Czytaj książkę: «Alma Mata»
ALMA MATA
Susanne Steinfeld
Für Karl
Inhalt
Eins
Zwei
Drei
Vier
Bonustrack
Eins
Der Vogel
Die mächtige Birke liegt quer über dem Waldweg, eine zweite, wenn auch weniger heftige Irritation als die Scherben, die ich heute Morgen im Mülleimer unter der Spüle inspiziert habe. Frau Benrath hatte sie umsichtig in Zeitungspapier gewickelt und ein paar leuchtende Dahlien neben den Zettel mit einer Entschuldigung auf dem Küchentisch gestellt. Ohne dass sie wissen konnte, was der zerbrochene Gegenstand mir bedeutet hat.
Der Sturm heute Nacht muss den Baum gefällt haben. Rechts von mir ist die Bruchstelle, eine starre ausgefranste Wunde, die jetzt selbst verletzen kann. Von ihr aus erstreckt sich der Stamm nach links über den Weg und drückt seinen Wipfel in das Moosbett auf der anderen Seite. Satchmo ist wie immer vorausgelaufen und steht jetzt wedelnd vor dem Hindernis. Früher wäre er mühelos darüber gesprungen, aber er ist kraftlos geworden, und sein schwarzes Fell hat seinen Glanz verloren. Ich habe den Labrador von meinem Vater geerbt, zusammen mit dem Haus am See, das wir gemeinsam bewohnen.
Ich bücke mich und klopfe mit der flachen Hand auf die helle raue Rinde: Hopp! Satchmo rührt sich nicht, sondern sieht mich nur an. Also mache ich entlang der Hürde ein paar Schritte in den Wald hinein, und er läuft hinterher und dann an mir vorbei und vor mir wieder zurück auf den Pfad.
Ich erinnere mich an einen weitaus gewaltigeren Sturm, den Great Storm, in einer anderen Zeit. Allein in England hat er 15 Millionen Bäume gefällt und offiziell 18 Menschen das Leben gekostet. Ich weiß, dass es 19 waren.
Der Waldboden ist durchtränkt vom Regen, der dem Wind in der Nacht vorausgegangen ist, und einzelne Blätter der nassen Laubschicht haften sich an meine Lederstiefel. Wie ein Federschmuck. Ich finde Satchmo unter einer ausladenden Eiche wieder, den schönen alten Kopf unbeweglich nach oben gerichtet. Dort muss irgendwo ein Eichhörnchen sitzen, oder ein Vogel. Ich folge seinem Blick den Stamm entlang, kann aber nichts entdecken. Vom Wasser her kommt schwach der Ruf eines Haubentauchers. Dann ist es wieder still. Ich denke an Ingeborg Bachmanns Gedicht über die rettende Kraft des Erzählens.
Was auch geschieht: du weißt deine Zeit,
mein Vogel, nimmst deinen Schleier
und fliegst durch den Nebel zu mir.
Auch ich weiß meine Zeit.
I
Mata war im Sommer 1987 nach London gekommen, um als Assistentin in einem Buchverlag zu arbeiten. Er wurde von einer kleinen untersetzten Australierin geleitet, mit einem scharfen Verstand und einem noch schärferen Mundwerk. Ein Kenner der Fauna downunder hatte ihr den Namen ´Barking spider` verpasst, und tatsächlich saß sie täglich wie eine Spinne unter der mächtigen Stuckdecke am Bedford Square, vernetzt mit jedem, der für den Verlag von Nutzen sein konnte.
Ihre Assistentinnen saßen gestaffelt im Nebenraum, der beidseitig von hohen Bücherregalen flankiert war, in denen verstaubte Erstausgaben und Lizenzausgaben der Verlagstitel standen. Die Fenster waren von schweren dunkelblauen Samtvorhängen gesäumt, und die Schlagleiste der Flügeltüren goldgefasst. Zum Ausgleich für diese Grandezza war der Teppichboden mit Teeflecken und eingetretenen Kaugummis gesprenkelt, und in der Milchglasscheibe der Deckenbeleuchtung lagen sieben tote Fliegen. Mata hatte sie des Öfteren gezählt.
