Czytaj książkę: «Gustaf Gründgens»
THOMAS BLUBACHER
GUSTAF GRÜNDGENS
Biographie
HENSCHEL
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
ISBN 978-3-89487-742-2
© 2013 Thomas Blubacher, Basel, und Henschel Verlag in der Seemann Henschel GmbH & Co. KG, Leipzig
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Lektorat: Sabine Bayerl
Bildredaktion: Katharina Schweizer
Titelbild: Gustaf Gründgens als Mephisto, © ullstein bild
Umschlag: Carolin Scheffler, Berlin
Inhalt
1. Ich würde mich selbst nicht erkennen
2. Leben lernen
3. Schließlich haben wir alle auf dem Eisbärfell gelegen
4. Ein Fonds fürs Leben
5. Ein eigentümlicher Mensch, so quer
6. Mit Temperament und Manier
7. Der Monokelprinz
8. Und ik bin Neese
9. Parfümierte Nebenkünste
10. Konjunktur
11. Durch die Opernwelt zur Hölle
12. Das Schwert des Damokles?
13. Des Teufels Intendant
14. Ein neurasthenischer Schwächling?
15. Ordnung und Klarheit
16. Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles!
17. Das ist grotesk!
18. Zurück am Rhein
19. Gesellschaft mit beschränkter Haftung
20. Nun bin ich also Schwiegervater
21. Ich habe das Meinige getan
Anmerkungen
Auswahlbibliographie
Rollen- und Inszenierungsverzeichnis
Danksagung
Personenregister
1. Ich würde mich selbst nicht erkennen
Ein Glückskind sei er gewesen, meinte Gustaf Gründgens und mußte sich doch am Ende seines Lebens eingestehen, daß es darin nur wenig Freude gegeben habe. Bloß im Spiel, verborgen hinter einer Maske, konnte er ein tiefes Glücksgefühl empfinden, im Spiel suchte er seine Existenz zu behaupten. Die von Ordnung und Exaktheit bestimmte Bühne war für ihn die Wirklichkeit. Auf diesem Planquadrat, wie er sie nannte, fühlte er sich sicher – über alle Systemwechsel hinweg.
Als artistisch brillanter Darsteller im Expressionismus der Weimarer Republik groß geworden, in seinen Rollen oft affektiert und von beängstigender Kälte, gelegentlich auch frivol und lasziv, erschien der zum Bühnenstar avancierte Bohemien und ehemalige Salonlinke vielen Nationalsozialisten als typischer Vertreter der verhaßten »Systemzeit« und wurde doch der führende Theatermann des »Dritten Reiches«. Er war – je nach Perspektive – der skrupellose, erfolgssüchtige Karrierist, »ein Virtuose im Sich-Arrangieren mit dem NS-Regime«1, der dessen Kulturfassade aufpolierte, oder der menschlich integere und dabei persönlich gefährdete Intendant, der mit seinem Theater einen Freiraum innerhalb des totalitären Staates schuf und couragiert bedrohte Kollegen schützte. Zweifellos muß er als Nutznießer jenes Systems, das er verachtete und dem er doch seine Kunst zur Verfügung stellte, gelten – und hat »zugleich jenen gedient, die an der Herrschaft der Nationalsozialisten litten und mitten im ›Dritten Reich‹ Trost und Hilfe suchten im Theater, zumal bei den Klassikern«2, wie Marcel Reich-Ranicki betonte. Nach dem Krieg spielte und inszenierte Gründgens im sowjetischen Sektor der Trümmerstadt Berlin und wurde in der Bundesrepublik ein für den Klassizismus seiner maßstabsetzenden Inszenierungen gefeierter, autokratischer Theater-Repräsentant der Adenauer-Restauration. Gustaf Gründgens, der Kunst sein Leben lang als autonomen Raum begriff, war über Epochen und Systeme hinweg der deutsche Theatermann, der »Nationalspieler« der Deutschen, vergleichbar Laurence Olivier in England und Jean-Louis Barrault in Frankreich – und doch der denkbar undeutscheste Schauspieler, der einzige seiner Generation, dem der Regisseur Peter Zadek die Qualität sophisticated zubilligte.3
