Kleine Geschichte von der Frau, die nicht treu sein konnte

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Kleine Geschichte von der Frau, die nicht treu sein konnte
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Meiner Mutter

und

zur Erinnerung

an meinen Großvater (1893–1986)

Wir leben in vielen Räumen, hören viele Stimmen.

1. KAPITEL

Lose Enden

Tuttiliebe

In ihrem vierzigsten Jahr geriet für Eva das Leben durcheinander, als sie in Bergen vor einem Bild des berühmten Malers Edvard Munch stand. Eigentlich hatte das Durcheinander schon früher begonnen, vielleicht war es schon immer dagewesen. Ein geradezu regelmäßiges Durcheinander jedenfalls herrschte in Evas Liebesleben, obwohl sie nun schon seit fast zehn Jahren mit Stefan verheiratet war, einem Klarinettisten.

Eva wäre ihm gern treu gewesen, doch wie mit den Männern vor Stefan, vor ihrer Ehe, kam ihr immer etwas dazwischen, und stets blieb sie verwirrt und traurig zurück. Die Liebe wollte ihr nicht glücken. Sie war nicht einem treu, sondern zweien, sie rannte zweien weg, um es mit einem dritten zu versuchen. Sie ließ sich Horoskope stellen, die sie sofort wieder vergaß, und sprach viele Wochen und Monate lang mit ihrer persönlichen Stadtindianerin. Sie schwankte zwischen dem Eingeständnis, nun einmal so zu sein, wie sie war, und der Sehnsucht, doch einmal anders sein zu können. Sie ließ sich von ihrer Freundin Nora die Karten legen; und Nora, die sie kennengelernt hatte, als sie beide jung waren und sich auf Noras Rücken ein langer, kastanienbrauner Zopf kringelte, hatte schon damals gesagt: „Meine Liebe, du möchtest so gern treu sein, ich sehe es dir an.“

Und Eva hatte auch mit Nora geschlafen und dem Mann, der früher in Nora verliebt gewesen war und nun Eva liebte, alle drei zusammen in einem Bett. Eva hatte gespürt, wie zart eine Frau sein kann. Sie hatte Nora geküsst, bis ihr von so viel Nähe und Ähnlichkeit schwindelig wurde, und genau in diesem Augenblick war Robert in die Wohnung gekommen und hatte sich dazugelegt. Später, als es Robert längst nicht mehr gab, hatte sich ihr Gespräch immer wieder um Evas Neigung gedreht.

„Du hältst es eben mit der Tuttiliebe,“ sagte Nora. Nora war eine sehr belesene Person und hatte dieses schöne Wort bei Jean Paul aufgeschnappt. „Die Liebe zu vielen“, erläuterte sie, „um nicht zu sagen zu allen. Es handelt sich um eine Art Generalverliebtheit.“

Doch Eva wollte keine rechte Freude daran haben.

„Was ist so schlimm daran, viele Männer zu lieben?“, fragte Nora und rollte sich eine Zigarette.

„Nichts“, antwortete Eva.

„Warum macht es dich dann so traurig?“, fragte Nora weiter und leckte den Rand des Papierchens.

„Ich hänge so an jedem“, sagte Eva und sah ihre Freundin aus aufrichtig bekümmerten, grün gesprenkelten Augen an.

„Ich bin jedem verwachsen wie das Moos dem Baum, an den es sich schmiegt.“

Nora kicherte.

„Das Dumme ist nur“, sagte Eva, „dass in meinem Herzen Platz für eine komplette Baumschule ist.“

„Soso“, machte Nora spöttisch und zündete die Zigarette an, „lauter junge Tännchen, oder was?“

„Naja“, sagte Eva, „kannst auch sagen, ein ganzer Wald.“ Nora lachte.

„Du bist gemein!“, sagte Eva, fing aber auch an zu kichern.

Nora klemmte die Zigarette zwischen ihre schmalen, hübschen Lippen und begann, die Karten zu mischen.

„Ich verstehe immer noch nicht, was dich daran stört“, sagte sie.

„Nichts.“

„Mann, du schaffst mich. Wo ist dann das Problem?“

„Das Problem ist …“Eva zögerte. „Das Problem ist, wenn ich mich von einem losreißen muss wegen des andern.“

„Wer sagt denn, dass du das musst?“

„Meine Haut“, sagte Eva, verdutzt von ihrer Antwort.