Marigold, die erste Hilfskraft, saß direkt vor der Tür in Spiders Reich. Kaum war dahinter ein Räuspern zu vernehmen, ließ sie ihre Zigarette in den Aschenbecher fallen, die nun eine schmale Rauchsäule zu den Toten hinaufschickte, und betrat das Sanktum. Die Briefe, die ihr darin diktiert wurden, tippte sie ausnahmslos selbst auf das hübsche Verlagsbriefpapier. Alle übrigen Anweisungen hatte sie auf kleine Zettel gekritzelt und überreichte sie wortlos Franny, der sommersprossigen Amerikanerin, die ein paar Monate vor Mata hier angefangen hatte. Die besah sich die Aufträge und legte dann einen Teil davon auf Matas Schreibtisch, direkt neben das Herz, klein wie ein Pfennigstück, das irgendwann irgendjemand in die Tischplatte geritzt hatte. Ihr entschuldigendes Lächeln dabei galt wohl dem Umstand, dass sie nie selbst Spiders Krabben-Kresse-Sandwich bei Marks & Spencer an der Oxford Street oder den Briefwechsel mit einem toten Autor aus dem staubigen Kellerarchiv besorgte.
Matas Wohnung war nicht viel spektakulärer als ihre Aufgaben im Verlag: Ein Tisch, drei Stühle, eine Kommode und ein Bettsofa ließen gerade noch Platz genug für sie selbst. Ihr Gehalt reichte dennoch nicht für die Miete, und so musste der Vater dafür aufkommen. Vielleicht hatte er etwas Großzügigeres erwartet für die fünfhundert Pfund, die es ihn monatlich kostete - zumindest bekam er Platzangst, als er während eines London-Besuchs bei ihr zum Tee erschien, und sie hatten ihre Erfrischungen dann doch lieber in seiner Hotelbar eingenommen.
Mata aber liebte ihr Zimmer gleich hinter der King´s Road, dem illustren Schauplatz des Londoner Lebens. Wenn sie abends mit dem Bus aus Bloomsbury zurückkehrte, zelebrierte sie jedes Mal die wenigen Schritte bis zu ihrer Haustür. So hatte es vielleicht eben noch geregnet, aber jetzt standen schon wieder lachend Leute vor dem Pub, das Bierglas in der einen und die Aktentasche in der anderen Hand. Eine Frau auf schwindelhohen Absätzen schwang sich auf die Plattform von Matas Doppeldecker, obwohl er sich bereits wieder in den Verkehr eingereiht hatte. In den Fassaden gegenüber reflektierten die oberen Fenster ein paar späte Sonnenstrahlen, während über den Cafés und Geschäften bereits die ersten Leuchttafeln aufflackerten und sich im nassen Asphalt spiegelten. Und als Mata die Toreinfahrt zur Wäscherei passierte, küsste sich dort ein Liebespaar. Das Mädchen hielt an seinem glänzenden Messingring einen Vogelkäfig hinter dem Rücken, und der kleine Sittich darin zirpte sein Abendlied. Ihr war, als zwitscherte ganz London mit.
Oben in der Wohnung trank sie eine heiße Schokolade und aß ein Käsebrot, bevor sie dem Rauch ihrer eigenen Zigaretten nachblickte, der an die Decke stieg. Und danach las sie, auf das Sofa gebettet, erneut ihre englischen Lieblingsromane, Emma und Jane Eyre und Große Erwartungen, bis es Zeit war, das Licht zu löschen. Auch Mata hatte großartige Erwartungen an diese Stadt.