Doch nicht nur die Widersprüche Deutschlands im 20. Jahrhundert kulminieren in seiner Person. Auf eine »einmalig persönliche Weise« hätten sich in ihm »alle positiven wie auch unübersehbar negativen Eigenarten zu einer künstlerischen Persönlichkeit«4 verbunden, meinte Ullrich Haupt. Gründgens war im Leben der leicht zu Kränkende und zeitweise lebensbedrohlich Kranke, der Demonstrant äußerster Disziplin und Selbstzucht und der exaltierte Hysteriker. Er schien vielen ein unterkühlter Rationalist und hing doch mit kindlicher Liebe an seinem Talisman, einem kleinen Stoffaffen. Er war der von seinen Anhängern geliebte, fast kultisch verehrte Künstler und zugleich ein an seiner Liebe Verzweifelnder, der sein Leben lang bemüht war, sein Innenleben zu schützen, Männer begehrte, Frauen heiraten wollte, entsetzliche Angst vor dem Altern hatte und unter Einsamkeit litt … Für Lotte Betke war er »als Mensch unangenehm bis widerwärtig, eitel und selbstherrlich«5, für ihre Schauspielerkollegin Elsa Wagner hingegen »ein himmlisches Wesen, ein zauberhafter Mensch«6. Friedrich Schoenfelder sah Gründgens, der »sprunghaft, oft völlig unbeherrscht« gewesen sei und »mit dem Fuß halbe Kulissen eingetreten« habe, als »eine seltsame, großartige, sehr schillernde Erscheinung«7, Bernhard Minetti erlebte ihn als »eine einseitige Persönlichkeit, die unerhört fähig war, sich selbst und die Wirklichkeit in eine straffe Form zu bringen«8. Gründgens selbst zitierte gerne Ernst Jüngers Epigramm »Unter den Masken der Freiheit ist die der Disziplin die undurchdringlichste«9, um zu bekennen, er habe »lange die Maske der Disziplin getragen«10.
Seit vor nunmehr 80 Jahren die erste, natürlich noch schmale Biographie11 von Robert Ramin über den 33jährigen Gründgens erschien, haben ihn zahlreiche Publikationen zu glorifizieren oder zu demontieren versucht. Wissenschaftliche Untersuchungen, Essays und fast ein Dutzend Monographien befassen sich mit Gründgens, aber auch Erzählungen und Romane. Die Figur des Tänzers Gregor Gregori in Klaus Manns 1932 erschienenem TREFFPUNKT IM UNENDLICHEN hat ebenso unverkennbar Gründgens zum Vorbild wie der Oliver in Lotte Betkes FEUERMOOR. Der berühmteste Roman, Klaus Manns 1936 veröffentlichter MEPHISTO, in dem der Autor den ehemaligen Freund und Schwager kolportagehaft als verabscheuungswürdigen und dennoch faszinierenden, chamäleonhaften Opportunisten Hendrik Höfgen porträtiert, der zynisch und vor Eitelkeit blind den Nazis als Aushängeschild dient, hat nicht nur das Bild von Gründgens verfälscht, sondern auch dafür gesorgt, daß sein Nachruhm noch immer gegenwärtig ist. Ariane Mnouchkines Dramatisierung – das »Theaterstück der ahnungslosen Französin« sei die »Diffamierung eines Mannes, der wie kaum ein zweiter sich in schwerster Zeit als Mann erwies«12, empörten sich ehemalige Kollegen von Gründgens – und István Szabós opulente, aber den Roman simplifizierende Verfilmung mit Klaus-Maria Brandauer erregten international Aufsehen. Auf Manns Roman basieren auch Mathieu Bertholets Stück RIEN QU’UN ACTEUR, das erstmals 2006 in Genf gezeigt wurde, und Tom Lanoyes MEFISTO FOREVER, 2007 in Antwerpen uraufgeführt. Gründgens wurde zudem zum Sujet weiterer Theaterstücke: Johann Kresniks GRÜNDGENS nach einer Vorlage von Werner Fritsch, der dann auch das in Gründgens letzten Stunden spielende CHROMA. FARBENLEHRE FÜR CHAMÄLEONS verfaßte. Als Streifzug durch Gründgens Leben sind Frank Raddatz’ Szenenfolge ALLES THEATER und Volker Kühns G WIE GUSTAV. MIT F. konzipiert, das als Revue mit Georg Preuße (bekannt als Travestiekünstler Mary)13 und als Solostück mit Helmut Baumann zu sehen war.