„Hm“, machte Nora und legte die Karten vor Eva auf den Tisch. „Wir machen das Geheimnis der Hohepriesterin. Zieh deine neun Karten.“

So ging das wieder und wieder. Und Eva hatte gesehen, wie Nora sich das Haar kürzer schnitt, wie sie verschiedene Männer liebte, mit denen sie nicht zusammenleben wollte, und wie sie ein Mädchen bekam von einem, mit dem sie auch nicht die Wohnung teilen wollte. Sie hatten studiert, Eva Kunstgeschichte, Nora Psychologie, und beide die Berufe erlernt, mit denen sie jetzt ihr Geld verdienten. Nora arbeitete als Sexualberaterin und Eva im renommierten Berliner Auktionshaus Spoerli. Die Freundinnen hatten manchmal mehr und manchmal weniger Zeit miteinander verbracht, doch der Faden war nie abgerissen. Immer wieder hatten die beiden Frauen in Noras kleiner Küche gesessen, an deren Wänden lauter Filmplakate und Fotografien von dunkelhäutigen Jazzmusikern hingen, und auch von Noras Eltern, als sie jung waren. Nora hatte sich mit unveränderlicher Geste eine Zigarette gedreht, sie angezündet und mit der ebenso unveränderlichen Geste, die Eva so liebte, die Tarotkarten gemischt und auf den Tisch mit dem blauen Wachstuch gelegt. Sie hatten über alles geredet, über Therapien und Männer und Glück und Unglück und Sex und keinen Sex. Und immer wieder hatte Nora gesagt: „Meine Liebe, du möchtest so gern treu sein, ich weiß es. Du weißt nur nicht, wie du das anstellen sollst.“ Und Eva hatte geheiratet und Kinder bekommen, die sie liebte, und sie hatte sich so sehr bemüht, alles gut und richtig zu machen, und die ganze Zeit hatte es ein solches Durcheinander gegeben in ihrem Herzen. Noras Haare wurden langsam grau, früher als Evas, weil sie vier Jahre älter war, und Nora band ein buntes Tuch hinein, und manchmal färbte sie das Haar, und sie saßen in der Küche und tranken Espresso und deuteten die Karten.

Bis Eva in ihr vierzigstes Jahr kam. Da geschahen merkwürdige Dinge.

· 1 ·

In jenem Jahr fegten zwei schwere Orkane über Europa hinweg. Der eine mitten im Sommer, der sehr heiß war und voller Regen, und der andere im Herbst, als der Ätna auf Sizilien ungewöhnlich heftig spuckte und eine große Aschenwolke nach Catania schickte. In jenem Sommer trat die Elbe in der Region Mitteldeutschlands weit über ihre eingegrenzten Ufer, riss Dörfer mit sich fort und überschwemmte ganze Landstriche. Menschen wurden von Bäumen erschlagen, Häuser zerstört, und allmählich sickerte ins Bewusstsein der Bewohner der Alten Welt, dass die Natur sich in ihrer Macht zeigte und sie daran erinnerte, dass auch sie nur ein Teil von ihr waren, ein Teil der Natur.

Doch zunächst, am Anfang dieses bewegten Jahres, genaugenommen im März und kurz vor Ostern, war es nur ein unangenehm kalter Wind, der durch die Gassen von Agrigent im Süden Siziliens fegte.

Und

oh die kalten Winde von Agrigento,

sie fuhren listig unter das weiße Papiertuch, das über die geblümte Tischdecke gelegt und unzureichend befestigt war, und hoben Eva, die ihren Mann ansah, sein schönes blasses Gesicht mit den dunkel melancholischen Augen, fort von diesem Tisch, wirbelten sie hoch in die Luft, fegten sie weg wie eine trotz Achtsamkeit in ein Unwetter geratene Kohlmeise, von einer Bö erfasst, weil er ihrem Blick wie hundertfach zuvor nicht begegnete, warum auch immer nicht begegnete, aus Gründen, die sie herausfinden würde, in diesem Jahr, das wollte sie, unbedingt, denn wieder und wieder geschah es ihr, dass sie hinausfiel aus seinem Blick, mit aussetzendem Herzen ins Weltall hinein

nein

so weit nun doch nicht

nur in die Luft geschleudert zu den Wolken

flog sie hoch

fand, nach dem ersten Schrecken, federleicht, einen Weg, schmiegte sich in freundlichere Lüfte und wurde für einen Moment zu dem, was man den kleinen Meisen nachsagt:

liederlich, lose und frech.

Und oh die kalten Winde, die unter das gleißende Weiß des Papiertuches gefahren, ließen sie dort wieder fallen, wo die Bedienung, die stark nach Parfüm roch, es mit glänzenden Klammern feststeckte.

