Czytaj książkę: «Gipfelstürmerinnen»
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
EINLEITUNG
WEM GEHÖREN DIE ALPEN?
THEORETISCHER UND METHODISCHER HINTERGRUND
FORSCHUNGSSTAND UND QUELLEN
BERGSTEIGEN ALS SYMBOLISCHE PRAXIS
HENRIETTE D’ANGEVILLES MONTBLANC-EXPEDITION VON 1838
VERSCHIEDENE ARTEN, DIE BERGE ZU BEREISEN
Pilgerfahrten: Francesco Petrarca auf dem Mont Ventoux
Landschaft als ästhetisches Erlebnis: Immanuel Kant und die Erhabenheit der Alpen
Wissenschaftliche Expeditionen: Johann Jakob Scheuchzer und Horace-Bénédict de Saussure
Arkadien in den Alpen: Albrecht von Hallers und Jean-Jacques Rousseaus Utopien
DAS SCHREIBEN VON TOURENBERICHTEN
Der Tourenbericht als Beweis einer Erstbesteigung
Über die eigenen Taten berichten: ein schwieriges Unterfangen für eine Dame
Dora d’Istria und die erste Besteigung des Mönchs
Fahrtenbücher: «Es muss Material für glorreiche Erinnerungen gesammelt werden!»
WANDERN IM NATIONALMONUMENT
DIE ALPEN ALS ERINNERUNGSLANDSCHAFT DER SCHWEIZ
DIE TOURISTEN «EROBERN» DIE ALPEN
Die Schweizer Alpen als Fremdenverkehrsziel
Die Bergtour als Eroberung: Leslie Stephen und Edward Whymper
KONTROLLE UND VERWALTUNG DER IMAGINÄREN LANDSCHAFT
Der Schweizer Alpenclub und die symbolische Rückeroberung der Berge
Nationalistische Erlebnispädagogik: die Jugendgruppen der Alpenclubs
GESCHLECHTERORDNUNG IN DEN ALPENCLUBS
WIE DER SAC DAS HOCHGEBIRGE ZUM MÄNNERRAUM MACHTE
Die Bergtour als Männlichkeitsritual
Unter Männern: weibliche Mitglieder im SAC und DÖAV
Der SAC wird zum Männerbund
DIE FEINEN UNTERSCHIEDE ZWISCHEN «BERGSTEIGERN» UND «MASSE»
Alpinisten und Touristen
Hüttenkehraus: Die Alpenclubs wollen das Hochgebirge für sich reservieren
EIN EIGENER VEREIN: DIE FRAUENALPENCLUBS
Der Schweizer Frauen-Alpenclub SFAC (1918)
Reaktionen auf den SFAC
Der britische Ladies’ Alpine Club (1907)
FRAUEN IM HOCHGEBIRGE
UNABHÄNGIG ODER ANGEBUNDEN?
En famille in den Alpen: bürgerliche Bergsteigerinnen der 1860er- und 1870er-Jahre
Im «Salon der Alpen»: Bergsteigerinnen der 1880er- und 1890er-Jahre
DIE «NEUE FRAU» AM BERG
Bergsteigen als «Schule der Emanzipation»
Frauen und Männer als Bergkameraden
Ausserhalb der Norm: Frauenseilschaften und Einzelgängerinnen
KLEIDER, KÖRPER UND KONKURRENZ
DIE HYGIENE DER BERGSTEIGERIN: RATGEBERLITERATUR 1892–1937
VON DER SCHONUNG DES TEINTS ZUM GESTÄHLTEN FRAUENKÖRPER: WEIBLICHE ROLLENMODELLE UND ALPINISTISCHE PRAXIS
Klettern in Krinoline und Korsett?
Körperkraft
Konkurrenz
BERGSTEIGEN IM ÖFFENTLICHEN DISKURS
EROTIK IN DEN ALPEN: EINE DEBATTE UNTER BERGSTEIGERN
ALPINISMUS ALS SELBSTERFAHRUNGSTRIP: BERGSTEIGERROMANE DER 1920ER- UND 1930ER-JAHRE
Geschlecht und Gesellschaft am Berg: Henry Hoek und Felizitas von Reznicek
Bergsteigen als «männliche Tat»: Ludwig Hohl und Max Frisch
DIE BERGTOUR ALS METAPHER
Die Verteidigung einer Erinnerungslandschaft
Die «Lösung der letzten Probleme»: die Bergtour als politische Metapher
Bergsteigen als Leistungsmetapher
GRENZEN DES AUFSTIEGS
ANHANG
Abkürzungen
Anmerkungen
Bibliografie
Bildnachweis
Namen- und Ortsregister
«Weisch was mich ganz persönlich a de Berge eso fasziniert?