Autogrammkarte von Gustaf Gründgens aus den 30er Jahren
© privat
Ruhm sei die Summe aller Mißverständnisse, heißt es bei Rainer Maria Rilke. »Ich denke mir manchmal, wenn ich meiner Fama auf der Straße begegnen würde, ich würde mich selbst nicht erkennen«14, meinte Gustaf Gründgens 1955 in seiner Antrittsrede als Intendant des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg. Durch die jahrzehntelange, emotional und kontrovers geführte Diskussion um Recht und Unrecht, Schuld oder Unschuld des von Hermann Göring protegierten Intendanten des Preußischen Staatsschauspiels ist der Künstler geradezu zum Mythos geworden. Der Platz vor dem Düsseldorfer Schauspielhaus, Straßen in Stuttgart und Hamburg tragen seinen Namen.15 1977 wurde die Marmorplatte seines Ehrengrabes auf dem Ohlsdorfer Friedhof durch das Einkratzen eines Hakenkreuzes stark beschädigt.16 1984 errichtete man im Düsseldorfer Hofgarten ein 23 Tonnen schweres Denkmal17 für ihn – allerdings gegen heftigen Widerstand vor allem aus den Reihen der FDP.18 1987 wandte sich Jürgen Flimm, der damalige Intendant des Hamburger Thalia Theaters, dagegen, daß ein Preis des Deutschen Bühnenvereins den Namen von Gründgens tragen sollte, »der sein ganzes Talent auf dubioseste Weise in den Dienst der fürchterlichsten Diktatur gestellt hat«19, und war mit seinem Protest erfolgreich. Der 2011 in Hamburg durch das Deutsche Schauspielhaus und den Lions Club initiierte, von der Mercedes-Benz-Niederlassung Hamburg gestiftete »Gustaf-Gründgens-Preis« ist dafür wohl kaum ein Ersatz. Bis heute polarisiert Gründgens.
Doch auch wenn Gründgens länger als die meisten Theaterleute im öffentlichen Gedächtnis geblieben ist, ist das Andenken heute deutlich verblaßt. Nur noch wenige dürften sich an Vorstellungen mit dem 1963 verstorbenen Schauspieler erinnern oder an Inszenierungen des Regisseurs, der auf Tradition und präzise beherrschtes Metier bestand und proklamierte, es sei unwichtig, »ob in Deutschland gut oder schlecht Theater gespielt wird«, viel wichtiger sei, »ob richtig oder falsch Theater gespielt wird«20.
* * *
Bei der Annäherung an den Mythos Gründgens haben neben der Sichtung zahlreicher Dokumente im Theatermuseum Düsseldorf und in der Staatsbibliothek zu Berlin sowie einiger bisher noch nie ausgewerteter Briefe aus Privatbesitz vor allem – teils schon vor Jahren geführte – Gespräche mit Zeitzeugen geholfen: Interviews mit Verwandten wie Gründgens’ Schwiegertochter Ingeborg Gründgens-Gorski und seinem Halbbruder Gerrit Gründgens, mit Freunden oder deren Nachkommen wie André Pozner, dem Sohn Ida Liebmanns, Marcel Ophüls, dem Sohn von Max Ophüls, Erich Zacharias-Langhans’ Großneffen Warner Poelchau, Christoph Bernoullis Sohn Carl Christoph, Alex Vömels Sohn Edwin und Hermann Kleinhubers Sohn Ingo, mit Sekretärinnen, Mitarbeiterinnen des Betriebsbüros, Regieassistenten und Dramaturgen, mit Heinz Tietjens Witwe Liselot und Wilhelm Furtwänglers Witwe Elisabeth, vor allem aber mit zahlreichen Schauspielerinnen und Schauspielern wie Ilse Bally, Gerd Baltus, Maria Becker, Lotte Betke, Volker Brandt, Charles Brauer, Ella Büchi, Volker von Collande, Heinz Drache, Rosemarie Fendel, Sebastian Fischer, Uwe Friedrichsen, Sabine Hahn, Ruth Hellberg, Hanne Hiob, Marianne Hoppe, Jenny Jugo, Johanna von Koczian, Otto Kurth, Dieter Laser, Bert Ledwoch, Heidi Leupolt, Erni Mangold, Kurt Meisel, Bernhard Minetti, Lola Müthel, Lilo Pulver, Friedrich Schoenfelder, Gisela Uhlen, Wolfgang Wahl, Antje Weisgerber, Kurt Weitkamp und Jürgen Wilke, um nur einige zu nennen. Manche hatten bislang noch nie Auskunft gegeben, so etwa die im kalifornischen Atherton lebende ehemalige Stewardeß Hildur Kirchdörfer, die 1963, als man den toten Gründgens in seinem Hotelzimmer in Manila fand, für die Polizei dolmetschte …
2. Leben lernen