Eva steckte ihr aufgelöstes, dunkles Haar wieder fest und sah auf die Speisekarte und das Leben, das in Gestalt ihrer drei Kinder Lucie, David und Sina am Tisch saß und nach Nudeln verlangte. Sah Stefan, ihren Mann, der träumte, wer weiß wohin, die Freundin, Sibylle, mit ihrem kurzen blondierten Schopf, und daneben Ludwig, Sibylles Mann, mit dem unvermeidlichen Leatherman am Gürtel, seinem Taschenmesser, der seine Freude für den Tag kundtat, jungenhaft aufgekratzt und väterlich sonor, der fröhlich wissen wollte, welchen Wein bei diesem Essen im Freien, an diesem ersten sonnigen Urlaubstag auf Sizilien, ganz in der Nähe der alten Tempel. Und Eva sah die Gören der beiden, die hampelten und quietschten, lachte und sagte jaja, und Salat auch noch, und Vorspeisen auch, und sie schob ihn weg, den Kratzer im Hals und im Herzen. Sie hatten alle gerötete Gesichter von der Sonne, was machte da schon ein bisschen Wind?

Fortunas Rad dreht sich, dachte Eva, du steigst hinauf, du fällst hinunter, und: how we suffer from our vanity, wie es in dem Song hieß, den sie auf der Fahrt im Taxi zum Flughafen gehört hatte, gestern oder vorgestern. Wie leiden wir an unserer Vergänglichkeit, übersetzte Eva es sich in Gedanken, oder musste es Eitelkeit heißen, wie früher, als beide Begriffe noch eng miteinander verknüpft waren?

Sie rieb Lucie und David mit Sonnencreme ein. Liebevoll ließ sie die Finger über die zarte Haut ihrer beiden jüngeren Kinder fahren und küsste sie. Sie band Lucie ein Kopftuch um das Haar, das dunkel war und lockig wie ihr eigenes, drückte sie fest an sich und küsste sie noch einmal. Die Vierjährige lachte, machte sich los und rannte zu den anderen Kindern. So sind sie, die kleinen Damen, dachte Eva und sah ihrer Jüngsten verliebt hinterher. Sie war zufrieden und fand sich philosophisch gestimmt.

 

Wir sind Kinder, wir werden erwachsen, und kaum haben wir begriffen, dass unsere Jugend vorbei ist, kollern die Hormone und sagen: Du hast den Zenit überschritten. Schau in den Spiegel und sag, was du vom Leben noch erwartest. Du bist ein Kind gewesen, setzt Kinder in die Welt, du siehst sie heranwachsen. Du überprüfst deine Träume, all das, was wir uns mit zwanzig erhofften, mit dreißig erstrebten, und findest dich wieder in einem dichten Gestrüpp von Kompromissen. Wir jonglieren mit Eifersucht und Neid, wir kämpfen gegen Hader und schwindende Illusionen, wir kehren Gefühle unter den Teppich und werden von ihnen beherrscht, in der Liebe, der Ehe, dem Beruf. Wir zanken und versöhnen uns mit Eltern oder Freunden, und unter alldem wuchern unverändert Hoffnungen und die unerschöpfliche Sehnsucht nach Leidenschaft.

Wir sehen uns an, und die anderen, und müssen begreifen: Das ist das ganz normale Leben.

Verflucht, dachte Eva, wo bin ich jetzt wieder hingeraten?

Die beiden Ferienwohnungen, die sie von Berlin aus angemietet hatten, lagen auf einem Hügel, über den der Wind pfiff, in einem nüchternen Neubau, der im Prospekt vom Besitzer als romantischer Bauernhof bezeichnet worden war. Daneben standen zwei wacklige Baracken, und hinter dem Haus war ein schiefer Anbau an die Rückwand geklatscht. Keine Pflanze, kein blühendes Kraut, das sich lebenslustig aus einer Blechbüchse rankte. Ein geradezu feindseliger Verzicht auf Ästhetik. Der Besitzer, Signor Giovanni, ein kräftiger Mann mit schwieligen Händen, führte sie eine roh gezimmerte Treppe hinauf und schloss eine Tür aus Spanplatten auf. Eva würgte Tränen herunter. Sie war fassungslos. „Frühstück auf der idyllischen Terrasse mit Blick auf Olivenhaine“ hatte der alternative Reiseführer versprochen.

„Wo ist die Terrasse?“, fragte sie Signor Giovanni. Die anderen standen um sie herum. Evas Gesicht war hochrot.

„Aber Signora, bei diesem Wetter!“

„Wir haben eine Wohnung mit Terrasse vereinbart“, insistierte Eva.