Mittags aß Spider entweder das Krabben-Kresse-Sandwich an ihrem Schreibtisch oder sie speiste mit einer einflussreichen Person des kulturellen Lebens – wenn nicht in ihrem Club, dann in einem Sternelokal. Ihre Assistentinnen gingen währenddessen zu der nahegelegenen Sandwichbar, in der sich meistens auch die anderen Verlagshilfskräfte einfanden: Megan aus der Presseabteilung, Cecilia von den Lizenzen und Gary vom Vertrieb. Bei schönem Wetter ließen sie sich von Joyce am Verlagsempfang den Schlüssel zum Park gegenüber aushändigen, aber dies hier war England, und so saßen sie meistens im Souterrain des Cafés.
Auch heute klopfte der Regen wieder seinen Rhythmus an die Scheibe, durch die man von den Passanten oben auf dem Gehweg nur die untere Hälfte ausmachen konnte. Obwohl der Pirelli-Kalender an der Wand vollbusig den Monat August anzeigte, brummte darunter geräuschvoll ein Radiator. Megan folgte Matas Blick, während sie sich mit ihrem Teller in der Hand auf einen der Plastikstühle fallen ließ: „Wetten, Gary kann den September kaum erwarten!“.
Sie war ein großes Mädchen, mit breiten Handgelenken und einem breiten großzügigen Mund. Ihre kurzen Haare sahen aus wie die Messingborsten, mit denen Frau Rosenstein zuhause die Wildlederschuhe putzte. Vorzugsweise trug sie Miniröcke, am liebsten ein Modell aus schwarzem Strick, und heute steckten ihre kräftigen nackten Beine dazu in roten Gummistiefeln. Mit einem davon stieß sie Franny an: „Ich frage mich schon länger, warum du nicht bei einem amerikanischen Verlag arbeiten wolltest, in New York zum Beispiel?“. Sie biss ein großes Stück von ihrem Roastbeef-Sandwich ab und intonierte mit vollem Mund Sinatras abgedroschene Hommage an die Stadt: „Da da dadada, da da dadada“.
Cecilia presste sich die Hände auf ihre zierlichen Ohrmuscheln. Alles an ihr war zierlich und elegant, selbst die Schuppen auf ihren Schultern. Gary am Nachbartisch blieb ungerührt über den Guardian gebeugt, und Marigold neben ihm hörte über Kopfhörer ihre eigene Musik.
Franny breitete die dünnen Arme aus: „Ich liebe es einfach hier. Ich liebe Europa!“, und Megan rümpfte die Nase: „Ihr Amerikaner macht immer so ein Bohei darum. Was soll eigentlich so toll daran sein?“.
„Ganz einfach“, sagte Cecilia, während sie ihren Toast mit Messer und Gabel in kleine akkurate Vierecke teilte. „Europa ist der Inbegriff von Kultur. Nirgendwo sonst gibt es so viel Schönheit und so viel Esprit auf so kleinem Raum.“
„Oh ja - und so viel Grausamkeit und Schmerz und Schande“. Megan legte ihr Sandwich aus der Hand, presste sich zwei Fingerkuppen auf die Oberlippe und schickte den rechten Arm in die Luft. Franny zuckte zusammen, musste dann aber lachen, und auch Garys Mundwinkel hoben sich, obwohl sein Blick auf der Zeitung haften blieb. Mata zog den Kopf ein.
Cecilia wies mit dem Kinn auf sie, und Megan gab ihr einen freundlichen Klaps: „Nimm es nicht persönlich. Selbst wir Engländer sind mit unserer beschissenen Appeasement-Politik nicht ganz unschuldig daran, dass es so weit kommen konnte.“
Jetzt sah Gary zu ihnen herüber und schlug energisch seine Zeitung zu: „Also wirklich, Megan! Du kannst doch nicht behaupten, dass England Mitschuld trägt an den Verbrechen des Nationalsozialismus. Chamberlain hatte gehofft, auf diese Weise einen Krieg zu verhindern. Natürlich war das idiotisch, aber trotzdem haben die Deutschen das ganze Grauen schön alleine verbrochen.“ Er stand auf und kramte eine zerknitterte 5-Pfund-Note aus seiner Hosentasche, die er vor Marigold auf den Tisch warf. Sie zog sich verdutzt die Kopfhörer aus den Ohren.