»Ich will jetzt versuchen, leben zu lernen«1, verkündet Gründgens 1963 nach seinem Rücktritt als Intendant des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg. Angebote, an den Städtischen Bühnen Frankfurt oder am Bayerischen Staatsschauspiel in München zu gastieren, lehnt er ebenso ab wie die Offerte, am Wiener Burgtheater den Prospero in Shakespeares STURM zu spielen.2 Erst am 28. Dezember sollen die Proben für eine Tournee mit Hermann Bahrs KONZERT beginnen. Organisiert durch die von Will Quadflieg und Maria Becker gegründete »Schauspieltruppe Zürich«, soll sie nach der Premiere am 31. Dezember 1963 in Düsseldorf bis zum 8. April 1964 durch die Bundesrepublik Deutschland und die Schweiz führen, Gründgens für ein stattliches Honorar von 160000 DM inszenieren und die Hauptrolle übernehmen, neben Marianne Hoppe, Heinz Reincke und Sabine Hahn. Im Herbst 1964 will Gründgens vier Monate lang dem Deutschen Schauspielhaus in Hamburg zur Verfügung stehen, nach einer Pause von anderthalb Monaten ist eine Gastinszenierung am Burgtheater vorgesehen, auch ein Gastspiel mit FAUST in Tokio wird schon seit längerem vorbereitet.
Am 10. Mai 1963 fährt Gustaf Gründgens zunächst nach Madeira – seiner bevorzugten Urlaubsdestination seit dem Frühjahr 1958 –, wo er sich bereits im Februar vier Wochen lang erholt hatte und nun weitere drei Monate verbringen will. Mit dem Flugzeug geht es nach Lissabon, von dort erreicht man Madeira per Schiff in knapp zwei Tagen. Gründgens liebt die Insel, ihre »Eukalyptuswälder, Orchideenwälder, Dörfer, wo alle Mädchen vor den Türen sitzen und sticken«, findet sie »an manchen Sommerabenden zum Weinen schön, immer wird ein anderer Heiliger mit [ein] bißchen Feuerwerk gefeiert, und alle Leute sind unfaßlich herzlich, unkompliziert und bereitwillig«3. In den ersten Jahren hatte Gründgens im traditionsreichen Hotel Reid’s in Funchal logiert, seit Januar 1960 besitzt er ein eigenes Domizil in São Gonçalo unweit des Ribeiro Sêco, 250 Meter über dem Meeresspiegel gelegen, mit einem pittoresken Blick über die Bucht und die Häuser von Funchal – Gründgens mag es, mit seinem Fernglas die Uhrzeit am Turm der Sé Catedral de Nossa Senhora da Assunção abzulesen – und nur zehn Autominuten davon entfernt; er hat sich für seine Inselaufenthalte einen Peugeot 203, Baujahr 1949 zugelegt. Die »Vivenda Maria do Carmo«, wie sein erstmals Ende Juni 1960 bewohntes Zuhause an der Rua do Conde de Carvalhal Nr. 222 heißt, ist ein recht kleines, zweistöckiges Haus mit Wohn- und Eßraum sowie zwei Schlafzimmern, weiß getüncht, mit rot lackierten hölzernen Fensterläden, das Dach mit roten Ziegeln gedeckt, daneben Palmen und Bougainvilleen, zwei Orangen- und ein Zitronenbäumchen – und eine kleine casa de palha, ein strohgedecktes Häuschen, in dem Gründgens im Sommer gerne die Nacht verbringt. Wie das auf der Insel üblich ist, wachsen Unmengen von Orchideen, Rosen und Azaleen in Blumentöpfen, rund 1500 sind es an der Zahl: »Ich bin ganz verrückt damit. Hier blühen die Mimosen und Camelien und viele andere Blumen, deren Namen ich nicht weiß«4, hatte er gleich nach dem Kauf seiner Sekretärin Ursula Stadermann5 berichtet. Um das nahezu spartanisch eingerichtete, aber mit Strom- und Telephonanschluß ausgestattete Anwesen kümmert sich der Gärtner Antonio, »ein stiller netter Junge, der nicht so recht begriff, in was er da hineingeraten war«6, wie ein langjähriger Freund von Gründgens meint. Doch meist versorgt sich Gründgens selbst, er kocht leidenschaftlich gerne und ist stolz auf »seine Rezepte«7. Regelmäßig fährt er ins Reid’s, um dort zu schwimmen: Über Treppen erreicht man vom Hotel eine Plattform knapp über dem Meeresspiegel mit einem Pool und direktem Zugang zum Ozean. Zu Gründgens’ wenigen Bekannten auf Madeira gehören Walter Belmonte8, ein 1933 aus Deutschland emigrierter jüdischer Kinderarzt, und seine Frau Alice, ansonsten genießt Gründgens seine Anonymität und lebt völlig zurückgezogen. Um sich mit den Nachbarn rudimentär verständigen zu können, hat er sich etwas Portugiesisch angeeignet, »aber ich nehme an, daß, wenn ich mit meinem Portugiesisch nach Lissabon käme, das wäre ungefähr so, [wie] wenn ein Oberbayer nach Hamburg käme«9.
