Czytaj książkę: «Steve Howe - Die Autobiografie»
Aus dem Englischen von Paul Fleischmann
Für Zuni, Diego und Cal
Impressum
Deutsche Erstausgabe 2021
© 2021 by Hannibal
Hannibal Verlag, ein Imprint der KOCH International GmbH, A-6604 Höfen
ISBN 978-3-85445-703-9
Auch als Paperback erhältlich mit der ISBN 978-3-85445-702-2
Titel der Originalausgabe: All My Yesterdays
© 2020 by Omnibus Press, 14-15 Berners Street, London W1T 3LJ, England
ISBN 978-1-785581-79-3
Cover Design © Paul Tippett for Vitamin D
Coverfoto © Mark Hadley
Foto Buchrückseite © Gottlieb Bros.
Steve Howe Logo © Roger Dean
Grafischer Satz in deutscher Sprache: Thomas Auer
Übersetzung: Paul Fleischmann
Deutsches Lektorat und Korrektorat: Dr. Matthias Auer
Hinweis für den Leser:
Kein Teil dieses Buchs darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, digitale Kopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden.
Der Autor hat sich mit größter Sorgfalt darum bemüht, nur zutreffende Informationen in dieses Buch aufzunehmen. Alle durch dieses Buch berührten Urheberrechte, sonstigen Schutzrechte und in diesem Buch erwähnten oder in Bezug genommenen Rechte hinsichtlich Eigennamen oder der Bezeichnung von Produkten und handelnden Personen stehen deren jeweiligen Inhabern zu.
Inhalt
Einleitung
Kapitel 1 Gemeinsam am Start
Kapitel 2 Lasst uns so tun, als ob …
Kapitel 3 Ein erster Schritt
Kapitel 4 Stets voran
Kapitel 5 Unten am Fluss
Kapitel 6 Keine Schande
Bilderstrecke I
Kapitel 7 Schmetterlinge
Kapitel 8 Bäumchen wechsle dich
Kapitel 9 Auf Solopfaden
Kapitel 10 Auf ein Neues
Kapitel 11 Das fast Unmögliche
Kapitel 12 Auf der Startrampe
Kapitel 13 Die Gefahren des Höhenflugs
Kapitel 14 Yes mit Einschränkungen
Bilderstrecke II
Kapitel 15 Nicht unbedingt akustisch
Kapitel 16 Eine turbulente Zeit
Kapitel 17 Ehrgeizige Ziele
Kapitel 18 Remedy
Kapitel 19 Hartnäckig
Kapitel 20 40 Jahre unterwegs
Kapitel 21 Wie ein Karussell
Kapitel 22 Chris verlässt die Bühne
Zum Ausklang … Es ist an der Zeit
Diskografie
Danksagungen
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Einleitung
Als ich anfing, Gitarre zu spielen, war es mir zunächst ein liebes Hobby, aber bald schon entwickelte sich daraus eine intensive Obsession. Schließlich wurde es mir dann zu dem, was es heute noch ist, nämlich zum größten Freudenspender. Allerdings blieb dies nicht völlig ohne negative Konsequenzen.
Obwohl mir bewusst ist, wie viel Glück ich in fast jeglicher Hinsicht hatte, mussten doch all jene, die mir nahestanden, einen Preis dafür bezahlen, da ich sehr viel Zeit unterwegs verbracht habe. Es kommt einfach zu oft vor, dass ich schnell mal irgendwohin fliegen muss, um ein Konzert zu spielen. Dieser Umstand macht gemeinsam verbrachte Zeit seit jeher schon zu einem besonders kostbaren Gut. Wir Musiker stehen zwar bezüglich unseres Vagabunden-Daseins nicht ganz allein da, aber das ist letzten Endes nicht wichtig. Tourneen, persönliche Termine und Studioaufnahmen vor Ort gehören nun einmal zum Job dazu. All dies findet nur selten in London statt, weshalb ich für gewöhnlich auf Achse bin.