Da obe gsehnd d’Lüüt sogar ime Stuck räässe Chäs magischi Chreft!»
Michelle Tobler in «Käse – eine Alpensaga»
VORWORT
Sieben Personen aus der Stadt verbringen die Nacht in einer Alphütte: ein Ehepaar auf Schweizer-Familie-Wanderung, ein Mountainbikertrio, eine junge Aushilfshüttenwartin im Zwischenjahr nach der Matura und schliesslich eine Dokumentarfilmerin, die einen Film über das Leben der Bergbewohner drehen will. Alle wollen die reine Natur und das urtümliche Alpenleben geniessen. Und alle bringen ihre eigenen Vorstellungen mit, was dies sei. Was geschieht, als sie von einem Unwetter in der Hütte festgehalten werden, war das Thema einer 1998 vom Theater Tritonus aufgeführten Tragikomödie. Die Mitarbeit bei dieser Gruppe war ein wichtiger Teil meines Lebens neben dem Studium, und ich habe die Rolle der Filmerin, die alles über die Berge wissen will, aber nichts davon wirklich sieht, gespielt, bevor ich ahnte, dass ich mich bald darauf im Rahmen meiner Lizenziatsarbeit und Dissertation sehr intensiv mit den Alpen beschäftigen würde.
Dass die vorliegende Arbeit entstehen konnte, dazu haben viele Personen beigetragen. Mein Dank gilt Professor Jakob Tanner, der mich darauf aufmerksam gemacht hat, dass das Bergsteigen ein lohnendes Thema der Sozial- und Kulturgeschichte sein könnte. Er hat meine Arbeit auch in schwierigen Zeiten freundlich unterstützt und mich immer von Neuem mit Lesetipps und Anregungen versorgt. Meine Dissertation ist im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 48 «Alpine Landschaften und Lebensräume» des Schweizerischen Nationalfonds entstanden. Dank dem damit verbundenen dreijährigen Stipendium war es mir möglich, die für eine wissenschaftliche Arbeit nötige Ruhe zu finden und auch Archive im Ausland zu konsultieren. Bei der Suche nach Quellen und Literatur bin ich auf viel Wohlwollen gestossen, namentlich bei Susanne Grieder, Urs Kneubühl und Markus Schwyn vom Schweizerischen Alpinen Museum in Bern, bei Thomas Germann von der SAC-Bibliothek, bei Annette Kohler von der SAC-Geschäftsstelle, bei Friederike Kaiser und Johannes Merk vom Museum des Deutschen Alpenvereins in München und bei Margaret Ecclestone von der Alpine Club Library in London. Zudem haben mich Daniel Anker, Pierre Badrutt, Christof Dejung, Marthe Gosteli, Viola Imhof, Christine Kopp, Quirinus Reichen und Katharina von Salis an ihrem Wissen teilhaben lassen und mit Material unterstützt, das ich ohne sie nie gefunden hätte.
Speziell danken möchte ich meinen Eltern, deren grosses Interesse an meiner Arbeit mich sehr gefreut hat: Cristina Wirz hat sowohl als Lektorin wie als Babysitterin unschätzbare Hilfe geleistet, Albert Wirz hat wertvolle wissenschaftliche Anregungen geliefert. Ihm, der 2003 leider viel zu früh verstorben ist, sei diese Arbeit gewidmet. Mein Dank gilt zudem May B. Broda, Jon Mathieu und François Walter für ihre Unterstützung bei der Projekteingabe, meinen Kolleginnen und Kollegen von der Forschungsstelle für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Zürich, den Frauen von der Historikerinnentagung 2002 und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Kolloquiums «Landschaft und sozialer Raum» für die anregenden Diskussionen, meinen Pfadifreunden für die vielen Erzählungen von SAC-Hütten, Igluwochen und Bergabenteuern, Brigitte Kramer und Nicole Schwager für die aufmunternden Kaffeepausen, Walter Leimgruber, der sich als Co-Referent für die Dissertationsprüfung zur Verfügung stellte, Madlaina Bundi und Bruno Meier vom Verlag hier + jetzt, die engagiert halfen, aus dem Manuskript ein Buch zu machen, Stefan Husi vom NFP 48, der sich dafür einsetzte, dass dies auch finanziell möglich wurde, und schliesslich meinem Mann Tobias Ueberwasser für seine grossartige Unterstützung in vielerlei Hinsicht.
