Der Hirte von Norderbüll

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Der Hirte von Norderbüll
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Thomas Christen

Der Hirte von Norderbüll

Roman

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Adventus (Ankunft)

Concilium (Versammlung)

Humanitas (Menschlichkeit)

Ioci (Späße)

Caritas (Nächstenliebe)

Piaculum (Sühne)

Redemptio (Erlösung)

Impressum neobooks

Adventus (Ankunft)

Der Hirte von Norderbüll

Und Mose streckte seine Hand über das Meer aus und der Herr trieb die ganze Nacht das Meer durch einen starken Ostwind fort ... Ostwind. Oh, ja. Ohne Zweifel. Auf das Beifahrerfenster prasselten die ersten Tropfen ... Er ließ das Meer austrocknen und der Mais spaltete sich ... Verzeih’ mir, Herr. Galgenhumor. Moses saß nicht in einem Auto. Aber ansonsten muss das ganze dem dort draußen sehr nahe gekommen sein ... Und er zog auf trockenem Boden ins Meer hinein, während rechts und links von ihnen der Mais wie eine Mauer stand.

Mais. Mais und nochmals Mais. Nein, er war ein Mann Gottes und das bedeutete, dass er die Fahne der Wahrheit hochhalten musste. Vor einer knappen Minute war er an einem Kartoffelfeld vorbeigefahren. Für Sekunden hatte sich der Blick auf eine Scheune unter den Bäumen am Horizont geöffnet. Graue Gewitterwolken hatten auf den Wipfeln der fernen Eichen gelegen. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Wusch. Und dann war der Wagen wieder in die schwankenden, grünen Wogen eingetaucht.

Auszug. Auch daran bestand kein Zweifel. Ein Auszug war es in der Tat. Allerdings hegte er einen ganz entschiedenen Zweifel: ob es ein Auszug aus dem gelobten Land oder einer in ein gelobtes Land war, hätte er im Augenblick nicht sagen können. Kein Engel Gottes führte diesen Auszug an. Er war angeordnet worden. Eine halbe Seite. Wenige Zeilen. Ein kurzer Brief des Kirchenvorstandes. Wir sehen uns bedauerlicherweise gezwungen ... Und so weiter.

Er nahm den Fuß vom Gas und lenkte den Wagen an den Straßenrand. Unwillkürlich umklammerten seine Hände das Lenkrad. Maiskolben, in zartes Grün gehüllt, nickten ihm zu und kurz darauf rauschte ein Monstrum von Traktor mit einem riesigen Güllefass im Schlepptau röhrend an ihm vorbei. Er zollte diesen motorisierten Ungeheuern einen unaussprechlichen Respekt. Wenn es mit dem Jüngsten Gericht seine Richtigkeit hatte, und selbstverständlich durfte ein Mann seiner Profession keinen Moment daran zweifeln, dann gäben diese riesenhaften Ungetüme die perfekt passenden Fuhrwerke für Gottes über die Erde hereinfallenden Racheengel ab. Mähwerke und Schwerter. Donnerumwölktes, wehendes Haar. Geschnitten, gefällt, gerichtet und verschnürt. Am Ende aufgespießt und durch ein riesiges Scheunentor in die Hölle verfrachtet. Er musste sich mäßigen ...

Er blickte in den Rückspiegel und legte den ersten Gang ein. Es war eine Frau gewesen, die den Traktor gefahren hatte. Sie hatte zum Dank, dass er am Straßenrand angehalten hatte kurz die Hand gehoben und gelächelt.

Mose aber sagte zum Volk: Fürchtet euch nicht! Bleibt stehen und schaut zu, wie der Herr euch heute rettet ... Die Teilung des Wassers. Er überlegte, wann er es wo gelesen hatte. Sie war wohl gemäß der die alten Wunder zerschreddernden Wissenschaften auf ein ganz und gar natürliches Phänomen zurückzuführen. Im oberen Nildelta, in der Nähe von Port Said, begünstigten Ostwinde gelegentlich den zeitweiligen Rückzug der Wassermassen. Für wenige Stunden entstand eine passierbare Furt. Physikalische Gesetze und profunde Kenntnisse der Flüssigkeitsdynamik – und der alte Mann mit dem Bart und seinem Zauberstab stand mal wieder im Regen. Er lächelte und ließ den Blick einen Moment lang über die Weide zu seiner Linken gleiten, auf der eine Hand voll Kühe träge grasend auf das heranziehende Gewitter wartete. In seinen Predigten würde er der Physik deutlich weniger Raum geben. Vielleicht ja in den beiden wöchentlichen Schulstunden? Aber nein, das war kein Thema für Sieben- oder Achtjährige. Und außerdem nicht sein Metier. Vielleicht würde er das Alte Testament ja auch gänzlich außen vor lassen. Für seinen Geschmack war es seit jeher, nun ja, eben – alt.