Dem Journalisten Günter Gaus gibt ein entspannt wirkender Gründgens am 17. Mai 1963 sein einziges Fernsehinterview, erstmals ausgestrahlt wird es in der Sendereihe »Zur Person« am 10. Juli im ZDF. Er sei »wahrscheinlich […] ein Glückskind gewesen«, erzählt er, denn das sei »die einzige Erklärung […], wieso das so hoch hinauf ging«, doch habe er »kräftig […] zahlen müssen für das Glückskindsein, in den Schoß gefallen« sei ihm nichts. »Ich habe in den letzten 30 Jahren immer zu viel gearbeitet und vergessen zu leben. Wenn ich jetzt diesen Einschnitt gemacht habe, so mache ich ihn, um vor Toresschluß noch rasch zu lernen, wie man lebt. Sehen Sie, mein Leben bestand darin: Das ist der Tag vor FAUST und der Tag nach FAUST oder der Tag vor HAMLET und der Tag nach HAMLET. Irgendeinen entspannten Tag gab es eigentlich ganz selten. Und wenn ich von dem Intendantenberuf sprechen soll: Der hat absolut nie Ferien.«10 In diesem Sommer besucht ihn für fünf Wochen das Schauspielerehepaar Ehmi Bessel und Werner Hinz, dem sich Gründgens besonders verbunden fühlt; die Abende verbringt man meist beim Skat. Dreimal wöchentlich nimmt er bei einer älteren Dame Englischunterricht, um sich auf eine lange geplante Weltreise vorzubereiten.
Acht Tage vor deren Antritt unterzieht sich Gründgens in Hamburg einer größeren zahnärztlichen Behandlung. Er wohnt in der Universitätsklinik Eppendorf – seine Wohnung im Harvestehuder Weg 19 hatte er bereits zum 31. Juli gekündigt. »Er war aufgeschlossen, heiter, voll mit Reiseplänen angefüllt, wirkte so ›unpsychiatrisch‹, daß wir ihm wenig Aufmerksamkeit schenkten«, berichtet der Psychiater Michael Winzenried. »Jetzt bin ich frei … Ist Freiheit Macht, oder werde ich noch einsamer?«, habe ihn Gründgens gefragt. »Ich freue mich unbändig auf die Welt, oder soll ich lieber hierbleiben? Freude gab es so wenig in meinem Leben, und nun fürchte ich, an diesem fetten Bissen zu ersticken …«11 Im Anschluß holt Gründgens in München, wo er im Bayerischen Hof absteigt, beim Herrenausstatter L. H. van Hees in der Brienner Straße die bestellte Reisegarderobe ab, begutachtet den Plakat-Entwurf für die geplante Tournee, verabredet sich unter anderem mit Emmy Göring und Marianne Hoppe, erhält Besuch von Antje Weisgerber und trifft sich in der Lobby des Hotels Vier Jahreszeiten mit Fritz Kortner, unter dessen Regie er in Hamburg den Lear spielen soll.12
Am 13. September 1963 fliegt Gründgens nach London. Begleitet wird er von seinem Geliebten, dem Regieassistenten Jürgen Schleiß13, der auch die KONZERT-Tournee leiten soll. Gründgens hatte den damals 21jährigen gelernten Mechaniker im November 1959 als Beleuchter am Schauspielhaus kennengelernt, bei der Arbeit an Lawrence Durrells SAPPHO. Seither verbringt er mit dem Sohn eines Hamburger Obst- und Gemüsehändlers, der vom Herbst 1960 an die Schauspielklasse von Eduard Marks an der Hamburger Musikhochschule besucht und am Schauspielhaus gelegentlich assistiert hat, regelmäßig die Ferien, obwohl dieser, nicht ganz unanstrengend für Gründgens, oft »vor Vitalität aus dem Anzug fällt«14. Am Abend des 13. September sehen sie im Londoner Cambridge Theatre das Musical HALF A SIXPENCE mit dem britischen Rock-’n’-Roll-Star Tommy Steele und feiern so