Meine Laufbahn als Gitarrist ist von vielen Dingen geprägt gewesen. In den vergangenen 55 Jahren gab es außerdem viele Höhen und Tiefen. Ich habe in etlichen Gruppen gespielt: von The Syndicats, The In Crowd, Tomorrow und Bodast in den Sixties über Yes in den Siebzigerjahren bis hin zu Asia, GTR sowie Anderson Bruford Wakeman Howe in den Achtzigern. Dann noch einmal bei Yes und Asia in den Neunzigerjahren. Rund ums Jahr 2000 schienen Yes erneut auf dem Vormarsch zu sein, bevor 2004 wieder Schluss war. Asia wagten dann 2006 ein Comeback. Als 2008 Yes ebenfalls noch einmal aus der Versenkung auftauchten, ging ich mit beiden Bands auf Tour. Dabei spielten wir jeden Abend und absolvierten jeweils insgesamt 25 Konzerte. 2012 verließ ich Asia, um mich vermehrt auf Yes und meine Solo- und Trio-Projekte konzentrieren zu können.
Seit 1975 veröffentliche ich Aufnahmen auch als Solo-Künstler, was mir die Möglichkeit bescherte, mich besser als je erhofft ausdrücken zu können. Seit Beginnings To Time habe ich mich auch in dieser Hinsicht ausleben und experimentieren können. Oftmals ganz auf mich allein gestellt. In einer Band geht es primär um Kompromisse und Teamwork, aber als Solo-Musiker verhielt sich das ganz anders – vor allem, wenn ich mit meinen Söhnen Dylan und dem leider schon verstorbenen Virgil gespielt habe. Diese Erfahrung unterschied sich stark davon, mit anderen zu musizieren.
Mir wurde das große Glück zuteil, in fast allen möglichen Konfigurationen Musik machen zu können, doch als Solo-Gitarrist fühle ich mich am wohlsten. 2015 veröffentlichten Rhino Records meine Doppel-CD Anthology – A Solo Career Retrospective, der 2017 mit Groups And Collaborations eine Dreifach-CD folgte, die die Spannbreite meines Schaffens gut abdeckte. Diese Neuauflagen zusammenzustellen, half mir dabei, mich noch einmal daran zu erinnern, was ich in all den vielen Jahren im Musikgeschäft erreicht hatte. Dabei war aller Anfang schwer gewesen …
Kapitel 1
Gemeinsam am Start
Nach einigen schwierigen Monaten, in denen wir genau durchgekaut hatten, wie wir unseren Auftritt gestalten würden, versammelte sich im April 2017 die verbliebene und noch verfügbare Besetzung der Union-Tour von 1991, um bei der Einführung von Yes in die Rock and Roll Hall of Fame aufzutreten und eine Dankesrede zu halten. Das war kein leichtes Unterfangen.
Alan White und ich hatten seit 2004 weder mit Jon Anderson noch Rick Wakeman gespielt. Bei Trevor Rabin war es noch länger her – nämlich seit dem März 1992, als die Union-Tour in Japan ihr Ende gefunden hatte. Bill Bruford, der sich zur Ruhe gesetzt hatte, war zwar gekommen, doch Tony Kaye konnte nicht nach New York reisen, und Chris Squire war bereits 2015 verstorben.
Wir begnügten uns mit einer Probe am Vortag der Zeremonie und bereiteten auch nur zwei Songs vor. Geddy Lee, Bassist und Sänger der kanadischen Band Rush, wollte beim ersten Song Bass spielen. Ich bot an, den Bass bei der zweiten Nummer zu übernehmen – um Chris die Ehre zu erweisen, ergriff ich die einmalige Gelegenheit und orientierte mich exakt an der Originalaufnahme.
Zwischen den verschiedenen anderen Mitgliedern des inneren Kreises war die Stimmung spürbar angespannt. Die jeweiligen Versuche, wieder einen Draht zueinander zu finden, waren erfolglos. Wir blieben auf Distanz, als wir beide Songs ein paar Mal spielten und versuchten, die Einsätze, Übergänge und Schlüsse auf die Reihe zu bekommen. Zu meinem Glück kreuzte auch mein Sohn Dylan auf und erhielt so weitere wertvolle Einblicke in die Chemie dieser so seltsam dysfunktionalen Truppe. Er half mir dabei, der überaus eigenartigen Gruppendynamik dieser speziellen Band zu entgehen, die 1968 – und somit zwei Jahre vor meinen Einstieg – gegründet worden war. In den Pausen vernahm ich vage Zukunftspläne, doch letzten Endes sollten diese im Großen und Ganzen im Sand verlaufen.