Die Straße machte einen langgezogenen Bogen und mündete auf eine T-Kreuzung ohne ein einziges Hinweisschild. Er überlegte einen Augenblick, lauschte dem rhythmischen Knurren der Scheibenwischer und entschied sich dann für rechts.

Die Wolke war da und Finsternis und Blitze erhellten die Nacht und so kamen sie die ganze Nacht einander nicht näher. Das Buch Exodus 14-20, dachte er und seufzte. Auf der Fahrbahn vor ihm hatte eines jener landwirtschaftlichen Monster braune und im Regen glänzende Schlammspuren hinterlassen. Mais, Mais, Kartoffeln, ein abgeerntetes Feld, Weiden hinter dem Beifahrerfenster, eine verrostete Metallbadewanne, in der bis zum Rand das Regenwasser stand, ein offen stehendes Gatter. Vielleicht war die Welt ja doch eine Scheibe.

Und dann hätte er sie um ein Haar überfahren.

Ihr Fahrrad lag mitten auf der Fahrbahn, das Vorderrad verdreht und der linke Griff des Lenkers in den schleimigen Hinterlassenschaften des stählernen Untiers. Eine kleine, blaue Plastikwanne lag umgekippt neben dem Gepäckträger. Mit der einen Hand klaubte sie die über die Straße verteilten Äpfel auf und mit der anderen Hand rieb sie sich unentwegt über ihre Hüfte.

Als sie das Quietschen der Bremsen hörte, blickte sie eine Sekunde erschrocken auf und machte dann einen panischen Satz in Richtung Straßenrand.

Es dauerte einen Moment, bis er sich wieder gefasst hatte. Aber dann stieg er aus dem Wagen und hob entschuldigend beide Hände.

„Entschuldigung! Bitte entschuldigen Sie vielmals. Ich habe Sie zu spät gesehen. Es tut mir wirklich leid. Sie sind gestürzt?“

Er hob das Fahrrad auf und klappte mit dem Fuß den Ständer heraus.

„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“

Das Pochen in seiner Brust begann sich langsam zu verflüchtigten. Sie winkte ab, aber sie rieb sich noch immer die Hüfte.

„Nein, danke“, antwortete sie, „es ist ja nichts passiert. Scheißmatsch! Fiete und Hein begreifen es einfach nicht. Und Lotte ist um keinen Deut besser. Stinkfaul, wenn es darum geht.“

Sie deutete mit dem Finger auf die Schlieren auf dem Asphalt.

„Ich möchte einmal erleben, dass sie ihren Dreck wenigstens annähernd wegkratzen ... Danke.“

Er hatte ihr die Wanne gereicht und angefangen die restlichen Äpfel einzusammeln. Ihr Blick streifte kurz das Nummernschild.

„Aber Sie sind wohl nicht von hier. Vielen Dank. Alles gut. Und machen Sie sich keine Gedanken.“

Und dann reichte er ihr den letzten Apfel und sie blickte ihn mit einem Lächeln an, dass ihm schlagartig eine Gänsehaut über den Rücken laufen ließ. Das war kein Lächeln, das nur Danke sagte.

‚Oh, nein. Nein, nein, nein ...’

Es war nur eine Ahnung. Ein Deja-vu. Ein Echo mit der Stimme des Teufels. Das mulmige Gefühl fuhr ihm wie ein verzweigter Blitz gleichzeitig ins Brustbein und seinen Verstand.

‚Diesen Blick kenne ich. Nur zu gut’, hechelten seine Gedanken, ‚aber, Mädchen, mein Name ist nicht Adam und du bist nicht Eva. Erstens. Und zweitens war das damals sowieso anders herum. Und drittens gibt es jemanden in meinem Leben, der ... weswegen ich überhaupt hier bin ... und nein ... Verflucht! Nein!’

Es donnerte und er verzog unwillkürlich das Gesicht. Offensichtlich hatte Gott einen Hang zur Theatralik.

‚Ja, ja, ich habe verstanden ...’

„Ist Ihnen nicht gut? Sie sehen plötzlich so blass aus. Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen machen“, fragte sie.