EINLEITUNG
1 Gletscherspalten Nähe Sella-Pass, Fotografie von Elizabeth Main, um 1890.
WEM GEHÖREN DIE ALPEN?
Im September 1919 lud der Schweizer Alpenclub SAC anlässlich seiner Jahresversammlung zu einem Bankett im Basler Musiksaal. Bevor den versammelten Vereinsmitgliedern – alles Männer – das Festessen serviert wurde, wurde ein kurzes, von einem Mitglied verfasstes Theaterstück aufgeführt: Die Trachtenmädchen Lotte und Susi betreten den Saal. «Ich hoff mer werde-n-Eich nit stere», beginnt Lotte, doch sie seien neugierig gewesen, was hier los sei. Susi: «Gieb numme-n-acht, ’s kennt dir passiere, dass sie di use thiend spediere. Die Herre sind vom SAC, und die wänd kaini Fraue gseh.» Lotte ist voller Unverständnis: «I ka’s nit glaube, was du saisch, in hitiger Zit – wie du wohl waisch – wo’s Frauestimmrecht do und dert zum ABC vom Fortschritt ghert, da wott der Alpe-Club jetz grad bim Alte blibe? Das isch schad.» Susi fährt fort, der Herrgott habe die Alpen für alle gemacht: «Und sotte unser eins, mir Fraue, die Berg denn nur vo-n-unde b’schaue? Jo woll, das kennt mer grad no g’falle, die Schwiizer Alpe ghere-n-alle.»1 Trotz kämpferischem Auftakt endete die Szene damit, dass die beiden Mädchen den Alpenclubisten Basler Läckerli schenkten und ein frohes Fest wünschten.
Diese Quelle aus dem Fundus des SAC führt mitten in die Thematik meiner Untersuchung: Ein Jahr zuvor, 1918, war der Schweizer Frauen-Alpenclub SFAC gegründet worden, da sich die «Herren vom SAC» trotz wiederkehrenden Diskussionen nicht dazu hatten durchringen können, weibliche Mitglieder in ihren Reihen zu akzeptieren. Einzelne Sektionen des Vereins hatten Frauen bisher als Ehren- oder Passivmitglieder aufgenommen, doch 1908 wurde dem ein Ende gemacht: Gemäss neuen Statuten waren Frauen nicht mehr zugelassen, bereits aufgenommene durften das Clubabzeichen fortan nicht mehr tragen.2
Umso stolzer waren die Schweizerinnen auf ihren neuen Frauenclub: «Toujours plus haut avec fierté!», lautete der Refrain ihres Vereinsliedes.3 Während die von einem Mann erfundenen Trachtenmädchen ihre Ansprüche mit der Gleichheit aller Menschen begründeten, beriefen sich die SFAC-Frauen in ihrem Lied auf Freiheit und Vaterland:
«De l’Alpe nous avons l’amour,
Et nous y chanterons toujours
Les beaux refrains de nos vieux pères
Où vibre une âme ardente et fière,
L’écho des monts nous a porté
Leur cri: patrie et liberté.»4
Ihr Lied zeigt: Die SFAC-Gründerinnen wollten sich nicht etwa in die Reihen der Frauenbewegung einordnen, sondern in eine männliche Tradition. Nicht die Mütter waren es, die ihnen von den Alpen sangen, sondern die «vieux pères». Der SFAC wurde explizit als «kleine Schwester» des SAC und nach seinem Beispiel aufgebaut.5 Die Gründerinnen suchten ihren Aktionsraum zu erweitern und den Männern den alleinigen Zugriff auf den symbolischen Raum Alpen streitig zu machen. Doch sie taten es interessanterweise nicht, indem sie sich vom Männerclub distanzierten, sondern indem sie in die Fussstapfen ihrer Konkurrenten traten. Darauf wird noch zurückzukommen sein.
