kraftvollen Atem und Gummisohlen, die auf dem Fliesenboden kaum wahrnehmbar aufsetzten. Der Eindringling entnahm etwas aus seiner Tasche, es schien sich um einen Gegenstand aus Metall zu handeln. Hildegard wunderte sich, dass sie nicht die geringste Furcht verspürte.

„Guten Abend. Kann ich Ihnen behilflich sein?“, fragte sie mit ruhiger Stimme und blickte unverändert aus dem Fenster. Der Mann hielt verblüfft inne.

„Warum haben Sie nicht geläutet?“

Hildegard drehte sich nun zu ihrem unbekannten Gast und sah einen athletischen, schwarzgekleideten Mann. Sein Kopf steckte unter einer Skimaske und auf seinen Schultern lagen die Träger eines Rucksacks. Der Mann schob den Sessel samt Hildegard vom Fenster weg und packte die schmalen Handgelenke der alten Dame.

„Ich will keinen Muckser hören! Schweigen ist Gold! Schon mal gehört?“, zischte er, streifte den Rucksack ab und kniete sich vor den Kamin.

„Wenn Sie den Tresor öffnen wollen, brauchen Sie die Kombination. Es ist kein modernes Modell, aber äußerst robust. Mein Mann hat stets auf langlebige Qualität geachtet.“

Der Einbrecher schien überhört zu haben, was Hildegard gesagt hatte. Er entfernte die Verblendung der seitlichen Kaminwand, hinter der sich ein Geldschrank mit einem Vier-Scheiben-Schloss und einem mechanischen Schließzylinder befand. Aus dem Rucksack zog er einen schweren Hammer und einen Meißel.

„Junger Mann, Sie erleichtern sich die Sache und vermeiden unnötigen Lärm, wenn Sie die Kombination eingeben.“

Der Mann sah, wie die Frau vier zweistellige Zahlenkombinationen auf einen Notizzettel schrieb. Wortlos griff er nach dem Papier. Hildegard atmete flach und bemerkte erst jetzt, wie ihr Leib bebte. Natürlich war sie aufgeregt, aber noch immer hatte sie keine Angst. Wenn sie sich besonnen verhielt, würde ihr nichts geschehen. Der Mann machte einen vernünftigen Eindruck. Er war ein Räuber, aber ganz sicher kein Gewaltmensch. Kurz darauf sprang die Tresortür auf und der Mann entfaltete eine Sporttasche, die er seinem Rucksack entnahm.

„Sie können alles mitnehmen. Ich werde es nicht vermissen, bis auf eine Kleinigkeit …“

Hildegard versuchte vergeblich, Blickkontakt zu dem am Boden hockenden Eindringling herzustellen. „Hören Sie: In einer blauen Samtschatulle befindet sich eine antike Rolex. Sie hat meiner Mutter gehört. Es wäre sehr freundlich, wenn Sie mir diese Uhr lassen würden.“

Der Mann griff nach dem Behältnis, reichte es der alten Dame und widmete sich wieder dem Inhalt des Tresors. Hildegard öffnete wehmütig die Schatulle. Dieses Erinnerungsstück verband sie mit der unbeschwerten Zeit ihrer Kindheit und Jugend, in der in ihrem Elternhaus ausgiebig gelacht und herumgealbert wurde, man sich heftig stritt, um sich bald darauf wieder zu vertragen. Damals war alles ganz anders gewesen, als es später in ihrer stummen Ehe mit Josef werden sollte. Die goldene Rolex ihrer Mutter war der einzige Gegenstand in diesem schrecklichen Tresor, der für sie einen Wert darstellte. Ja, Hildegard fühlte sich sogar erleichtert, als sie den Mann dabei beobachtete, wie er sorgsam die Goldbarren und Schmuckkassetten in seine Sporttasche lud. Sie hatte aufgehört zu zittern und sah, wie ihre Katzen neugierig ins Zimmer schlichen.

Als der Mann seine Arbeit beendet hatte, richtete er sich auf. „Danke für die Kombination. Aber Sie können mir glauben, ich hätte es auch ohne Ihre Hilfe geschafft.“

„Ich glaube Ihnen. Sie werden mich vermutlich für verrückt halten, aber ich bin froh, dass ich den Tresor jetzt endlich entfernen lassen kann.“ Hildegard hob die Rolex in die Höhe und lächelte. „Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis. Ein Andenken an die schönste Zeit in meinem Leben.“

Der Mann schob den Sessel wieder in die angestammte Position zurück. Er stellte sich hinter die hohe Rückenlehne und sah gemeinsam mit Hildegard aus dem Fenster.