Ihre Worte waren wie Angelhaken, die ihn in die Wirklichkeit hinaufzogen.

„Alles ok“, antwortete er fahrig, „wenn Sie mir netterweise nur sagen könnten, wohin diese Straße führt.“

Aus einem beängstigenden Lächeln wurde ein schelmisches Lächeln und sie zeigte mit der Hand die Straße hinauf. In etwa fünfzig Metern Entfernung stand ein Ortsschild neben dem Feld.

Als er gelesen hatte, was auf dem Schild stand, nickte er abwesend und meinte:

„Danke. Alles Gute. Und ich bitte nochmals herzlichst um Entschuldigung.“

Und dann ging er mit erschreckend weichen Knien zum Wagen zurück.

„Vielleicht sieht man sich ja einmal wieder“, hörte er sie ihm nachrufen.

‚Gott bewahre’, dachte er und schloss die Fahrertür. ‚Nicht, wenn es nach mir geht.’

Als er an ihr vorbeifuhr, winkte sie ihm zu.

Kanaan. Das gelobte Land. Nein, das stand nicht auf dem Ortsschild. Aber das hatte er auch nicht erwartet. Norderbüll – Kreis Nordfriesland. Ende der Reise. Gütiger Himmel, das fing ja gut an.

An dieser Stelle erscheint es ratsam einen Augenblick lang innezuhalten und zum besseren Verständnis des bisher Geschehenen zurückzublicken. Zum einen sind tiefere Kenntnisse eines Weggefährten auf Zeit – also der Zeit, die es braucht bis zur letzten Seite dieser Geschichte vorzudringen und in dem ein oder anderen Fall auch darüber hinaus – eine wertvolle Sache und auf keinen Fall zu unterschätzen, zum anderen, um sich einmal mehr zu vergegenwärtigen, wie verschlungen und nicht selten perfide angelegt sich solche Wege durch ein von Gott geprüftes Leben ziehen können. Dass der Herr seine Schafe liebt und immer wieder prüft, ist hinreichend bekannt. Dass er allerdings ebensolche Prüfungen seinen Hirten auferlegt und ihre Verfehlungen nicht selten mit den drakonischsten Strafen belegt, ist manchem Schaf eher weniger geläufig. Aber der Reihe nach. Eins nach dem anderen. Und ja, der Verfasser muss sich mit allem Nachdruck entschuldigen. Es wäre eine Frage gebotener Höflichkeit gewesen, unseren in der Ungewissheit gestrandeten Hirten gleich am Anfang vorzustellen. Hiermit sei es unverzüglich nachgeholt.

 

Hauke Steiner erblickte im Dezember 1978 das Licht der Welt. Der VfL Lübeck war auf Platz vier der Fußball-Oberliga Nord gelandet. Die Roten Brigaden hatten Aldo Moro ermordet, in London war das erste Retortenbaby geboren worden, der Ministerpräsident des Freistaates Bayern war ein Mann namens Franz Josef Strauß, das Jahr würde als das Dreipäpstejahr in die Annalen eingehen und Boney M. hatte sechzehn Wochen lang mit Rivers of Babylon den Äther geflutet. Nicht, dass ihm irgendeines dieser Ereignisse bewusst gewesen wäre.

Noch war es nicht das ewige Licht, das ihm ins Auge fiel, dieses flackerte sozusagen noch im Nebel einer unbestimmten Zukunft, auch wenn es in der von seinem Bettchen nur wenige Schritte entfernten Kapelle des Krankenhauses sehr wohl ein solches gab, sondern es war das grelle Licht einer kreisförmigen Neonröhre unter der Decke des Kreissaales. Sein erstes Wort an die Gemeinde, von der er damals allerdings vollumfänglich noch nichts wissen konnte und die fürs erste und im wesentlichen aus einer kompetenten Ärztin, einer fürsorglichen Hebamme und seiner erschöpften Mutter zuzüglich seines in den angrenzenden Krankenhausflur entschwundenen und leicht angeheiterten Vaters bestand, sein erstes Wort also war – ein Schrei. Man muss zugeben, eine übermäßig individuelle erste Ansprache war es nicht, aber dennoch eine, die unter den gegebenen Umständen von seiner kleinen Gemeinde glücklich zur Kenntnis genommen wurde.