Dieser Konflikt darüber, ob auch Frauen zum SAC gehören sollten, ist einer von vielen Belegen dafür, dass die Alpen ein umstrittener Raum waren. In den Begriffen von «Besitz» und «gehören» wurde verhandelt, wer sich zu Freizeit- und Ferienzwecken dort aufhalten sollte, was dort auf welche Weise zu welchem Zweck getan werden durfte und wie anschliessend darüber zu berichten war. Genau wie das oben zitierte Theaterstück spielten sich diese Auseinandersetzungen aber meist nicht im Gebirge, sondern viel eher in der Stadt ab, wo die Mehrheit der Alpinistinnen und Alpinisten lebte und wo in der Folge auch ein Gutteil der Vereinsaktivitäten der Bergsteigerclubs stattfand.6 Verhandelt wurden denn auch weder der tatsächliche, juristische Landbesitz noch Wegrechte. Im Gegenteil: Die Frage, wem der Boden im Hochgebirge gehört, war unter Bergsteigerinnen und Bergsteigern geradezu tabu.7 Der Raum, um den sie stritten, war nicht jener, den die alpine Bevölkerung bewohnte und bewirtschaftete, sondern vielmehr eine imaginäre Landschaft, welche die Touristen, Wissenschaftler und Künstler symbolisch zu besetzen suchten; eine angeblich unberührte Wildnis, ein leerer Imaginationsraum, in den sie ihre jeweils eigenen Ideen und Werte projizieren konnten.
Da ich im Folgenden die «Nutzung» einer solchen imaginären Landschaft untersuche, kann ich die Analyse nicht auf einen abschliessenden geografischen Raum beschränken. Ich betrachte Texte von schweizerischen, deutschen, französischen, englischen, italienischen und amerikanischen Bergsteigerinnen und Bergsteigern, die in den Berner, Walliser und Bündner Alpen und im Montblanc-Massiv unterwegs waren – aber auch in aussereuropäischen Gebirgen: Bergsteigen war eine Tätigkeit, die Menschen verschiedener Nationalität miteinander verband, sei es in gemeinsamen Seilschaften, sei es im Wettlauf um dasselbe Ziel.
«WIE DIE ALPEN EROBERT WURDEN» – EINE ERFOLGSGESCHICHTE
Die Konflikte um die Definitionsmacht über diese imaginären Alpen zeigen sich allerdings erst auf den zweiten Blick. Die meiste populäre und ein Grossteil der wissenschaftlichen Literatur über das Bergsteigen wird von einer «grossen Erzählung» beherrscht, die Widersprüche ausblendet und die Geschichte des Alpinismus als das erfolgreiche und mehr oder minder geradlinige Ringen männlicher Pioniere um Fortschritt und Erkenntnis darstellt und sich auf die Wiedergabe von Namen, Daten und Höhengraden konzentriert.8 Weil diese Erzählung für den alpinistischen Diskurs so zentral ist, hier einleitend ihre wesentlichen Grundzüge:
Am Anfang waren die Alpen. Die in ihren Tälern lebenden Menschen fürchteten sich angeblich, auf die Gipfel zu steigen, weil sie glaubten, dort hausten Drachen und Dämonen. Nur vereinzelte mutige Kristallsucher, Gämsjäger oder gelegentlich ein Hirte auf der Suche nach einem verloren gegangenen Tier wagten sich in die unheimlichen Höhen. Die Dichter und Denker jener Zeiten hielten die Alpen für hässlich und gefährlich, den Bauern – so heisst es – ging jeder Sinn für Ästhetik von vornherein ab. Doch dann findet ein grundlegender Wandel statt: Das «finstere Mittelalter» ist vorbei, die europäische Geisteselite entdeckt die Alpen und rühmt ihre Schönheit und Erbaulichkeit. Der künstlerischen und philosophischen Entdeckung folgt die wissenschaftliche und sportliche Eroberung, das «goldene Zeitalter des Alpinismus» bricht an: Auftritt der britischen Bergsteigerpioniere. Ab 1850 wetteifern mutige Alpinisten darum, wer am schnellsten möglichst hohe und möglichst viele Gipfel erobern kann, und dabei bedienen sie sich der Dienste treuer einheimischer Bergführer, die zwar ungehobelte, aber edle Naturburschen sind. Mit der Matterhornbesteigung, die zum Tod von drei Bergsteigern und einem Bergführer führt, endet diese Phase 1865.