„Sie haben von hier oben einen herrlichen Blick. Sie sind zu beneiden. Aber eines wollte sich noch loswerden: Ich mag keine Katzen.“

„In der Tat, die Aussicht ist wunderbar. Dass Sie keine Katzen mögen, tut mir leid. Haben Sie eine Allergie?“ Hildegard drehte den Kopf zur Seite und suchte den Blick des Einbrechers. „Ich wünsche Ihnen viel Glück mit dem Inhalt Ihrer Sporttasche. Seien Sie doch so nett und schließen Sie beim Hinausgehen die Tür. Meine Betty kommt erst spät nach Hause. Ich habe ihr heute Abend freigegeben.“

Als das letzte Wort gesprochen war, legte sich der Metalldraht einer Garrotte um Hildegards Hals. Der Mann zog die an zwei hölzernen Griffstücken befestigte Drahtschlinge mit einem harten Ruck zu. Das scharfe Metall fraß sich in die faltige Haut. Helles Blut sickerte aus dem zerschnittenen Fleisch. Die Luftröhre verengte sich, Hildegard Möller-Schwinnhof ruderte hilflos mit den Armen, griff sich an die Kehle. Sie röchelte. Sie grunzte. Endlich verstummte sie. Blut tropfte auf ihr beigefarbenes Sommerkleid. Ihre Augäpfel schienen aus den Augenhöhlen herausquellen zu wollen. Die noch eben gütige Mimik verzerrte sich zu einer Fratze. Dann war die alte Dame tot.

Unbeirrt von all dem war eine der Katzen auf Hildegards Schoß gesprungen und schnupperte an dem blutdurchtränkten Kleiderstoff. Für einen Moment trafen sich die Blicke der Katze und des Mannes, der das Würgeisen entspannte und nach seiner Pistole griff. Eine Kugel zertrümmerte das Katzenköpfchen und der leblose Korpus rutschte klatschend zu Boden. Der Mann sah sich um. Das zweite Kätzchen war gerade dabei, sich mit schnellen Trippelschritten in den Flur zu retten. Ein Geschoss vereitelte die Flucht. Das Tier kippte zuckend auf die Seite. Aus dem aufgerissenen Leib quollen matschige Gedärme.

 

2

William LaRouche bestaunte mit einer Mischung aus tatsächlichem Interesse und gelangweiltem Müßiggang den Sonnenschirm, unter den man seine Strandliege geschobenen hatte. Zum Lesen war es zu warm und zum Essen noch zu früh. Der Schirm war ausschließlich aus Materialien der Kokospalme hergestellt. Palmwedel waren kunstvoll über Speichen aus Stammholz geflochten, wurden von aneinandergeknoteten Kokosfasern zusammengehalten und bildeten so eine Art Naturbaldachin. Das Ganze ruhte auf einem lotrecht montierten Ständer, für den das geölte Holz aus dem Palmenstamm verwendet worden war. William sog über einen Strohhalm die süßlich-milchige Flüssigkeit aus einer aufgeschlagenen grünen Frucht dieses Universalbaumes und wunderte sich, dass das Kokoswasser auch nach fast einer Stunde noch kühl und erfrischend durch seine Kehle rann.

Außer ihm lagen nur wenige andere Touristen auf dem privaten Strandabschnitt des gemütlichen Boutique-Hotels am Bophut Beach auf der Ferieninsel Koh Samui.

William verrieb eine Portion Sonnencreme auf der Brust. Während der Sommermonate war es ihm gelungen, sein Gewicht um zehn Pfund zu reduzieren. Er hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, regelmäßig im New Yorker Central Park zu joggen, und sich außerdem für die Wintersaison in einem Fitnessstudio angemeldet. Schließlich war es einem Friseur, einem wahren Meister seines Fachs, gelungen, Williams ausgedünnte, blondstruppige Mähne in einen manierlichen Kurzhaarschnitt zu verwandeln. Nur das Rauchen und seine geliebte Coca-Cola hatte er sich nicht abgewöhnen können und gegen seinen hellen Hauttyp war er naturgemäß machtlos.

Man konnte eben nicht alles haben, dachte er im Stillen, als er seine krebsroten Schultern noch einmal mit der Lotion bearbeitete. Dann streckte er sich behaglich auf der Liege aus. Der Duft von gegrilltem Fisch schwebte von einer rollenden Garküche zu ihm herüber. Er beobachtete, wie hinter der Brandung, dort, wo sich die Wellen auf den Kontakt mit dem Festland vorbereiteten, zwei Speedboote um die Wette jagten. Weiter draußen machte er ein paar Fischkutter aus, die ohne wahrnehmbare Positionsveränderung auf der spiegelnden See des Golfs von Thailand schaukelten.

Für den Nachmittag waren Gewitterschauer angekündigt. Von Osten schoben sich wie bestellt regenschwere Wolkenungetüme der Küste Koh Samuis entgegen. Urgewaltig würden die Wassermassen auf die Insel herabprasseln, einer leidenschaftlichen musikalischen Eruption gleich. Und wenn nach dem Konzert der Vorhang gefallen war, stand ganz sicher einem Abendessen unter freiem Himmel nichts im Weg. William überlegte: Gedämpfter Seebarsch mit Ingwer, Frühlingszwiebeln und Knoblauch? Ein gegrilltes Thunfischsteak oder rotes Hühnercurry mit Erdnüssen und scharfem Chili? Vielleicht auch alles zusammen? Bis zum Abend war es noch eine Weile und zu dieser Jahreszeit fand sich in jedem Restaurant ein freier Tisch.