Das Schreien gewöhnte ihm sein Vater ab. Und zwar indem er selber schrie. Vor allem immer dann, wenn die sanftmütige aber nicht selten überforderte Mutter nicht sofort zur Hand, oder zu Anfang vor allem ad os, hatte, wonach es den Kleinen gelüstete. Steiner Senior schrie. Er schrie seinen Schreibtisch an, er schrie die zu korrigierenden Lateinarbeiten seiner unfähigen Schüler an, er schrie seinen Gedanken hinterher, die sein Sohn soeben zu nicht wieder herstellbaren Fransen geplärrt hatte, er schrie ins Schlafzimmer, ohne zu bemerken, dass sich dort niemand mehr aufhielt, weil die personifizierte Sanftmut samt Nachwuchs, die schwankende Waage des Unmuts und Gleichmuts geschultert, längst in die frische Luft des Gartens geflohen waren, und manchmal, selten genug, schrie er sein Spiegelbild an, weil er es nicht ertrug, sich nicht besser sub imperium zu haben, wie er sich auszudrücken pflegte, wenn er sich später kleinlaut bei seiner Frau entschuldigte.

Als Hauke eingeschult wurde, war der Stolz seiner Mutter mit Händen zu greifen gewesen. Sie strahlte wie eine ganze Herde von Honigkuchenpferden. Die kleine Tina, die in der Mengstraße neben dem Buddenbrookhaus wohnte und eine Woche älter als ihr Sonnenschein war, hatte ihn angehimmelt, seine Hand ergriffen und dann waren die beiden mit ihren Schultüten im Gewusel der Erstklässler in irgendeinem Klassenzimmer verschwunden. Kein Mensch hatte in den Jahren zuvor so oft die Sätze ‚Ein bezauberndes Baby’, ‚Was für ein hübscher Junge’, ‚Dem werden die Mädels aber einmal zufliegen’, ‚Auf den müssen Sie aufpassen, Frau Steiner’ oder ‚Das wird bestimmt mal ein kleiner Casanova’ zu hören bekommen. Manchmal war es nur ein knappes ‚Was für ein Romeo!’ oder ein kurzes Aufblitzen fremder Augen gewesen. Aber diese Sätze und Reaktionen waren der Kanon ihres mütterlichen Glücks, der Blumenstrauß, der nie verwelken würde.

Und wenn in den Jahren, die auf die Grundschule folgten, einmal eine Klassenarbeit in die Hose gegangen war, dann lauschte sie eine Weile in sich hinein und lächelte.

Michael Jackson besang quieckend Billy Jean, was einem Erstklässler damals entgangen sein dürfte, schrie vier Jahre später nach Dirty Diana, womit er den zehnjährigen Hauke auf die Idee brachte sich zum Geburtstag ein Schlagzeug zu wünschen, ein Wunsch, den sein Vater kategorisch ablehnte, da er sich nicht einmal annähernd vorstellen wollte, was dies im Hause Steiner bedeutet hätte. Und nach weiteren vier Jahren schlangentanzte eben jener Sänger zu Black or White, das weiße Hemd über der schwarzen Hose hängend, was in Anbetracht der anstehenden Konfirmation Haukes seinen Vater zu dem lapidaren aber äußerst nachdrücklich vorgebrachten Kommentar veranlasste, dass Hauke nicht einmal im Traum daran denken solle. Darüberhinaus war Hauke der Meinung gewesen, dass er seinen Übertritt ins kirchliche Erwachsenenalter mit der Anschaffung einer Elektrogitarre würdigen sollte, eine Idee, die ihm sein Vater mit nahezu den gleichen Worten wie vor vier Jahren um die Ohren haute.

Man muss der Gerechtigkeit Genüge tun. Das Verhältnis von Vater und Sohn war, auch wenn es bisher so aussehen mag, durchaus nicht nur von Pulverqualm und gekreuzten Klingen geprägt. Johann Steiner war kein Prolet (vielleicht manchmal, aber wir wollen nicht pingelig sein). Das Schreien hatte lange aufgehört. Und manchmal durchströmte ihn sogar eine Welle väterlichen Stolzes, denn Haukes Leistungen in Latein, Griechisch und Geschichte waren mehr als ausgezeichnet. Es war natürlich eine Selbstverständlichkeit für ihn, den Lateinlehrer, gewesen, vom ersten hodie Tullia et Iulius in forum properant darauf zu achten, dass der Junge nicht nachließ. Und Hauke ließ nicht nach. Im letzten Jahr vor dem Abitur, seine vierte Freundin hieß Helen und zu diesem Thema wird noch mehr zu sagen sein, im letzten Jahr also vor der Abschlussprüfung war Hauke so fit in Latein, dass sein Vater und er sich gelegentlich kleine Frage / Antwort-Spielchen gönnten. Klugscheißerduelle, wie es die Mutter nannte.