Vor unserem großen Auftritt glich die Bühne der einer aufwendigen Fernsehshow. Sie strotzte nur so vor Kameras, Scheinwerfern, Leuten mit Headsets und malochenden Crew-Mitgliedern. Es herrschte das reinste Durcheinander! Alles wurde noch einmal einem letzten Test unterzogen – sowohl die Musik und unsere Ausrüstung als auch unsere Geduld. Unsere jeweiligen Positionen wurden für die Scheinwerfer markiert. Noch am Nachmittag rückten dann gewisse unangenehme Themen in den Vordergrund. Bald schon strapazierten diverse Manager, Pressesprecher und Tourmanager die Nerven der Mitarbeiter der Hall of Fame mit Angelegenheiten, von denen alle dachten, dass sie bereits vorab geklärt worden wären, die aber nun offenbar doch wieder zur Debatte standen. Egal. Dabei handelte es sich um Machtkämpfe und Reibereien, die von Dummköpfen befeuert wurden, denen es schlichtweg an jeglichem Verstand fehlte.
Allerdings schien nicht alles verloren. So freute ich mich sehr, als ich herausfand, dass Dave Natelle den Sound für das Publikum vor Ort und die Fernsehübertragung mischen würde. Bei ihm wusste ich uns in guten Händen. Immerhin hatte Dave nicht nur mit Yes und Asia gearbeitet, sondern darüber hinaus auch mit den Rolling Stones und noch vielen anderen. Seine Versicherung hinsichtlich der Klarheit seines Bühnen-Mix verschaffte mir große Erleichterung. Ich verstand dies als leicht verschlüsselte Botschaft, was gut und was nicht so gut zu hören sein würde. Sobald wie möglich kehrten Dylan und ich für ein paar Stunden ins Hotel zurück.
Als wir zurückkamen, begaben wir uns in die Garderoben mit der Aufschrift „Yes“. Alan, Chris und ich waren, zunächst mit Benoît David und Oliver Wakeman und später mit Geoff Downes und Jon Davison, die letzten neun Jahre zusammen als Yes auf Tournee gegangen. 2015 hatte sich dann noch Billy Sherwood zu uns gesellt. Wir fühlten uns völlig im Recht, gemeinsam als Yes hier zu sein. Was jedoch ARW (Anderson, Rabin und Wakeman) betraf, so versuchten wir, nicht mehr Zeit als nötig mit ihnen zu verbringen.
Schließlich begaben wir uns in den Festsaal, wo Dylan und ich mit Alan, Geoff und Billy sowie unserem Manager Martin Darville am Yes-Tisch saßen. Nachdem das Electric Light Orchestra und Joan Baez geehrt worden waren, wurden endlich wir zur Bühne gelotst. Rush-Gitarrist Alex Lifeson und sein Bandkollege Geddy Lee sprachen dort als Laudatoren über unsere Musik und stellten uns einzeln vor. Dann spielten wir „Roundabout“ mit dem so ehrgeizigen Geddy am Bass. Es erfüllte uns und sicherlich auch ihn mit großem Stolz, dass er Chris so würdig ersetzte. Wir lieferten eine astreine Version ab, da wir schon vorab bei der Probe besprochen hatten, in den Strophen Freiräume zu kreieren und den Refrain nur mit meiner Gitarre zu starten. Ich wechselte dafür zwischen meiner Variax für die Akustikparts und meiner zweitbesten E-Gitarre, einer Gibson ES-175D, hin und her. Ich beendete den Song wie auf der Platte mit ein paar akustischen Klängen. Neben Jon steuerte ich außerdem meine üblichen Gesangsparts bei. Auch glaube ich mich zu erinnern, dass Trevor nicht viele von Chris’ Parts sang. Im Anschluss daran hängte ich mir für „Owner Of A Lonely Heart“ einen gemieteten Rickenbacker-Bass um. Mittlerweile spiele ich ausschließlich nur mehr Bässe von Rickenbacker, und dieser hier war identisch mit meinem eigenen. Dabei handelte es sich um ein Sunburst-Modell von 2001, das darüber hinaus jenem Bass sehr stark ähnelte, den Chris selbst gespielt hatte.