„Wo ist die Terrasse?“

Stefan, der mit zwei Reisetaschen in der Hand verlegen einen halben Meter entfernt neben Eva stand, ahnte, was kommen würde. „Nun geh doch erst mal die Zimmer angucken“, sagte er, und dann drängten sich vier Erwachsene und fünf Kinder in der weiß gekachelten schmalen Küche.

„Einer soll wohl auf dem Sofa in der Küche schlafen“, sagte Stefan.

„Null Atmosphäre“, schnaufte Eva. „Ich bleibe keine fünf Minuten hier. Das ist die reine Abzockerei.“

„Vielleicht ändert sich der Eindruck, wenn die Sonne rauskommt“, sagte Sibylle.

„Ich sehe das überhaupt nicht ein“, sagte Ludwig. „Wir haben die Bude bezahlt, wir bleiben hier.“

„Wir könnten bestimmt etwas viel Schöneres finden“, sagte Eva. „Ich kratze doch nicht mein Geld zusammen, um auf Sizilien in einer Bude zu sitzen!“

„Wir machen doch sowieso Ausflüge“, sagte Ludwig, „und nachts schlafen wir. Da siehst du doch gar nichts. Rechne doch mal den Verlust, dafür können wir jeden Abend essen gehen.“

Dreimal doch war dreimal zu viel.

„Ich will aber nicht jeden Abend essen gehen“, zischte Eva, von Ludwigs Ton noch mehr gereizt. Sie starrte ihn mit geradezu hasserfüllten Augen an. „Ich will es im Urlaub nicht schäbiger haben als zu Hause.“

„Dann musst du beim nächsten Mal etwas mehr investieren!“

Eva und Ludwig standen sich gegenüber wie Kampfhähne. Sibylle und Stefan sahen sich besorgt an.

„Immer musst du mit dem Geld kommen, verdammt noch mal. Wer weiß, wann wir je wieder das Geld haben, um nach Sizilien zu fliegen.“

„Wir haben hier gebucht“, sagte Ludwig, „wir bleiben hier.“

„Ihr bleibt hier“, sagte Eva und reckte Ludwig das Kinn entgegen.

„Genau“, sagte Ludwig, ebenso halsstarrig wie Eva, „wir bleiben hier.“

Sibylle war dem Heulen nah. Immer musste Ludwig so rechthaberisch sein! Im entscheidenden Augenblick tat er so, als wäre er in der Klinik. In der Klinik mussten alle ihm gehorchen, er war der Chef der Abteilung. Es war wirklich scheußlich hier. Sibylle spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte. Sie sah den schönen Urlaub mit ihren Freunden jäh scheitern und blickte Stefan Hilfe suchend an.

Stefan sagte nichts; er musste nur in Evas hochrotes Gesicht sehen und wusste Bescheid. Sie zitterte; das schwarze Haar stand ihr vom Kopf, die grünen Augen waren Schlitze.

Eva klopfte an die dünne, hellhörige Wand und knurrte.

„Dieser schwäbische Altphilologe mit seiner dicken Frau und ihrer dünnen Schwester wird mir den ganzen Urlaub vermiesen. Hört doch das Geschwätz nebenan, wie laut die reden! Ausgerechnet! Da hätten wir ja gleich nach Stuttgart fahren können!“

Ihre Tochter Sina, neuneinhalbjährig, kicherte. Sie streckte den Finger gen Fenster. „Tolle Aussicht“, sagte sie, Augenbraue hoch, Augenbraue runter. „Gewächshäuser mit Plastikwelldächern.“

„Können wir raus?“, maulten David und Lucie, die beide an Evas Beinen hingen.

Eva zerrte Schubladen und die Türen des Einbauschrankes auf, knallte sie wieder zu. „Abgezählte Bestecke, dieser Geizhals! Ohne Terrasse, da bin ich eingesperrt, da werden wir hier sitzen und nackige dünne Wände anglotzen, als wären wir in einer pseudowestrenovierten Hütte im tiefsten Adlergebirge!“

„Die Hausbesitzerin spricht“, entfuhr es Ludwig.

„Ludwig!“, rief Sibylle. „Jetzt hör aber auf!“

Ludwig zog den Reißverschluss seiner Lederjacke langsam zu, trat von Eva gefolgt hinaus, betrachtete gründlich den gestückelten Anbau, die Baracken neben dem Haus, die sich in den pollenwirbelnden Wind duckten, deren Ärmlichkeit kein freundlicher Anstrich zu übertünchen versuchte. Kein bisschen Illusion, und ringsum nur halb geeggte graue Felder mit aufgeworfenen Erdkrusten und drei mickrigen Olivenbäumen, die auf Sonne warteten.