den 25. Geburtstag von Schleiß. Am 15. September schiffen sie sich in Southampton auf der 1960 vom Stapel gelaufenen SS Canberra ein, dem größten Ocean Liner der Peninsular & Oriental Steam Navigation Company. »Das Schiff: man glaubt es nicht 2300 Passagiere.15 Alles in mißverstandener Sachlichkeit; die Aufenthaltsräume unterscheiden sich nur in ihren Namen, sonst sieht einer wie der andere aus. Das Essen grenzt an Skandal. Die Auswahl beschränkt sich auf je 2 Gerichte. Der Service ist gut und ein Schlager meine Kabine: sicher 40 qm«16, schreibt Gründgens seinem Adoptivsohn Peter Gründgens-Gorski. Die Zeit an Bord vertreibt er sich unter anderem mit der Lektüre von Günter Grass’ soeben erschienenem Roman HUNDEJAHRE; eine zentrale Figur darin ist der opportunistische Schauspieler Walter Matern, der, zunächst Kommunist, dann SA-Mitglied, seine Vergangenheit umdeutet, verdrängt und nur zum Teil eingesteht, bis diese schließlich zum Gegenstand einer öffentlichen Rundfunkdiskussion wird.
Via Gibraltar und Neapel steuert die SS Canberra Port Said an und durchquert dann den Suez-Kanal, »und ich muß sagen, daß das zum Eindrucksvollsten gehört, was ich gesehen habe. Ein imponierendes Werk von Menschenhand. […] Jetzt ist es schon ganz schön heiß. Swimmingpool heute morgen um 7 Uhr 30 80° Fahrenheit.«17 Durch das Rote Meer und den Golf von Aden erreicht das Schiff nach zwei Wochen schließlich das vom Monsun durchnäßte Colombo, die feuchte Hitze ist schier unerträglich, selbst das Bettzeug klamm. Gründgens und Schleiß wohnen im an der Küste gelegenen Mount Lavinia Hotel, der 1806 errichteten, 1877 zum Hotel umgewandelten Residenz des britischen Gouverneurs, zwölf Kilometer südlich der Hauptstadt. Am hoteleigenen Strand geht Gründgens im Meer schwimmen, und obschon »kaum zum Aushalten«, da »nur heiß und feucht«, machen die beiden eine »große Überlandfahrt«18 in die einstige singhalesische Hauptstadt Kandy mit dem berühmten »Zahntempel«. Per Flugzeug reisen sie am 3. Oktober weiter nach Singapur, erst seit einem Monat unabhängig von den Briten, steigen dort im Hotel Inter-Continental an der Orchard Road 585 ab, »das fabelhaft ist; mit Klimaanlage und Swimmingpool«19, und besuchen trotz Regens eine Orchideenschau sowie am Abend die drei nahezu menschenleeren Vergnügungsparks »The Great World« in der Kim Seng Road, der neben seiner Hauptattraktion, einer Geisterbahn, weitere Fahrgeschäfte, vier Kinos, einen Nachtclub und zahlreiche Restaurants bietet, »The Happy World« in der Geylang Road, wo man sich ebenfalls in Kinos, Theatern, Cabarets und Tanzlokalen amüsieren kann, und den ganz ähnlichen Park »The New World« in der Kitchener Road, berühmt für die Auftritte des Wrestlers King Kong und der »Queen of Striptease« Rose Chan. »Bis jetzt seit Suez keine Sonne mehr gesehen. Aber jetzt geht es wieder aufwärts (auf dem Globus)«20, berichtet Gründgens. Von Singapur fliegen die beiden in die philippinische Hauptstadt Manila, wo sie am Sonntag, dem 6. Oktober, eintreffen. Über Hongkong, Tokio, Honolulu, Los Angeles, Mexiko-Stadt, Acapulco, San Juan in Puerto Rico, die jamaikanische Hauptstadt Kingston, Miami und New York soll die Reise rechtzeitig zu den Weihnachtsfeiertagen zurück nach Hamburg führen.