William zog seine Sonnenbrille von der hohen Stirn vor die Augen und ließ sich seinen Körper von der salzig-schwülen Brise streicheln, die von der offenen See heranwehte. Er döste vor sich hin und genoss es, für eine wunderbare Woche dem Alltag seiner Agentur für private Ermittlungen entflohen zu sein. Die Geschäfte liefen gut, er konnte nicht klagen. Sogar den Umzug seines Büros von Hoboken, New Jersey, ins East Village von Manhattan hatte er gewagt und war damit nicht schlecht gefahren. Mittlerweile arbeiteten drei Detektive und eine Sekretärin für ihn. Die Zeit, als er für ein paar mickrige Dollar Tageshonorar untreuen Ehemännern hinterhergeschlichen war, gehörte der Vergangenheit an. Vor fast genau einem Jahr war er im Auftrag des amerikanischen Justizministeriums nach Thailand gereist, um dort einen international gesuchten Folterspezialisten aufzuspüren. Dieser Einsatz hatte, trotz des tragischen Finales, seinem Leben eine Wendung gegeben und ihn zu einem Geheimtipp für komplizierte Vermisstenfälle gemacht. Ein fröhliches Gekicher ganz in der Nähe beendete Williams Tagträumerei für den Moment. Blinzelnd beobachtete er das junge Paar, das ihm schon beim Frühstück aufgefallen war. Die beiden waren offensichtlich bis über beide Ohren ineinander verliebt und damit beschäftigt, sich wechselseitig zu necken.

William zog eine Lucky Strike aus der Packung, zündete sich die Zigarette an und dachte an Penelope. War das, was vor einem Jahr zwischen ihm und der amerikanischen Juristin in Bangkok geschehen war, tatsächlich Liebe gewesen? Oder war es vielmehr eine Affäre zweier einsamer Seelen, die zur rechten Zeit aufeinandergetroffen waren, um sich gegenseitig Halt zu geben? Zumindest war nicht das eingetreten, was sich vielleicht jeder der beiden insgeheim erhofft hatte. Als Williams Auftrag beendet war, hatte sich Penelope Owens wieder auf ihre Klienten der Bangkoker Niederlassung einer New Yorker Wirtschaftskanzlei konzentriert, und auch William war in sein altes Leben nach Amerika zurückgekehrt. Immerhin hatte er dort das Verhältnis zu seiner Mutter Doris geklärt, war seelisch wieder einigermaßen in der Spur und hatte sich auch beruflich erheblich verbessert. Nicht gerade wenig für einen vorzeitig aus dem Dienst geschiedenen FBI-Agenten, dessen Leben noch vor zwölf Monaten trostlos und ohne Perspektive gewesen war.

William griff nach seiner Brieftasche, die unter dem Badetuch versteckt lag, und zog eine Fotografie heraus. Er hob die Aufnahme in weitem Abstand vor die Augen. Er konnte sich noch lebendig an den Abend erinnern, an dem dieses Foto aufgenommen worden war. Penelope und er hatten in Bangkoks Chinatown ein paar Kleinigkeiten gegessen und stundenlang geredet. Dabei hatte er eine Zigarette nach der anderen geraucht und sie etliche Flaschen Bier getrunken. Es war jene Nacht gewesen, in der William seine fast fünfzehn Jahre jüngere Landsmännin mit thailändischen Wurzeln das erste Mal geküsst hatte. Penelopes Lachen, ihre Stirnfalten, wenn sie etwas Wichtiges zu sagen hatte, der Duft ihres seidigen schwarzen Haars – das alles und noch viel mehr würde in Williams Erinnerung gegenwärtig bleiben. Aber es hätte zwischen ihnen nicht funktioniert. Für eine dauerhafte Beziehung waren sie sich einerseits zu ähnlich und andererseits zu verschieden. So lautete jedenfalls beim Abschied ihre einvernehmliche Analyse. Vielleicht war es aber auch die Unsicherheit, was geschehen würde, wenn man sich tatsächlich aufeinander einließ. Jedes Mal, wenn William das Foto betrachtete, spürte er von Neuem das Gefühlschaos, dem er damals vernünftigerweise entronnen war, indem er einen Ozean Abstand zwischen sich und Penelope gelegt hatte.

William sog den letzten Schluck aus der Kokosnuss. In Amerika ließ ihm seine Arbeit kaum Zeit für solch sentimentale Gedanken, was auch sein Gutes hatte. Auf jeden Fall war er mit Penelope in der kommenden Woche in Bangkok zu einem nostalgischen Abendessen verabredet. Anschließend würde er seinen Kurzurlaub in Thailand beenden und den Rückflug nach New York antreten. Seine Sekretärin hatte sicherheitshalber ein Flugticket ohne Umbuchungsmöglichkeit organisiert, schließlich warteten in Amerika interessante Aufträge. William zündete sich eine weitere Zigarette an und überlegte, ob Penelope sich über ein Souvenir von Koh Samui freuen würde.

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