Signor Giovanni kam mit Handtüchern die Treppe heraufgewieselt. Siegessicher lachte er: „Sehen Sie, das Wetter ist nichts für die Terrasse, Signore! Und das soll so bleiben!“

Das war nun das endgültige Aus. Denn ausgelacht zu werden, das hasste auch Ludwig. „Wir ziehen um“, sagte er. „Wir ziehen um, auch wenn es finanziell ein Verlust ist. Wir gehen das Risiko ein.“

Und so kurvten sie, Abenteuer und Risiko genießend, durchs Umland von Sciacca. Eva fragte Bauern nach privaten Unterkünften, „Agriturismo“, nicht zu teuer. Die Bauern hielten ihr duftende, frisch geerntete Bohnen unter die Nase und schickten sie in die Orangenund Zitronenhaine, zu Häusern zwischen Akaziensträuchern, vor denen Hunde kläfften, aber keiner rauskam, nur einmal eine Frau, der es leid tat, alles besetzt, und dann, nach siebzehn Feldern und Hainen und Häusern, die hier unten am Meer viel freundlicher wirkten als oben auf dem unwirtlichen Berg, schrien die Kinder, wir wollen raus, wir müssen Pipi, wir haben keine Lust mehr, im Auto zu sitzen.

Und wie es der Zufall wollte, oder ein gütiger Stern, war da ein schönes altes Haus, ohne Schild, und die Kinder sprangen heraus und liefen herum, und die vier Erwachsenen standen und guckten schon müde vor Ernüchterung. Das Haus war verschlossen, die Läden, die Türen, doch da kam ein kleiner blauer Fiat, eine ältere Frau stieg aus, verwunderte sich lachend über die vielen Gäste und schloss ihr geschwungenes Eisentor auf. Sibylle schubste Eva, Eva nahm sich ein Herz, erzählte von Irrfahrt und Wünschen, zeigte auf die Kinder, die durch die Büsche hopsten, und sah die Signora bittend an. Die lachte noch einmal, winkte sie herein, und alle stiegen die Treppe zum oberen Teil des Hauses hinauf, in dem sich, wie hätte es anders sein können, zwei Wohnungen für Gäste befanden. Die Signora sagte, wir vermieten nur an Freunde, und nannte einen freundschaftlichen Preis, und Eva jubilierte. Eine riesige Terrasse, schrie sie, und seht mal, wie charmant, lauter alte Möbel aus Holz, und Bilder an der Wand! Und sie lobte alles und herzte die Signora. Zwei Stunden bat die sich aus, dann sei alles bereit.

Eva und Stefan hatten Ludwig und Sibylle in den Ferien kennengelernt, am Strand von Ibiza, kurz nachdem sie in das Haus mit Garten in Kleinmachnow gezogen waren, am Rande von Berlin. Die Kinder hatten zusammen gespielt, und die Erwachsenen hatten sich unterhalten. Ludwig war leitender Onkologe in Berlin-Mitte, und Sibylle hatte eine Praxis für Allgemeinmedizin in Neukölln. Sie fanden es „spannend“, dass Stefan als Klarinettist in der Komischen Oper („auch im ehemaligen Ostteil der Stadt“) arbeitete und Eva mit Kunst und Antiquitäten zu tun hatte. Wieder in Berlin, hatte man sich getroffen; es war so praktisch mit den Kindern. Sibylle und Ludwig, die selbst in Schöneberg im vierten Stock wohnten, kamen fast jeden zweiten Sonntag zu Eva und Stefan „aufs Land“.

Und jetzt, es war ihr zweiter Ferientag, saßen sie in Agrigent auf einer Terrasse mit großartigem Blick und warteten auf ihr Essen.

„Nachher gucken wir uns die Tempel an“, sagte Ludwig, noch immer leicht angespannt, weil er klein beigegeben hatte. Er zog seinen Kulturreiseführer aus der Lederjacke.

„Ja, Ludwig, machen wir.“ Eva lächelte ihr strahlendstes Lächeln, Ludwigs Zugeständnis quittierend. Sie nahm dafür sogar ihre Sonnenbrille ab.