„Zahl Du bitte für mich mit, ich hab´s eilig. Wir haben gerade verdammt viel Arbeit mit dem neuen Katalog“. Er stapfte ohne ein weiteres Wort die Stufen hinauf zum Gehweg, und sie sahen dabei zu, wie seine ausgebeulte Flanellhose mit den Turnschuhen über die Pfützen sprang.
Marigold nahm den Geldschein an sich und verkabelte sich wieder. Cecilia fixierte Megan, die abwehrend die Hände hob: „Was? - Ich habe nichts gemacht!“.
Eine zarte Falte erschien auf Cecilias Stirn.
„Er hat ja recht“, warf Mata leise ein.
„Recht oder nicht recht - Gary ist ein selbstgefälliger Mistkerl. Und du, Megan, bist zwar meine beste Freundin, aber trotzdem ein Trampel. Warum hälst Du nicht einfach mal den Mund?“
Megan kippelte mit ihrem Stuhl nach hinten. „Du bist ganz schön hart mit mir. Fast wie Kruppstahl.“ Sie grinste.
Cecilia zog scharf die Luft ein und Mata blickte zu Franny, die still mit dem Strohhalm in ihrer Seven-Up-Dose rührte. Jetzt machten die Stuhlbeine unter Megan ein verdächtiges Geräusch, und sie ließ sich wieder nach vorne fallen: „Also gut, es tut mir leid. Zufrieden?“ Sie fuhr sich über die Borsten auf ihrem Kopf. „Hat wenigstens jemand ´ne Fluppe für mich?“.
An Freitag trat Cecilia an Matas Schreibtisch und erklärte, dass sie mit Megan und Franny vor dem Wochenende immer auf einen Drink gehen würde, in einen Pub an der Great Windmill Street… Oh ja, Mata hatte Lust, sie zu begleiten, und so traten sie diesmal gemeinsam in den milden Augustabend hinaus. Über den Dächern lag hellviolettes Licht, und im Park gegenüber spielte jemand auf einem Dudelsack. Megan kaufte bei dem Zeitschriftenhändler am Ende der Straße den Evening Standard und eine Rolle Pfefferminz, und dann wandten sie sich mit ihren Bonbons im Mund Richtung Oxford Street, um kurz darauf in die belebten Straßen Sohos einzutauchen. Mata ließ sich für einen Moment hinter die anderen zurückfallen, schob den Ärmel ihres Pullovers hoch und zwickte sich vor Glück.
II
Die Abende waren kühler geworden, aber Megan trug immer noch keine Strumpfhose zu ihrem Strickmini. Und auch der Pub war noch nicht sehr besucht, als sie mit Franny und Mata eintrat, und sie fanden problemlos drei Plätze an der Bar. Tom nickte ihnen von der anderen Seite her zu und stellte die Zutaten für ihre Bloody Mary bereit. Megan redete fast ununterbrochen und klatschte sich mit den Händen auf die Gänsehaut, die ihre Oberschenkel überzog, wenn sie einen ihrer Witze besonders gelungen fand: „Was glaubt ihr, was der alte Sack da drüben in seiner hässlichen Tasche hat? – Die Windeln für die Kleine da neben ihm!“.
Franny hörte schon jetzt nicht mehr auf zu kichern, und Mata warf ihr einen besorgten Blick zu. Sie vertrug nicht viel Alkohol und war ihnen neulich sogar hier vom Barhocker gerutscht.
„Da kommt ja unser Sloane Ranger!“, rief Megan jetzt. Sie gab Tom ein Zeichen, dann zog sie ihre Freundin zu sich heran und blies ihr liebevoll die Schuppen von den Schultern.