Helen hatte in jeder Hinsicht die Qualitäten eines Sonnensturms und dementsprechend zerzaust und elektrisiert schwebte Hauke damals durch das Paradies seines ausgesternten Universums. Das Mädchen besaß alles, was Eltern eines vor dem Abitur stehenden Sohnes das Fürchten lehrt. Die elterliche Gegenwehr war allerdings chancenlos. Da gab es keine Fenster zuzunageln und keine Zukunftspläne mit gewichtigen Diskussionen zu beschweren. Zum einen, weil Johann Steiner ein Mann war und weder blind noch vertrocknet, auch wenn er das tunlichst verschwieg, zum anderen, weil Haukes Mutter zu diesem Thema eh ihre ganz eigenen Ansichten pflegte.

Amor tussisque non celantur’, meinte der Vater, als Hauke eines Abends lächelnd durch das Wohnzimmer levitierte. ‚Kein Husten, Vatter! Amor medicabilis nullis herbis’, antwortete der Sohn schlagfertig und aus dem Lächeln war ein Grinsen geworden.

Und dann machte Hauke ein 1,5er Abitur und Johann Steiner verabschiedete sich von der Welt, weil der Tod ein Los mit seinem Namen und dem Hinweis Gliomatosis cerebri gezogen hatte. Es dauerte nicht einmal acht Monate. Und die letzten knapp zwei Jahre elterlicher Regierungszeit übernahm die Mutter, sehr wohl wissend, dass es keine Gesetze mehr zu erlassen gab und sich darauf besinnend, das zu tun, was sie schon immer getan hatte: Sanftmut und eine streckenweise übersteigerte Form von Gerechtigkeit vorzuleben. Hauke begann Klavierunterricht zu nehmen und er klimperte sich seine grau dämmernden Gefühle von der Seele, von denen er nicht wusste, wie er sie in den Griff bekommen sollte. Und dass sie ihm dafür ein gebrauchtes Klavier kaufen musste, hatte für seine Mutter außer Frage gestanden.

Kommen wir zu dem Thema, worauf noch zurückzukommen war. Helen. Helena. Die Sonnenhafte. Paris klaute sie einst Menelaos. Der ist stinkesauer. Zehn Jahre Krieg. Eine epische Belagerung. Ein zur Metapher gewordenes Holzhottehü. Schutt und Asche. Rumms. Und am Ende ist alles wieder so wie es vorher war. T’schuldigung Menelaos, war nicht so gemeint! Und Deiphobos, nachdem Paris das Zeitliche gesegnet hat ... nöö, halb so wild!

Immerhin – bis zum heutigen Tag wollen oder müssen abertausende von Geschichts- und Literaturstudierenden et interessierte alii unzählige Namen lernen, die sie ob ihrer komplizierten Verstrickungen leider wieder viel zu schnell vergessen oder durcheinander bringen. Nun gut – zu soviel Ruhm hatte es Haukes Helen nie gebracht. Und vor allem steht ihr Name, wie es manchmal so treffend heißt, wohl eher für das Programm.

Haukes erste Freundin ergriff seine Hand, als er vierzehn war. Tina am Einschulungstag zählt nicht. Er – vor allem aber seine Eltern – hatten, einer gewissen Entwicklungs- und Generationslogik folgend, von Tuten und Blasen keine Ahnung. Der eine, weil er schlichtweg nichts wusste, die anderen, weil sie schlichtweg nichts wissen wollten. Das einzige, was Johann Steiner seinem Sohn auf dem Weg in die Aufklärung überlassen hatte, war ein anatomischer Atlas aus dem Jahr 1953 gewesen. Musculus ischiocavernosus. Et alii. Die Seiten, und so auch jene zum Zwecke der Kenntnisvertiefung des menschlichen Unterleibes, waren übersät gewesen mit lateinischen Begriffen.

Elke war ein über alle Maßen schüchternes Wesen und genauso verlief auch dieser damalige Monat der Initiation bevor er in Sang- und Klanglosigkeit unterging, was weder sie noch ihn über Gebühr aus der Bahn zu werfen schien.