„Ich möchte aber auch gern Geschäfte ansehen“, sagte Sibylle, „nicht gleich so viel Kultur!“

Sibylle hatte sich fest vorgenommen, ihre Garderobe um ein paar schicke Kleider zu erweitern und nicht zu viel zu essen, damit sie auch in die neuen Kleider hineinpassen würde. Heute allerdings wollte sie ihr erstes Essen im Freien unbeschwert genießen. Es war kühler auf Sizilien, als sie gedacht hatten. Sibylle trug ein Jackett zu ihren Jeans und hatte einen rosa Seidenschal um den Hals gewickelt. Sie sah zu Eva hinüber. Eva trug schwarze Wollstrumpfhosen und einen bunten Rock, der ihre Knie umspielte. Darüber hatte sie einen noch bunteren Strickpullover an, der unter der blauen Windjacke hervorsah. Sie sah aus wie ein Schulmädchen. Irgend etwas an ihr war stets verrutscht, falsch geknöpft oder hatte ein Loch.

Den Männern gefiel das. Den Männern gefiel Eva überhaupt. Das Quecksilbrige, die runden Arme. Sibylle bewunderte und beneidete Eva. Eva aß sorglos, Eva ging unbekümmert auf Menschen zu, Eva änderte alles, was ihr nicht passte. Und heute wirkte sie besonders vergnügt. Kein Wunder. Sie hatte gewonnen.

„Kriegen wir nach dem Essen ein Eis, Mama?“, fragte Fabian und schmiegte sich an Sibylle. Fabian war ein zappeliger, neugieriger Junge und hatte ständig Appetit auf Süßes.

„Jaja“, sagte Sibylle und sah sich nach dem Lärm um, der von der Straße vor dem Restaurant kam. Bauarbeiter fuhren mit einem Lader voller Sand vor. Es wirkt so, als wären Eva und Ludwig das Paar, dachte sie. Die beiden diskutierten schon wieder miteinander über die Reihenfolge der Besichtigungen. Sibylle ärgerte sich kurz, beobachtete dann aber die kräftigen, fröhlich sich zurufenden Männer.

Eva verriet nicht, wie sehr Ludwigs „Hausbesitzerin“ sie gefuchst hatte. Jedes Mal, wenn sie auf das Haus hin angesprochen wurde, liefen merkwürdige Verteidigungsreden durch ihren Kopf.

Seit fünf Jahren lebte sie inzwischen mit Stefan und den Kindern in dem Haus in Kleinmachnow am südlichen Rand von Berlin, einer freundlichen, grünen Siedlung, in der es überwiegend Einfamilienhäuser mit Gärten gab, aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren, und, seit der Wende, auch einige Blocks mit Reihenhäusern. Der Ort war ein kinderreiches Paradies am Rande der großen Stadt; viele arbeiteten in Berlin, ob sie nun schon immer dort wohnten oder durch die zahlreichen Besitzveränderungen hinzugezogen waren. Evas Vater hatte Eva das Haus überschrieben. Es war das Haus ihrer Großeltern gewesen und durch Rückübereignung wieder in den Besitz der Familie gekommen. Evas Schwester Anka, die nur fünfzehn Monate jünger war und eine Vagabundin, hatte auf ihren Anteil am Haus verzichtet.

Sie hatte sich lediglich eine Summe vom Vater als Unterstützung zusagen lassen, „für den Fall, dass ich es brauche“. Sie schaffte es gut ohne Hilfe, fand immer neue Jobs und schien überhaupt wenig Geld zu brauchen, um glücklich zu sein. Wegen der Kinder war es naheliegend, dass Eva und Stefan in das Haus zogen. Eva hatte sich zunächst gesträubt; sie fühlte sich unangenehm festgelegt, nun auf immer in einem Haus zu wohnen, noch dazu außerhalb der Stadt. Du musst ja nicht, hatte ihr Vater gesagt, ich meine, für immer. Wenn du es nicht aushältst, kannst du es sagen. Dann vermieten wir es eben.

Darauf konnte Eva sich einlassen. Heizöl, Wasser, Strom und Instandsetzungen fraßen eine Menge, und Evas und Stefans Einkommen war nicht riesig, auch wenn Stefan fest angestellt war. Solange die Kinder klein waren, konnte Eva nur unregelmäßig für das Auktionshaus Spoerli arbeiten. Noch dazu sparte Eva, die es immer in die Ferne zog, an allen Ecken und Enden, um einmal im Jahr verreisen zu können.