„Tut mir leid, die Verspätung.“ Cecilia löste das Seidentuch von ihrem Hals und steckte es in die Tasche ihres Trenchcoats.
„Was war denn noch?“. Franny wollte ihren Hocker zur Verfügung stellen, aber Cecilia wischte Angebot und Frage mit einer Handbewegung fort: „Nichts, ich bin nur nicht fertig geworden. Erzähl mir lieber, was bei Euch heute los war. Spiders Bellen war ja bis in den zweiten Stock zu hören.“
Franny lief rot an. „Sie hat erfahren, dass Rosalind ein Kind erwartet. Es war schlimm. Und furchtbar peinlich!“.
„Kann ich mir denken. Peinlich allerdings auch für Rosalind. Sie hat ihre Schwangerschaft ja wohl deshalb offiziell verschwiegen, weil sie noch in der Probezeit ist.“
„Und wenn schon! Schließlich ist sie mit dem Baby ganz auf sich allein gestellt. Mir zumindest tut sie furchtbar leid.“
„Mir tut sie auch leid“, warf Mata ein. „Aber ganz korrekt war ihr Verhalten natürlich trotzdem nicht.“
„Korrekt – was heißt das schon! Ich glaube, ihr versteht ihre Situation nicht ganz.“ Frannys Stimme zitterte.
Cecilia nahm die Bloody Mary entgegen, die Megan ihr reichte. „Also, ich denke schon, das ich das tue. Aber ich finde trotzdem nicht, dass so etwas zu einer Lüge berech - “
„Rosalind hat nicht gelogen! Sie hat etwas verschwiegen. Das ist ein Unterschied“. Franny nahm ihren Strohhalm zwischen Daumen und Zeigefinger und saugte lange daran.
Megan nahm ihr das Glas weg. „Hör auf damit! So knallt das doch noch viel mehr!“.
Franny wandte sich ab, und trotzdem sahen sie, dass ihr eine Träne über die Wange lief. Sie presste sich die Hände vor die Augen.
„Verdammt, tut mir leid.“ Megan zog eine Zigarette aus ihrer Schachtel und steckte sie sich an. „Im Übrigen finde ich, dass du Recht hast: Es gibt Situationen, in denen man darauf sch… - pfeifen muss, was richtig ist und was falsch. Natürlich war Rosalind nicht ehrlich, denn etwas bewusst zu verschweigen kommt ja einer Lüge gleich. Aber damit hat sie doch wohl nur für das kleine Wesen sorgen wollen, das bald schutzlos hinter ihr her tapsen wird. Und geht es nicht genau darum im Leben diejenigen zu schützen, die man liebt – ganz egal wie?“.
Das waren große Worte für Megan, und so betrachtete sie jetzt auch erst einmal ihre abgekauten Fingernägel. Sie alle schwiegen eine Weile inmitten des Stimmengewirrs. Die Bar war inzwischen so belagert, dass der Alte mit seinem Wickelkind dicht neben Mata stand. Dann hielt Megan vier der Nägel hoch, in Richtung Tom. „Ich denke, wir brauchen noch etwas zu trinken – und habe eine geniale Idee: Jede von uns erzählt eine eigene peinliche Geschichte!“.
Cecilias abwehrende Handbewegung ließ ihre goldenen Armreifen klirren, aber Mata wollte keine Spielverderberin sein: „Ach komm, das ist doch vielleicht ganz lustig…“.
Es klirrte noch einmal, als Cecilia ihre Arme verschränkte: „Lustig? – dann bitte sehr: Fang Du an“.
Megan griff das begeistert auf: „Warte, dein Drink ist gleich fertig, den wirst du brauchen. Denn versuch nicht, uns mit Harmlosigkeiten abzuspeisen. Ein bisschen wehtun muss es schon!“.