Mit dem Einsetzen des aus vier Akkorden bestehenden Intros spielte ich den Bass genau so, wie er 1982 von Chris aufgenommen worden war. Die munter-fröhliche Schlusspassage uferte in eine ungestüme Jamsession aus, und ich schaffte es sogar, kurz zu einem „Duck Walk“ anzusetzen. Chuck Berry, dessen Markenzeichen diese kühne Einlage einst gewesen war, hatte erst unlängst das Zeitliche gesegnet und war an diesem Abend schon öfter erwähnt und gepriesen worden.
Die Veranstaltung wurde nicht nur als Livestream übertragen, sondern auch noch einmal in einer gestrafften Version im Fernsehen ausgestrahlt. Einige meinten, dass wir die beste Band des Abends gewesen seien. Es war mit gerade einmal zwei Songs sicherlich das seltsamste Set, das ich je mit Yes gespielt habe. Doch kam es mir so vor, als wäre da noch eine ganz andere Macht im Spiel gewesen, die es uns erlaubte, unseren Auftritt zu absolvieren und dabei nur minimal miteinander interagieren zu müssen. Wir blieben, auch als wir unsere Reden hielten, in zwei Lager gespalten.
Jon Anderson wirkte benommen und bedankte sich wiederholt bei seiner Frau Jane und ihren gemeinsamen Freunden. Alan sprach ebenfalls eine ganze Weile. Dann war ich an der Reihe. Ich war das einzige Mitglied von Yes, das sich vorbereitet und etwas notiert hatte, so wie es die Hall of Fame von uns erbeten hatte:
„Ich möchte mich herzlich bei allen Fans dafür bedanken, dass sie all die Jahre daran geglaubt haben, wir würden es verdienen, in diese besondere Ruhmeshalle aufgenommen zu werden. Ruhm bedeutet für verschiedene Menschen Unterschiedliches. Manche mögen sich danach sehnen, während andere ihren eigenen Bekanntheitsgrad lediglich zur Kenntnis nehmen.
Da die Musik noch lange nach ihrer Entstehung für sich selbst zu sprechen imstande ist, verschafft sie auch jenen Respekt, die leider nicht mehr unter uns weilen, und ermöglicht es den verbliebenen Mitgliedern, alle gebührend zu würdigen, die an den Ideen, Melodien, Texten, Arrangements und der generellen Ausrichtung der Musik von Yes beteiligt waren. Niemand kann uns die positive Resonanz unseres Publikums nehmen, dessen Ohren offenkundig ein wenig anders gepolt zu sein scheinen als jene der allgemeinen Hörerschaft. Doch zum Glück ist es in der Lage, unsere Texturen, Harmonien und Dissonanzen zu würdigen, da diese nun einmal notwendig sind, um Musik voller Dynamik und Dramaturgie, aber auch Bescheidenheit und Gefühl sowie nicht zuletzt Lautstärke als solche in Szene zu setzen. Oder wie Bill auf die Frage nach unserer Musik zu antworten pflegte: ‚Manchmal ist sie schnell, manchmal aber auch langsam!‘
Ich kann es kaum erwarten, meiner wunderbaren Frau Jan dafür zu danken, dass sie mich durch all die Höhen und Tiefen begleitet hat. Gleichzeitig gab sie unserer Familie stets Rückhalt, deren einzelne Mitglieder uns wiederum so stark beflügelt haben – Dylan und Zoe, Virgil und Zuni, Georgia, Drew und Diego, Steph und Adam.
Im Verlauf der letzten neun Jahre bemühten Alan White, bis zu seinem Tod Chris Squire und ich uns zusammen mit Geoff Downes, Jon Davison und Billy Sherwood darum, dem Standard, für den die Gruppe Yes aufgrund ihres ureigenen Konzepts steht, auch gerecht zu werden, was uns mit unseren jüngsten Tourneen, auf denen wir jeweils ein ganzes Album vortrugen, auch gelungen sein dürfte. Wir freuen uns schon darauf, weitere großartige Werke von Yes zu entstauben und zum Besten zu geben. Danke vielmals!“
Meine Worte wurden von den 17.000 Leuten im Publikum sehr herzlich aufgenommen. Viele Freunde und Fans, die alles online oder im Fernsehen mitverfolgt hatten, teilten mir mittels E-Mail, SMS oder persönlich mit, dass ihnen gefallen habe, was ich gesagt hätte. Ich war hocherfreut, dass die Leute zu verstehen schienen, worauf ich hinauswollte.