T’schuldigung, war schon irgendwie so gemeint, aber – nöö. Und war ja auch nix ... Aber das Wort ‚Erfahrung’ war mit einem durchaus brustschwellenden Inhalt ausgefüllt worden, und als ein halbes Jahr später Charly, ein Mädchen, das er aus dem Konfirmationsunterricht kannte, auf der Lichtung auftauchte, war das schon etwas ganz anderes. Die Erkundungen der menschlichen Physiognomie nahmen fortan erhebliche Fahrt auf. Und solche Fahrten finden naturgemäß und in der Regel unter euphorisierender, schweißtreibender Sonne statt. Etwas anders verhält es sich mit der überaus zarten und recht langsam wachsenden Pflanze namens Vertrauen. Mit der Gabe überirdischer Gelassenheit beschenkte Eltern mögen hier durchaus als geeignete Gärtner herhalten. Aber wo gibt es schon solche? Wer las damals schon psychologische Ratgeber?

Das so fragile wie verletzbare Blümchen wächst neben den Sandkästen kurzbehoster Geschlechtsgenossen, gedeiht im geflüsterten Geheimnisaustausch in abgelegenen Schulhofecken und muss den ersten Sturmböen pubertierender Zweisamkeit trotzen.

Und hier beging Charly nach acht Monaten einen unverzeihlichen Fehler. Hauke hatte ihr zu ihrem Geburtstag eine Single geschenkt. Mmm, Mmm, Mmm von den Crash Test Dummies. Und er hatte sie in einem Anfall von piratenhaftem Übermut in einem Schallplattengeschäft gestohlen. Er hätte es ihr besser verschwiegen, aber was will man schon von balzenden Pfauen erwarten. Nach einer Woche wusste es die halbe Clique und damit war Gefahr in Verzug, dass es sich irgendwann bis zu seinen Eltern oder einem Mitglied der Lehrerschaft herumsprach. In den Tagen, die folgten, beteten Haukes Gedanken immer wieder den Titel der gestohlenen Schallplatte herunter und als der Mantra verklungen war, begann er Charly aus dem Weg zu gehen.

Was folgte waren zwei Jahre gelegentlichen Partyschmusens und harmloser ‚Handarbeiten’. Seine Augen, sein Lächeln, sein Körperbau, seine Leistungen in Sport, alles nicht zu übersehende Leuchtfeuer für die Irrfahrten nach verheißungsvollen Häfen schmachtender, weiblicher Segler.

Und dann betrat Helen die Bühne. Die beiden Jahre bis kurz nach dem Abitur waren die einzige Zeit im Leben Hauke Steiners, in der die meisten, die ihn näher kannten die zunehmende Befürchtung hegten, er würde sich ganz langsam in ein Hündchen verwandeln. Zumal er, als ein blindes Schicksal die beiden nach den etwas mehr als zwei Jahren unvermutet trennte, weil Helens Vater, der einen Job bei UNICEF in Nairobi angenommen hatte und die Familie nach Kenia zogen, er wochenlang litt wie ein Hund. Immerhin beendete dieser Schicksalsschlag die ständigen und dämlichen Frotzeleien seiner eifersüchtigen Mitschüler. ‚Und? Heute Abend traute Familie?’, Wart ihr spazieren? Mit oder ohne Leine?’, ‚Meine Fresse! Wo klaut man denn um diese Jahreszeit solche Melonen?’ Graumäusige Neidhammel! Und Neid war seit jeher eine entlarvende Art der Anerkennung. Meistens hielt er den Mund und verkniff sich verbale Retourkutschen, aber die Bemerkungen ärgerten ihn maßlos. Einmal hätte es um ein Haar eine Prügelei gegeben.

 

Wie die meisten seiner Mitschüler hatte er den Wehrdienst verweigert und seinen Zivildienst leistete er in einem Behindertenwohnheim des IJGD in Lübeck ab. Auf der Station auf der er arbeitete gab es noch zwei andere Männer. Der Rest waren Frauen gewesen. Er hatte sich das nicht ausgesucht, aber im Grunde war es seit seiner Geburt nie anders gewesen. In den letzten Jahren auf dem Gymnasium hatte er regelmäßig Lateinnachhilfe gegeben und seine Schüler waren ausnahmslos weiblichen Geschlechts gewesen. Obwohl es in seiner Klasse genug männliche Exemplare gegeben hätte, deren Leistungen in Latein genau das widerspiegelten, was man dieser Sprache nachsagte: das sie tot sei.