Der erste Schluck ihrer zweiten Bloody Mary stieg Mata direkt ins Hirn. Wie hieß noch der Bereich, der die Erinnerungen verwaltet? Irgendetwas mit Pferden. Schön, es gab da tatsächlich eine Geschichte, die sie noch niemandem erzählt hatte. Vielleicht war heute, in einer fremden Stadt und einer fremden Sprache, der Moment dafür gekommen.
Während ihres Studiums hatte sie ein Referat über einen modernen Roman halten müssen und viel zu spät mit der Arbeit daran begonnen. Dann war sie in der Bibliothek auf einen Artikel gestoßen, der das Werk auf geniale Weise zu interpretieren schien. Wovon auch immer getrieben – Eitelkeit, Stolz, der Aussicht auf eine gute Note – sie präsentierte diese Erkenntnisse am nächsten Tag im Seminar als ihre eigenen. Mit mehr Zeit wäre sie sicherlich auch selbst darauf gekommen, redete sie sich ein. Ihre Kommilitonen schienen beeindruckt, und der Professor klatschte sogar in die Hände – eine Geste, die ihr gleich verdächtig hätte vorkommen müssen. Natürlich stellte sich heraus, dass er den Artikel kannte, und seine Pupillen glänzten hart wie Gewehrkugeln, als er sie fixierte und erklärte: Man könne irren in Lehre und in Forschung. Man dürfe es sogar. Aber das geistige Eigentum anderer sei sozusagen heilig, und so sei für jemanden wie sie, Mata, kein Platz in seinem Seminar. Jetzt waren auch die Blicke aller anderen zu ihr herübergeschossen, und Mata hatte ohne ein weiteres Wort ihre Unterlagen zusammengeschoben und war zum Ausgang gegangen. Dann hatte sie leise die Tür hinter sich zugezogen, ohne sich noch einmal umzusehen.
Sie fühlte jetzt fast dieselbe Hitze in sich aufsteigen wie damals, aber vielleicht lag das auch an der Luft hier im Pub, die sogar die Scheiben hatte beschlagen lassen. Sie sah zu Boden und zählte die Zigarettenstummel, die dort ausgetreten worden waren.
Ausgerechnet Franny brach den Bann: „Wie tapfer von Dir, uns das zu erzählen! Und du hast doch bestimmt daraus gelernt.“ Sie legte ihre Ärmchen um Mata und drückte sie.
Cecilia machte große Augen, sonst nichts, und Megan steckte sich erneut eine Zigarette zwischen die Lippen. Dann nahm sie sie wieder heraus und sagte: „Ihr Deutschen macht mich fertig. Immer gleich die volle Ladung. Es sollte l-u-s-t-i-g sein. Und du kommst mit sowas!“.
„Jetzt lass sie doch.“ Franny zündete für Megan ein Streichholz an. „Peinlich war es in jedem Fall, also beschwer dich nicht. Soll ich jetzt?“.
„Ganz bestimmt nicht!“. Megan beugte sich über die Flamme. „Womöglich bietest Du etwas ähnlich Trostloses dar. Lieber erzähl ich eine Geschichte, bei der Ihr Euch garantiert vor Lachen in die Hose macht. Also, ich komme nachts von dieser Party, mit einem total süßen Typen im Schlepptau, den ich erstaunlicherweise dazu gebracht habe, mich nach Hause zu fahren. Auf dem Weg zu seinem Wagen muss ich plötzlich ganz dringend Pipi. Aber ich will auf keinen Fall zurück zur Feier und dort aufs Klo, denn dann verliert er womöglich die Geduld und saust alleine los. Natürlich ist weit und breit kein Gebüsch in Sicht, kein Vorgarten, nur Häuserfronten und parkende Autos. Und Ben immer schön neben mir.