Wenig später wurden die Tische weggeräumt. Anstatt sich der Stimmung des Anlasses anzupassen, ließ Rick Wakeman, der alte Komiker, einige fragwürdige Zoten vom Stapel, was uns weniger gefiel. Derbe und banale Späße eben. Der Teleprompter signalisierte ihm mehrere Minuten lang ohne Erfolg, dass er Schluss machen solle, da die Zeit knapp werde. Eigentlich hätte ja noch Scotland Squire mit ihrer Tochter Xilan an ihrer Seite über ihren verstorbenen Mann Chris sprechen sollen. Doch darauf wurde schließlich aus akutem Zeitmangel verzichtet. Chris war diese spezifische Auszeichnung sehr wichtig gewesen, da sie eine große Anerkennung seitens der Branche darstellte. Als wir nun die Bühne verließen, dachte ich darüber nach, wie unfassbar abgeschmackt und kindisch diese Erfahrung gewesen war. „Was war los?“, fragte Scotland, worauf ich ihr antwortete, dass Rick weit übers Ziel hinausgeschossen sei – nicht nur hinsichtlich der Zeit, sondern auch dessen, was die Grenzen des guten Geschmacks betreffe.
Als Nächstes eilten wir hinter den Kulissen von Interview zu Interview. Einige davon fanden auch im Beisein von ARW statt, was dann letzten Endes desaströs und albern zugleich war. Als wir etwa alle nach unseren Plänen für das nächste Jahr, dem 50-jährigen Gründungsjubiläum der Band, gefragt wurden, meinte Jon Anderson: „Wir werden alle gemeinsam touren!“ Ich erstickte jegliche diesbezügliche Hoffnung sofort im Keim: „Auf keinen Fall, davon war nie die Rede!“ Dies entsprach vollauf der Wahrheit. Nichts schien weiter von der Realität entfernt zu sein als eine harmonische Zusammenarbeit dieser beiden verfeindeten Lager.
Die Rock and Roll Hall of Fame ermutigt ihre Acts mit besten Absichten dazu, sich für die Aufnahmezeremonie (und auch darüber hinaus) wiederzuvereinigen. Die Fans stehen diesem Aspekt ebenfalls sehr positiv gegenüber. Ihre Lieblinge können so ihre jahrelange Absenz zumindest in Ansätzen wiedergutmachen. Aber es ist nicht immer so einfach. Ein Beispiel dafür waren etwa ELO, die so wie wir 2017 aufgenommen wurden. Roy Wood spielte eine Schlüsselrolle in ihrer Entwicklung, doch entschied er sich dafür, an diesem Abend nicht mit seiner Band aufzutreten. So wurde er als einer von vielen mit einer kurzen Rede abgespeist. Das Gleiche galt auch für Steve Perry von Journey – er war zwar anwesend, doch verzichtete auf einen musikalischen Auftritt.
Die Gründe sind kompliziert, und jeder Fall ist anders gelagert. Oft spielen einige jüngere Mitglieder schon seit Jahren in einer Band, während andere längst nicht mehr mit von der Partie sind – manchmal aus eigenem Willen, manchmal aufgrund von persönlichen Konflikten. Die von vielen geliebte Musik aus der wichtigsten Schaffensperiode einer Band zu spielen, ist dann mitunter weniger ein Vergnügen als vielmehr eine Verpflichtung, der man eben mit einem versteinerten Grinsen nachkommen muss.
Am Tag darauf war der 8. April 2017 – mein 70. Geburtstag. Bevor Dylan und ich den Abendflug nach London erwischten, aßen wir mit dem Rest der Band in unserem Hotel zu Mittag. Ich freute mich sehr über das Geschenk meines lieben Freundes Charles Scott, der im Filmmusik-Business arbeitet. Es handelte sich dabei nämlich um einen Nachbau meiner Gibson ES-345 „Stereo“-Gitarre. Das Original war nach all den Tourneen und Studiosessions in die Jahre gekommen, doch dieses Modell von 1972 war in einem neuwertigen Zustand und bereit dafür, endlich gespielt zu werden. Nichts konnte mich nun noch in New York halten. Was ich wirklich wollte, war zu Hause mit Jan und der Familie etwas Zeit zu verbringen. Dylan und ich kamen am nächsten Morgen in London an. Wir taten so, als wäre immer noch mein Geburtstag, und verbrachten den Tag damit, dieses runde Jubiläum gemütlich zu feiern.