 

Die Bedienung im geblümten Kleid brachte Pasta und Limonade für die Kinder, Tintenfische, eingelegte Sardinen, gebackene Pflaumen in Speck, Salat, Brot und Wein für die Erwachsenen. Man stieß an, verteilte das Essen, lachte und freute sich. Blinzelte in die Sonne, tauschte Plätze, holte Sonnenbrillen heraus und Taschentücher für die verschnupften Nasen. Dünne Servietten flatterten, Blechbesteck lag leicht in der Hand, Evas Haare flogen, sie hielt sie fest, wenn sie die Gabel in den Mund schob und ihren kleinen Ärger fort. Sie aßen Spaghetti mit Sardellenpaste, und die Kinder redeten und redeten, von den wunderbaren Hühnern im Hof bei der Signora, und sie gackerten selbst vor Vergnügen und schlugen mit den kindlichen Flügeln. Und während die Kinder plapperten und spachtelten, freuten sich die Erwachsenen über das wunderbare Essen und blickten über die barocken Dächer der Stadt, gebrochenes Gelb, weiches Ocker, stumpfes, schönes Rot, auf glänzende silbergrüne Dachziegel, wie durchscheinend gemacht von den Jahrhunderten. Sie hingen ihren Gedanken nach. Das ist ja der Vorteil, wenn man mit alten Freunden reist: Man muss nicht immerzu reden.

Stefan las an der Fassade gegenüber auf einem ovalen Schild mit Pfeil „Teatro in vicolo“. Er wünschte sich, nach dem Essen diesem Schild zu folgen, die steilen Treppen und Gassen hinunterzuspringen und zu entdecken, wo es war und was sie dort spielten. Er spürte ein Ziehen in der Brust und im Bauch und sah sich selbst als jungen Musiker, mit seinem Instrumentenkoffer in der Hand. Er war in Prag gewesen als Student, in Budapest, Paris und Rom, und hatte immer Ausschau gehalten nach diesen Gässchentheatern und Winkeltheatern, von Familien oder Freunden betrieben, eigensinnig, ohne viel Geld. Vielleicht mochte er diese kleinen Orte, weil er selbst aus einem eher dörflichen Stadtteil Berlins kam, Kladow, am westlichen Ufer des Wannsees, auf dessen anderer Seite Eva groß geworden war.

Sein Vater war Dachdeckermeister; die Mutter hatte sein Talent entdeckt und gefördert. Zuerst hatte er Flöte gespielt; im Schulorchester dann Klarinette. Durch seinen Onkel hatte er einen Soloklarinettisten gefunden, der ihn unterrichtete und für die Aufnahme in die Hochschule der Künste vorbereitete.

Stefan liebte den Geruch enger Garderoben, nach Puder, Parfüm, Staub und Schweiß, mit vollgepferchten Kleiderstangen, auf denen sich Kostüme für Jahrhunderte drängten. Deshalb spielte er neben und nach dem Studium in Off-Theatern, bis ihn Mitte der Neunzigerjahre sein ehemaliger Professor der Komischen Oper empfahl. Da Eva zum zweiten Mal schwanger war, war Stefan glücklich: Er wurde als zweiter Klarinettist engagiert. Zu Anfang war das Haus für Stefans Empfinden zu groß, allein das Orchester umfasste hundert Mitglieder, doch mit der Zeit schien es für ihn auf ein überschaubares, familiäres Gehäuse zusammenzuschrumpfen. Die anderen Musiker waren wie er Einzelgänger und unkomplizierte Familientiere zugleich, die sich in der Gruppe wohl fühlten und verbargen, sich anschmiegten und dabei zurückzogen. Du hättest gut in ein mittelalterliches Kloster gepasst, sagte Eva zu ihm, wenn sie mit seiner Eigenbrötelei nicht zurechtkam, du kommst mir manchmal vor wie ein Mönch mit Klarinette. Wie sollte ich anders Musik machen, gab Stefan zurück, und so gesehen hatte er natürlich recht.

„Auf die Ferien!“, hob Ludwig überraschend das Glas, und „auf die Ferien!“, riefen alle, nun doch erleichtert, dass einer zu reden anfing. Der Wein funkelte in der Sonne und ein bisschen schon in den Köpfen, und Eva griff das Gespräch der Kinder auf, die ihre Nudeln mampften.

„Mein Vater“, fing sie an, „als er klein war, so alt wie du, Sina, und du, Fabian, also neun, hat seiner Mutter einmal ein paar Küken geschenkt. Das war kurz nach dem Krieg, und er hatte sie von einem Bauern bekommen.“

„Welcher Krieg?“, fragte Sina, die jeden Abend darum kämpfte, die Tagesschau mitsehen zu dürfen, was Eva wegen der vielen Grausamkeiten kurz vor dem Einschlafen ablehnte.