Aber ich wittere meine Chance, als wir zu seinem Auto kommen. Er öffnet mir die Beifahrertür und geht dann im leichten Schlingerkurs um den Wagen herum. Ich schiebe blitzschnell den Rock hoch und den Slip runter, geh in die Hocke, und los geht’s. Inzwischen hat er seine eigene Tür geöffnet und will wissen, was ich da mache. Alles klar, ruf ich zu ihm rüber, mir ist nur mein Lippenstift unters Auto gerollt. ´Weiber`, hör ich ihn sagen, während er sich hinter das Steuer schiebt. Beim Aufstehen verlier ich fast das Gleichgewicht, fummele den Rock wieder runter und lass meinen Hintern erleichtert auf den Beifahrersitz plumpsen. Er sieht zu mir rüber, und ich ziehe eilig die Beine. Dabei schweben meine Füße in der engen Karre einen Moment lang in der Luft, und was baumelt da zwischen meinen himmelblauen Pumps: Der verdammte Slip, den ich vergessen hab hochzuziehen.“
„Nicht so laut!“, zischte Cecilia, aber Megan war glücklicherweise nicht zu bremsen Für Mata war es sowieso schon schwer, sie über Frannys Kopf hinweg zu verstehen, und jetzt hatte. das schräge Paar neben ihr auch noch zu streiten begonnen. Sie hätte sich gern auf die andere Seite von Megan gestellt, aber dort saß ein Mann mit einem gelben Schal und las Zeitung.
„Ganz kurz hoffe ich, er hat nichts bemerkt und zwänge die Füße am Handschuhfach vorbei nach unten.“
Cecilia stöhnte leise.
„Aber ich bin nicht schnell genug, denn Ben lässt den Wagen an und sagt: ´Nette Idee, Baby, ich fürchte nur, das wird heute nichts mehr. Ich bin einfach zu müde`. - Tja, und das war´s dann. Der Typ hat mich zwar noch nach Hause gebracht, aber wiedergesehen habe ich ihn nicht.“
Auch ihre Geschichte wurde erstmal mit Schweigen quittiert, und Megan fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. „Ja, was hätte ich denn tun sollen? Vielleicht sagen: Oh, so war das nicht gemeint, ich habe nur schnell an dein Auto gepinkelt und dann vergessen, den Slip hochzuziehen?“. Sie lachte jetzt: „Ihr solltet Euch im Übrigen mal sehen – drei Nonnen im Schlafzimmer von Marquis de Sade!“.
Auch Mata musste jetzt lachen, sie fühlte sich plötzlich ganz leicht. Ein Mann in Lederjacke und buntem Bandana presste sich neben sie an den Tresen und gab in schottischem Singsang eine lange Bestellung auf. Sie rief den anderen zu: „Sollen wir auch noch etwas ordern?“.
Aber Cecilia blickte streng auf ihre Armbanduhr und schüttelte den Kopf: „Für mich nicht. Barry erwartet mich bei Kettner´s.“
Barry war ihr langjähriger und eher langweiliger Boyfriend. Irgendwann sollte er sie von der Mutter erlösen, mit der sie seit dem Tod des Vaters allein in dem Haus in Hampstead wohnte. Aber bisher hatte er noch keinen Antrag gemacht, obwohl er als Anwalt nicht schlecht verdiente, wie sie gern betonte. Nun warf Cecilia Kusshände in die Luft. „Bis Montag dann!“.
„Ja-ha-ha“, trällerte Franny, und dann, als Cecilia verschwunden war: „Jez hat sie ganich bezahl.“
Megan stand energisch auf. „Das nächste Mal müssen wir unbedingt auch etwas essen. Ich bring dich nach Hause, Franny, und zwar sofort.“ Sie fischte einen Geldschein aus ihrer Umhängetasche und hielt ihn Mata hin. „Übernimm du das heute bitte“, sagte sie mit Blick auf Tom. Mata nickte, umarmte beide und sah ihnen dabei zu, wie sie durch die Menge zum Ausgang gingen. Dort schlüpfte Franny brav in ihre Jacke und winkte noch einmal mit heftig wippender Hand herüber, bevor Megan sie zur Tür hinausschob.