Nach diesem apokalyptischen Finale – so immer noch die Erzählung – wird es für ambitionierte Alpinisten zusehends schwieriger, Gelegenheit für herausragende «Taten» zu finden. Einerseits ist «alles schon gemacht», andererseits findet das Bergsteigen immer zahlreichere Anhänger. Auswege aus diesem Dilemma werden im Sportklettern, im Skifahren, in Winterbesteigungen und in den aussereuropäischen Bergen gesucht. Daneben organisieren sich die Bergsteiger ab 1860 in Vereinen, welche die Alpen durch so genannte «Clubarbeit» erschliessen: Wege und Hütten werden gebaut, Karten und Tourenbeschreibungen veröffentlicht, Vereinschronisten beginnen die Geschichte des Bergsteigens und ihrer Vereine festzuhalten. In den 1930er-Jahren schliesslich kommt geradezu Endzeitstimmung auf, es ist die Rede von den «letzten Problemen». Gemeint sind die Nordwände der Alpen, deren Erstbegehung als letztes noch mögliches alpinistisches Ziel betrachtet wird. Doch 1938 wird die Eigernordwand erstiegen, und damit auch dieses Problem gelöst. Nach dem Zweiten Weltkrieg franst die Erzählung aus, die Spur ihrer Helden verliert sich irgendwo in den Weiten des Himalaya.
Diese heftig geraffte Version der Geschichte des Alpinismus mag in ihrer Klischeehaftigkeit ironisch erscheinen, sie besteht jedoch aus Versatzstücken, die bis heute in grossen Teilen der alpinistischen Literatur gepflegt werden. Ihre Grundstruktur stammt aus dem 19. Jahrhundert und wurde stark von den britischen Bergsteigern geprägt. Es handelt sich dabei um einen Gründungsmythos der Alpinistengemeinschaft, in dem wichtiges Wissen über die eigene Gruppe transportiert wird: Wer sind wir, und was wollen wir? Wer gehört dazu, wer nicht? Daneben enthält die Erzählung aber auch Legitimation gegen aussen: Sie ist eine Aufzählung der eigenen Leistungen und Verdienste, die belegen soll, dass Bergsteigen eine sinnvolle Beschäftigung ist. Nicht hinein passen: gebildete Alpenbewohner, nichtbürgerliche Bergsteiger, Frauen. Stattdessen ist die Erzählung von Vereinnahmungstendenzen gegenüber allerlei berühmten Persönlichkeiten geprägt: Von Petrarca über Goethe bis hin zu Jesus führt die Liste früher «Bergsteiger».9 Ausserdem enthält sie eine Moral und einige Thesen über den Verlauf menschlicher Geschichte. Die Moral: Ideelle Ziele sind materiellen vorzuziehen – wobei selten bemerkt wird, wie elitär diese Position ist. Die Thesen: Es gibt beständigen Fortschritt hin zum Besseren, und dieser Wandel wird initiiert durch Entdeckungen, Ideen und «grosse Taten» einzelner, besonders begabter und willenskräftiger Pioniere. Anschliessend folgt dann jeweils die Popularisierung, die je nach politischer Haltung der Erzähler für gut oder schlecht befunden wird.
Ursprünglich ist diese Geschichte eine bürgerliche Männergeschichte. Varianten dazu gibt es jedoch viele, denn die Fortschrittsoptik lässt sich übertragen: Wie die Schweizer die Alpen eroberten. Wie die Arbeiter die Alpen eroberten. Wie die Ostalpen erobert wurden. Und auch Frauen haben eigene Varianten davon produziert, mit sich selbst in den Hauptrollen.10 In der Zeitschrift des Schweizer Frauen-Alpenclubs etwa finden sich zahlreiche Beispiele für den Versuch, eine eigene «Frauen-Alpinismusgeschichte» nach dem Muster dieser «grossen Erzählung» zu schreiben: Weibliche Vorbilder sollen dabei das Bestehen einer langen Traditionslinie des Frauenalpinismus belegen und das unweiblich erscheinende Tun der SFAC-Frauen legitimieren. Und genauso wie die männlichen Bergsteiger stellen sich die Frauen ungeniert eine Ahninnengalerie aus illustren Persönlichkeiten zusammen: Wagemutige Bürgerstöchter des 19. Jahrhunderts werden dabei genauso zu Pionierinnen des Frauenalpinismus wie mittelalterliche Bergliebhaberinnen, die als Hexen verbrannt, oder gar Höhlenbewohnerinnen, deren Knochen in gebirgiger Gegend gefunden worden sind.11
DURCH EIGENE LEISTUNG NACH OBEN
Ich referiere diese traditionelle Variante der Alpinismusgeschichte nicht deswegen so ausführlich, weil ich ihr nun die einzig wahre (andere) Darstellung entgegenhalten möchte, sondern weil sie so gut belegt, wie Bergsteigerinnen und Bergsteiger sich selbst inszenieren wollten: als autonome, bürgerliche Individuen und Gruppen auf dem Weg zu einem höheren Ziel.