Diese 70 Jahre stellten eine ungeheure Reise dar: Freude, Glück, Schwierigkeiten, Kummer, Liebe, Verlust, Aufstieg, Schöpfung und Zerstörung. Manche Erinnerungen sind im vollen Farbspektrum, andere eher in Schwarz-Weiß gehalten.
Aber was sollte man anderes erwarten?
Kapitel 2
Lasst uns so tun, als ob …
Als ich etwa zehn Jahre alt war, träumte ich davon, Gitarre zu spielen und einer Künstlerexistenz zu frönen. Für mich gab es nur eines, nämlich auf diesem Instrument kontinuierlich besser und irgendwann einmal richtig gut zu werden.
Die ersten kleinen Schritte zur Erfüllung meines Traumes ereigneten sich in den Loraine Mansions, Widdenham Road, Hausnummer 34, im Nordlondoner Stadtteil Holloway, wo ich am 8. April 1947 das Licht der Welt erblickte. Ich war das jüngste von vier Kindern. Cyril, mein Vater, war Koch, der Ada, meine Mutter, kennenlernte, als beide im Ritz Hotel in Piccadilly arbeiteten. Ich glaube, sie war dort als Hausmädchen angestellt.
Während des Zweiten Weltkriegs kochte mein Vater in der Armee und dann in einem smarten Bankiersrestaurant namens The Palmerston in Bishopsgate in der City of London. Dort avancierte er schließlich zum Küchenchef, bestimmte jeden Tag das Menü und beaufsichtigte die Zubereitung jedes Gerichts. Gelegentlich brachte er auch sehr hochwertige Lebensmittel mit nach Hause, darunter Fleisch und Fisch, was wiederum die Ansprüche an anständige Lebensmittel über Jahre hinweg hochschraubte.
Dad war ein angesehenes Mitglied der International Academy of Chefs de Cuisine, deren britische Sektion sich jedes Jahr zu einem Symposium in Torquay in Devon traf. Er und meine Mum befanden sich oft unter den Gästen, und wir besitzen noch heute ein bemerkenswertes Album voller Erinnerungen an diese Zusammenkünfte, bei denen Dad Preise für blumige Tischdekorationen oder seine Tierfiguren und andere Motive, die er zumeist aus Zucker schuf, einheimste. Zwar bestand meine Mutter darauf, zumindest bei uns zu Hause zu kochen, doch ließ es sich Dad nicht nehmen, am Samstag selbst am Herd zu stehen. Dann gab es auch spezielle Gerichte wie etwa frittierte Äpfel und Bananen. Er zeigte mir auch, wie man Omeletts zubereitete. Doch wenn ich am samstagmorgens aufstand, bröckelte ich stattdessen lieber einen Käse in die Pfanne. Das ging viel schneller und einfacher als ein Omelett! Sobald der Käse dann geschmolzen war, konnte ich ihn mit einer Gabel essen. Außerdem brachte er mir bei, wie man Pfannkuchen machte beziehungsweise, wie man sie wendete. Es machte einen Heidenspaß, zuzusehen, wie hoch man die Pfannkuchen werfen und wieder auffangen konnte.
Die einzige Mahlzeit, mit der ich so gar nichts anfangen konnte, war der Sonntagsbraten – vermutlich ein erster Hinweis darauf, dass ich später Vegetarier werden würde. Seine Zubereitung dauerte immer ziemlich lange, und das unangenehme Aroma breitete sich währenddessen in unserer ganzen Wohnung aus. Leider bin ich einigermaßen empfindlich, was Gerüche betrifft. Bevor bei uns sonntags zu Mittag gegessen wurde, besuchten wir oft einen nahen Verkaufsstand, wo Muscheln und andere Meerestiere angeboten wurden. Deren Anblick und Gestank waren nicht weniger ekelhaft.
Dad verfügte über noch ein weiteres besonderes Talent, nämlich das Eisschnitzen. So formte er etwa für eine australische Bank ein Känguru, das dann im Rahmen einer abendlichen Veranstaltung der Filiale im Palmerston über das Büffet wachte. Vermutlich vermittelte seine Fähigkeit, diese Objekte zu schaffen, mir eine spezielle Wertschätzung für Eisschnitzerei und später auch feine Glasarbeiten. Auf meinen vielen Reisen habe ich stets Ausschau nach gläsernen Kunstobjekten gehalten und so im Verlauf der Zeit auch eine umfangreiche Sammlung zusammengetragen.