Er sah das ganz und gar nicht so. Und diese Ansicht trug ein wenig dazu bei, dass seine Studienwahl auf das Fach Theologie fiel. Vor allem aber waren es Neugier und die Prägung, die er durch seine Mutter erhalten hatte. Gibt es Gott? Wenn ja, wer oder was ist er? Wie lebt man christliche Werte in einer Welt aus rationaler Wissenschaft und gewinnstrebender Wirtschaft? Warum suchte der Mensch seit Urzeiten das Transzendente? Bisher hatte Gott nicht an jeder Ecke auf ihn gewartet, ein Gedanke, der ihn nicht weiter umtrieb. Gott war wie das Wetter, donnernd, wenn das eigene Gewissen zwickte und himmelblau, wenn man sein Menschsein als etwas Großartiges empfand. Wenn es ihn gab, wenn er ihn hinter irgendeiner Häuserecke verborgen beobachtete, dann wäre es einen intensiveren Versuch wert, ihn aufzuspüren und ein paar Worte mit ihm zu wechseln.

2005 machte er seinen Abschluss an der Universität in Hamburg und fünfzehn Monate vorher hatte er Julia kennen gelernt. Sie studierte ein Semester über ihm und sie war ihm immer wieder einmal auf einem der Institutsflure über den Weg gelaufen. Lächelnd und mit einem flüchtigen ‚Hallo’ auf den Lippen.

Hier muss – einmal mehr – kurz innegehalten werden, um der Vita Haukae noch ein Stück näher zu kommen. Ein mit den Gaben Gottes beschenkter Adonis mutiert über Nacht nicht zu einem hässlichen Alberich. In unserem Fall ist Adonis noch nicht einmal aktiv auf der Suche nach seiner Aphrodite. Glückspilze hüpfen nicht von alleine in die Körbe der Sammler, wobei es an dieser Stelle wohl besser Sammlerinnen heißen müsste. Nein, Pilze werden gefunden.

In gewisser Weise knüpften Haukes Studienjahre nahtlos an seine Hoch- und Tiefzeiten als Jugendlicher an. Nur dass sie weniger von zitternder Schüchternheit und vorsichtigem Tasten geprägt waren. Jede kleine, erlebte Großartigkeit ist ein diamantener Stein im Fundament des Selbstbewusstseins. Wenn denn die Kette derartiger Ereignisse ausreichend lang genug ist. Auch das liegt in der Natur des menschlichen Jahresammelns. Um es auf den Punkt zu bringen: Seine Studienzeit war auch von etwas geprägt, dass viele, aber bei weitem nicht alle ihre unbegrenzte Freiheit genießenden Studiosi erleben, etwas, mit dem die im Fachbereich Rechtswissenschaften schuftenden Studiosi für ihr späteres Berufsleben zwar in Berührung gekommen sein müssen, ohne es – wie gesagt – je selber berührt zu haben, ja, die Rede ist von – einvernehmlichem Sex.

Es gibt ihn und im Grunde ist er die Regel. Auch wenn der ein oder andere dröge Apostel diesen Begriff mit der Vorstellung eines der Theologie zugewandten Menschen nicht deckungsgleich bekommt.

Großer Gott!, müsste man sagen, denn immerhin war jener es, der es erst dazu kommen ließ.

Also. Julia fand ihn. Zumindest machte sie den ersten Schritt. So ein wenig wie, halb zog sie ihn, halb sank er hin. Julia war nicht Helen. Aber das Wenige, was ihr an äußerer Vollendung fehlte, machte sie spielend mit Charme und einer Offenheit wett, die eine ganze Armee entwaffnet hätte. Sie verabredeten sich im Schanzenviertel und als sie beide wenige Stunden später in Julias Wohnung landeten, hatten sich beide mehrfach gefragt, warum es eigentlich erst jetzt dazu gekommen war.

Waren Sie schon einmal verliebt? Natürlich waren Sie schon einmal verliebt! Verzeihen Sie! Die Frage ist dumm oder etwas selbstgefällig. Aber was hier gemeint ist, betrifft nicht so sehr das Gefühl, welches sich einstellt, wenn man sommertags eine köstliche Brause trinkt, die einem dazu auch noch in der Nase kribbelt. Gemeint ist das den ganzen Körper durchströmende Glühen nach dem Genuss eines vierunddreißig Jahre alten Port Ellen, die Gewissheit, dass man einen solchen Whisky wahrscheinlich kein zweites Mal erleben wird. Und es besteht ohne Zweifel Einigkeit darüber, dass letzterer, und nicht umsonst Wasser des Lebens genannter, nichts für kleine Kinder oder Heranwachsende ist. In aller Mehrdeutigkeit des folgenden Satzes: Sie können ihn sich schlicht noch nicht leisten!