Diese Inszenierungen sollen in der vorliegenden Arbeit etwas genauer untersucht werden, und zwar aus der Perspektive der Geschlechtergeschichte. Ich werfe einen Blick hinter die Selbstverständlichkeiten dieser «grossen Erzählung(en)», auf die zahlreichen Konflikte und Widersprüche, die das Ringen um den symbolischen Raum Hochgebirge prägten. Bis heute gilt zumeist als Allgemeinwissen, dass 1.) Bergsteigen im Grunde Männersache sei, 2.) die Erstbesteigung eines Gipfels als sportlicher Sieg einer Nation über andere Länder gelten könne, und dass 3.), wer den Weg nach oben geschafft habe, zur gesellschaftlichen Elite gehöre, während die «Massen» im Tal unten bleiben sollten. Doch wie kam es eigentlich dazu, dass eine an sich geschlechtsneutrale Tätigkeit als besonders männlich zu gelten begann? Weshalb sollte Bergsteigen für Männer gut, für Frauen jedoch schlecht sein? Wie konnte das Ersteigen von Bergen, die in einem bestimmten Nationalstaat liegen, als Eroberung durch Vertreter eines anderen Landes gesehen werden? Und schliesslich: Wie kommt es, dass die Alpinistinnen und Alpinisten zumeist betonten, innerhalb der Bergsteigergemeinde gebe es keine gesellschaftlichen Unterschiede, das Bergsteigen gleichzeitig aber auch als Mittel sahen, sich von den «gewöhnlichen» Menschen elitär abzugrenzen? Am Beispiel des Bergsteigens werde ich demnach im Folgenden untersuchen, wie Teile des europäischen Bürgertums in den Jahren 1840 bis 1940 individuelle und kollektive Identitäten erzeugten, festigten und durch den Einbezug der als Wildnis imaginierten Alpenlandschaft naturalisierten.12
Identität, also die Vorstellung davon, wer man sei, verdankt sich grösstenteils der Zugehörigkeit zu einer oder mehreren sozialen Gruppen, wobei zahlreiche Überschneidungen und fliessende Übergänge vorkommen.13 Darüber hinaus ist «Identität» (von idem, «dasselbe») im Wortsinn eigentlich eine Täuschung: Gemeint ist, unter verschiedensten Umständen im Grunde gleich zu bleiben, auch wenn, wie zahlreiche Autoren gezeigt haben, für individuelle Biografien der Wandel die Regel ist.14 Dennoch ist es für die Einzelnen unabdingbar, zumindest den Eindruck zu haben, ihr ganzes Leben lang im Prinzip die- oder derselbe zu bleiben.15 Deshalb muss diese sich wandelnde Identität immer wieder als eigene bestätigt werden, und dies geschieht unter anderem durch Selbstdarstellung mittels symbolischer Praktiken. Und genau eine solche ist auch der Alpinismus. Besser noch als die Geschichte vom Tellerwäscher, der Millionär wird, bestätigt die Aktivität Bergsteigen die Leistungsideologie, die für die moderne bürgerliche Gesellschaft so zentral ist. Denn eine Bergtour ermöglicht den Einzelnen, das Credo «durch eigene Leistung, Selbstüberwindung und starken Willen nach oben» selbst in Szene zu setzen und konkret zu erleben – ganz egal, ob es für ihr restliches Leben tatsächlich zutrifft. Obwohl die meisten Bergsteigerinnen und Bergsteiger nur während eines verschwindend kurzen Teils ihres Lebens Gipfel erkletterten, definierten und definieren sich viele von ihnen über diese Tätigkeit. Und nach wie vor erzählen zahlreiche Personen des öffentlichen Lebens gern, wie sie in ihrer Freizeit Berge erklimmen: Das Alpinistenimage ist für Politiker, Wirtschaftsführer, Chefärzte und Wissenschaftler gleichermassen geeignet, sich als erfolgreiches, willensstarkes und autonomes modernes Individuum zu charakterisieren.16