Gründgens und sein Freund checken kurz nach 14 Uhr im Manila Hotel am Rizal-Park ein, dem 1912 eröffneten ersten Haus am Platz. Der übermüdete und aufgrund der Nachricht, er müsse wegen einer für die Weiterreise erforderlichen Cholera-Impfung sechs Tage lang auf den Philippinen bleiben, ungehaltene Gründgens ist unzufrieden mit dem reservierten Zimmer und wartet in der Lobby, während Schleiß in einem Taxi andere Hotels abklappert, um eine bessere Unterkunft aufzutreiben. Schließlich findet sich im Manila Hotel dann doch ein akzeptables Apartment: Room 326, zwei Schlafzimmer, verbunden mit einem Korridor, von dem aus eine Tür ins Bad führt. Beim Abendessen verabredet man für den nächsten Tag eine Fahrt ins Landesinnere, bespricht den zu verschiebenden Weiterflug nach Hongkong. Als sich Gründgens um halb elf schlafen legen will, Schleiß aber noch ausgehen möchte, kommt es, wie dieser später erzählen wird, zu einem »furchtbaren Streit«, so heftig und lautstark, daß die Zimmernachbarn an die Wand klopfen. »Mach, daß du rauskommst, verschwinde«, habe ihn Gründgens angeschrieen.21 Jürgen Schleiß begibt sich um halb zwölf hinunter in die »Jungle Bar« des Hotels, von der er eine Stunde später zurückkehrt. Er zieht seinen Pyjama an und geht zu Bett, findet jedoch wegen der Neonreklame, die in sein nicht zu verdunkelndes Zimmer scheint, keinen Schlaf. So hört er etwa eine halbe Stunde später »irgendetwas bumsen«22. Er sieht Licht in Gründgens’ Schlafzimmer, klopft, bleibt ohne Antwort, macht die Tür auf – das Bett ist leer. Die Badezimmertür läßt sich nur schwer öffnen, Gründgens liegt mit dem Kopf dagegen auf dem Boden. Schleiß hebt den Kopf vorsichtig an: Noch lebt Gründgens, ist aber besinnungslos, seine Atmung sehr flach. Herzschlag und Puls sind kaum spürbar, die Oberlippe weist eine leichte Blaufärbung auf. Über das Haustelephon verlangt Schleiß bei der Rezeption nach einem Arzt, dann legt er ein Kissen unter Gründgens’ Kopf. Zunächst erscheint eine Krankenschwester, nach ihr Dr. Tiongson, der Hausarzt des Hotels, der sogleich eine Koffeinspritze aufzieht, dann aber nochmals Gründgens’ Herz abhorcht und den Tod konstatieren muß. Auf Drängen von Schleiß injiziert die Krankenschwester die Spritze dennoch.