Es betrifft das überwältigende, jede Zelle verrückende Gefühl, dieses Mal alles richtig zu machen, was man irgendwann einmal verbockt hat. Und damit dieses Gefühl erst aufkommen kann, muss man wissen, dass man und was man damals verbockt hat. Die erregende Vorahnung, dass man (einvernehmlich!) ineinander aufgehen wird wie Sahne in friesischem Tee, den Winden und Stürmen des Lebens trotzend, den einen Richtigen gefunden zu haben.

Nach dem Diplom bot der Professor für Kirchengeschichte Hauke eine Promotion an und in Haukes Kopf begann ein Uhrwerk wochenlang zu arbeiten. Julia mischte sich nicht ein. Sie wollte alles Mögliche sein – nur kein Sand im Getriebe seines Lebens. Der Einfluss konstantinischer Schenkungen und Zuwendungen an die christliche Kirche auf deren weitere Entwicklung und Selbstbild. ‚Ein interessantes Thema, Steiner. Aber vielleicht finden wir ja noch ein viel besseres.’

Nach sechs Wochen Bedenkzeit lehnte Hauke dankend ab und Julia und er zogen nach Bad Kleinen, von wo aus sie ein Vikariat in Schwerin und er eines in Wismar antraten. Im Juli 2012 heirateten sie und nach einem weiteren Jahr bewarben sie sich auf eine frei gewordene Pfarreistelle in Ratzeburg, von der aus sie sich die Gemeindearbeit mit zwei halben Stellen teilten.

Ach, herrje ... Amare et sapere vix deo conceditur.

Es war nie anders.

Amor hatte sein Werk vollbracht. Und dann forderte er seinen Pfeil zurück, ohne, dass sich beide daran erinnern konnten, wann das geschehen war, und der himmlische Regen verschwand in den Gullis des Alltags. Es dauerte vier Jahre und diese Jahre seien kurz angerissen, denn über Unerquickliches zu erzählen ist unerquicklich. Ging es doch bisher vor allem über die glückseligen Momente auf den Gipfeln des Lebens. Auch wenn Hauke, anders als die, die sich den Aufstieg zu solchen Gipfeln erarbeiten müssen, diese Gipfel wohl eher mit der von Gott erbauten Seilbahn geburtsgegebener Privilegien erklommen hatte.

Wolken zogen die grünen Hänge herauf. Das Feuer brannte herunter. Die tägliche Arbeit hagelte nicht selten in die noch verbliebene Glut. Der Trott trampelte. Hauke war unfruchtbar (und als er das ärztliche Ergebnis erhielt, schämte er sich für den kurzen Augenblick, in dem er gedacht hatte: Mein Gott, hätte ich das gewusst, wäre mir in der Vergangenheit manches panisch-verzweifelte Warten erspart geblieben), beide bestätigten sich, dass das alles nicht so schlimm sei, denn eine Beziehung bestünde aus so viel mehr und beide verheimlichten sich, dass sie dennoch nicht damit umgehen konnten. Reibereien, Streit, Aussprachen, Versöhnungen und neue Vorwürfe. Stürme, die zweimal mehrere Teller das Leben kosteten und Flaute an einem Ort, an dem sie beide sie eigentlich niemals vermutet hätten. Aber auch darüber schwiegen sie.

Als Hauke Sophia kennenlernte und es nicht einmal verheimlichte, sprach Julia von Auszug. Es kam nicht einmal zu irgendwelchen Auseinandersetzungen, denn dazu fehlte beiden die Energie. Aber der Auszug sollte sich anders gestalten, als Julia es gemeint hatte.

Denn Hauke beging den bis dato größten Fehler seines Lebens. Das Wort Scheidung war noch nicht gefallen, auch wenn es sichtbar unsichtbar überall herumhing. So viel Einigkeit herrschte dann doch noch zwischen den beiden, dass sie sich im Klaren darüber waren, dass man dieses Thema nur zivilisiert angehen sollte. Noch waren sie das Pfarrersehepaar, auch wenn einige der älteren Damen aus dem sich allwöchentlich treffenden Frauenkreis zu tuscheln anfingen. ‚Ich bin mir ganz sicher, sie haben sich gestritten. Es war bis auf die Straße zu hören.’ ‚Wenn da mal nichts im Busch ist!’

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