„Der mit dem Hitler“, sagte Eva, die andererseits den Kindern keineswegs die Schreckensgeschichte ihres Landes vorenthielt. „Er bekam sie für irgendeinen Dienst auf dem Feld oder im Stall. Das war damals richtig was wert, so eine Handvoll Küken.“

„Mama, mach doch mal den Hitler.“

„Nein, Sina, nicht hier.“

„Warum nicht hier?“

„Jedenfalls hielten sie die Küken in der Küche, in der sie auch schliefen, zu fünft, meine Oma und ihre Söhne, mein Papa, also Opa, und meine Onkel, Onkel Justus, Onkel Peter, na ihr wisst schon“, sagte Eva und hatte plötzlich das Gefühl, von einem dieser Onkel zum anderen geworfen zu werden.

„Es war alles ganz winzig, müsst ihr wissen“ (zu den Kindern), „die Küken wohnten in einer alten Kartoffelkiste.“

„Können wir auch Hühner haben?“, fragte Jennifer, Sibylles und Ludwigs zweites Kind, gerade sieben, mit ihrer lauten, rauen Stimme.

„In unserer Wohnung im vierten Stock?“, rief Ludwig. „Du spinnst wohl!“

Schon wieder das Haus, dachte Eva.

Das Haus stand nur wenig entfernt von dort, wo sich früher die Mauer zwischen Westberlin und der DDR entlanggezogen hatte. Damals war es linientreuen Parteigängern vorbehalten gewesen, in dieser Gegend zu wohnen, in der man am nächtlichen Himmel hin und wieder rote und gelbe Leuchtkugeln aufblinken sah und die Scheinwerfer, die die Stacheldrahtzäune am Todesstreifen abschweiften, um Republikflüchtlinge anzuleuchten. In der nahe gelegenen Hakeburg war eine Parteischule der SED für künftige Spitzenfunktionäre untergebracht, aus der politische Berühmtheiten hervorgegangen waren.

Einige von den „Ehemaligen“ wohnten noch immer in dieser Ecke, und sie beäugten misstrauisch die Westler, die nun kamen und die Geschichte auf den Kopf stellten und ihren Nachbarn die Häuser wegnahmen und ihre Existenz bedrohten. Eva hatte für sich beschlossen, dass es in Ordnung war, dass sie nun in dem Haus lebte, das ihre Großeltern vor dem Zweiten Weltkrieg gebaut und sicher mühsam abbezahlt hatten. Sie wusste nicht allzu viel über diese Großeltern, die die Eltern ihrer Mutter gewesen und früh verstorben waren. Die Kindheit, die ihre Mutter in diesem Haus verbracht hatte, schien ihr weit weg und schwer zu fassen; also vergaß sie die meiste Zeit, dass ihre Mutter in genau diesen Wänden geatmet, gegessen und gespielt hatte. Dass sie durch diese Straße zu ihrer Schule gelaufen war, in den Dreißigerjahren. Es fehlte einfach das Gespräch darüber. Als sie in das Alter kam, in dem man beginnt, die Eltern nach ihrer Geschichte zu fragen, war ihre Mutter schon nicht mehr da.

So blieb das Haus selbst ein noch unerschlossener Gedächtniskörper, in dem sie unter den typischen blassrosa und gelb gemusterten Osttapeten zunächst das Zentralorgan der ehemaligen DDR, das ‚Neue Deutschland‘, und darunter die Tageszeitung der Nazis, den ‚Völkischen Beobachter‘ von den Wänden gekratzt hatten. Unmöglich, hatte Eva mit dem Spatel in der Hand gedacht, dass dies das Fleckchen sein soll, an dem meine Füße in die Erde wachsen. Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb pflanzte sie Holunder, Ranunkel und Jasmin (Brombeeren wucherten wie von selbst), sammelte Brennnesseln und Regenwasser in einer abgenutzten Tonne für eine Jauche gegen Blattläuse.

Stefan hatte es gefallen, hierher zu ziehen. Zum einen arbeitete er mit vielen Kollegen aus dem ehemaligen Osten und fand es selbstverständlich. Zum anderen hatte er die DDR gut gekannt, von seinen Großeltern, die in Brechts Buckow am Schermützelsee, kurz vor Frankfurt an der Oder, eine Gartenwirtschaft betrieben hatten. Es gab einen Geruch, der ihn an seine frühen Kindertage dort erinnerte und den er mochte, genau wie das Gefühl, dass in diesen Straßen die Zeit langsamer vorangeschritten war. Als speicherten sie den atmosphärischen Rest eines friedlicheren, vergessenen Deutschlands vor der Teilung und vor dem Nationalsozialismus.