Luftpostumschlag mit der letzten Notiz von Gustaf Gründgens
© Theatermuseum Düsseldorf
Fortunato Angeles, der Security Supervisor des Hotels, ruft um 1.45 Uhr die Polizei. Beamte des vierten Reviers unter Leitung von Detective Avelino Evangelista von der Mordkommission sowie der 55jährige Mariano B. Lara, der erfahrene Chief Medical Examiner des Police Departments, untersuchen die Leiche und deren Fundort. Im Waschbecken entdeckt man ein leeres, zerbrochenes Tablettenröhrchen des Schlafmittels Nembutal23 – an einer Überdosis dieses Barbituratsäure-Derivats war ein Jahr zuvor Marilyn Monroe gestorben. Auf einen Briefumschlag, den man in Gründgens’ Schlafzimmer findet, hatte er geschrieben: »Ich habe glaube ich zu viel Schlafmittel genommen, mir ist ein bißchen komisch. Laß mich ausschlafen.«24 Die 24jährige Stewardeß Hildur Kirchdörfer hatte Gründgens und Schleiß auf dem Herflug mit Pan American Airways begleitet und schläft nun im Zimmer 436. Man weckt sie auf Wunsch von Schleiß, der nur Deutsch spricht, damit sie bei der Vernehmung, die in einem unbelegten Hotelzimmer stattfindet, dolmetscht. Der in Tränen aufgelöste Schleiß, von der Polizei zunächst verdächtigt, er habe seinen Reisegefährten umgebracht, beteuert immer wieder, er sei nicht schuld, sei ja gar nicht auf dem Zimmer gewesen.25 Hildur Kirchdörfer übersetzt auch Gründgens’ letzte Zeilen für die philippinischen Polizisten ins Englische. Ungewöhnlich ist eine solche Notiz für Gründgens indes keineswegs. »Bitte nicht wecken / Kein Telephon / Kein gar nichts / Und wenn es 5 Uhr wird«, heißt es etwa auf einem Zettel aus dem Jahr 1952, der mit den Worten endet: »Ob ich spiele, entscheide ich, wenn ich wach bin.«26 Ein Polizeiphotograph macht Aufnahmen des mit einem Pyjama bekleideten Toten. Der von Mariano B. Lara ausgestellte Totenschein vermerkt: »Asphyxial cardio respiratory failure secondary to an ingested substance causing hemorrhage in stomach and duodenum and congestion of visceral organs, to be verified by toxological analysis.«27 Die Polizisten halten fest, es handle sich entweder um Suizid oder um eine unbeabsichtigte Überdosis, und ordnen eine Autopsie an. Gegen 4.30 Uhr – im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg läuft gerade Gründgens’ wiederaufgenommene Inszenierung von Tirso de Molinas DON GIL VON DEN GRÜNEN HOSEN – wird die Leiche durch einen Ambulanzwagen ins städtische Leichenschauhaus überführt. Als das von Schleiß aufgegebene Telegramm mit der Todesnachricht Peter Gründgens-Gorski in seiner Wohnung in der Enzianstraße 20 erreicht, ist es in Hamburg tief in der Nacht. Am Morgen werden die Mitglieder des Schauspielhaus-Ensembles telephonisch benachrichtigt und ins Theater gerufen, stundenlang sitzen sie im Konversationszimmer beieinander; die Probe zu den LUSTIGEN WEIBERN VON WINDSOR unter Gorskis Regie wird abgesagt.
In Manila hat man den Toten derweilen obduziert. Eine chemische Analyse des Mageninhalts ergibt Spuren von Barbiturat, jedoch keine Zyanide. Man findet weder Magengeschwüre noch Hinweise auf eine Krebserkrankung. Hatten die Schlafmittel im tropischen Klima der Philippinen womöglich eine stärkere Wirkung entfaltet? Hätte Gründgens auch die von ihm ständig benötigten Blutgerinnungshemmer neu dosieren müssen? Hatte er, durch den Streit erregt, eine zu hohe Dosis eingenommen? Oder hatte er geglaubt, nur der Tod könne ihn von der Sehnsucht nach Leben erlösen? Am 9. Oktober 1963 verfaßt in Manila der zuständige Polizeioffizier Enrico C. Quemi einen abschließenden Bericht, der vermerkt, Gustaf Gründgens sei eines natürlichen Todes gestorben. Dennoch veröffentlicht die deutsche Boulevardpresse Photos der halb entblößten Leiche, garniert mit – lange anhaltenden – Spekulationen über die Todesursache. »Polizei in Manila erklärt: Gustaf Gründgens beging Selbstmord«, lautet der Aufmacher der Hamburger Morgenpost am 9. Oktober 1963. 1967 gewinnt Peter Gründgens-Gorski die Klage wegen schwerer Verunglimpfung des Andenkens gegen die Lübecker Nachrichten, die eine angebliche Behauptung von Gründgens’ Mitarbeiter Ulrich Erfurth zitiert hatten, daß Gründgens »im bekanntesten Homosexuellen-Hotel Manilas« gewohnt und »sich in seinem Zimmer umgebracht habe, weil ihn sein ›Bubi‹ […] betrogen habe«28. Noch Jahrzehnte später raunt man, zwei Stricher hätten Gründgens »massakriert«29, und nicht nur der Stern kolportiert 1995 Johann Kresniks Behauptung, Gründgens sei »einem homosexuellen ›Ritualmord‹ zum Opfer gefallen und eilig eingeäschert worden«30.