Ich war ein relativ ruhiger kleiner Junge, der sich damit begnügte, mit seinen Spielzeugautos und -zügen zu spielen. Auch besaß ich Armeefahrzeuge und Soldaten, mit denen ich Schlachten nachstellte. Dafür feuerte ich brennende Streichhölzer aus mit Sprungfedern versehenen Kanonen und Panzern im Maßstab 1:43. Nicht selten spielte ich mit meinem Bruder Philip, der zweieinhalb Jahre älter war als ich, bis wir uns schließlich in die Wolle gerieten. In der Regel zankten wir, weil der eine des anderen Armee auf dem Schlachtfeld ausgelöscht hatte. Da wir altersmäßig nicht weit auseinanderlagen, war sein Einfluss auf mich wahrscheinlich größer als der unseres ältesten Bruders John und unserer Schwester Stella. Philip arbeitete später beim Film und Fernsehen – als Cutter und Regisseur. Er lebt nun schon seit vielen Jahren mit seiner Frau Sarah im australischen Sydney und hat drei Söhne aus einer früheren Ehe namens Rufus, Paris und Blaise.
Meine Schwester Stella war die Nächstältere. Sie verdingte sich zunächst als Friseurin, bevor sie ihre Söhne Adrian und Jason großzog und dann eine Stelle im Management des Einkaufszentrums Brent Cross annahm. Heute lebt sie mit ihrem Mann Tony in Spanien. Stella hat mit Philip, John und mir in Holloway wohl einiges mitmachen müssen. John war ein richtiger Komiker. Erst neckte er Mum ob ihrer Kochkünste, dann verwickelte er uns in unserem bereits abgedunkelten Schlafzimmer noch in eine Kissenschlacht, bevor er zurück auf seinen Stützpunkt bei der Royal Air Force musste. Nachdem er ins Leben als Zivilist zurückgekehrt war, arbeitete er in der Möbel- und Textilindustrie. Mit seiner Frau Joyce hat er einen Sohn und eine Tochter, Christopher und Caroline, die wiederum eine Tochter namens Bethany hat.
Uns fehlte zwar der Vergleich mit anderen Haushalten, doch gab es keinen Grund, sich über viel zu beschweren. Ich genoss die Sommerabende, an denen ich stundenlang einen Ball gegen eine Wand kickte, die strahlenden Sonnenuntergänge und unsere Freitagabende, wenn wir quer durch London nach Putney fuhren, um dort an der Themse Fish and Chips zu essen und dann im Putney Common, einem schönen Park, herumzulaufen. Wenn dort die Dunkelheit hereinbrach, wurden wir von Fledermäusen gejagt. Am Wochenende fuhren wir oft nach Richmond oder Hampton Court. Nur ein einziges Mal besuchten wir einen Bauernhof auf dem Land. Das hinterließ einen bleibenden Eindruck – es war wie ein völlig anderer Planet für einen Jungen, für den London der Mittelpunkt des Universums markierte. Es sollten dann ganze zwölf Jahre vergehen, bevor ich erneut die Chance erhielt, die schöne englische Landschaft zu bestaunen und als solche zu schätzen.
Mit fünf Jahren kam ich in die Schule. Mum musste mich fast schon mit Gewalt dorthin zerren. Ich habe jedoch nicht nur an diesem ersten Tag geschrien, sondern noch an vielen der folgenden Tage danach. Die Schule beraubte mich meiner geliebten Freiheit. Von nun wurde ich danach beurteilt, wie gut ich sinnlose Informationen zu einer Vielzahl von Themen in meinem Kopf speichern konnte. Die Hungerford School hing über mir wie eine düster-bedrohliche Regenwolke. Es schien alles so unfair. Für diejenigen, denen in der Schule so gar nichts gefällt, sollte es irgendeine Art Alternative geben. Im Winter war die Dunkelheit, die am Ende des Schultages bereits hereingebrochen war, einigermaßen beängstigend. Ich wurde einmal Zeuge, wie ein Freund von mir in der Finsternis von einem Auto angefahren wurde und zuckend am Boden liegen blieb. Zum Glück war er nur leicht verletzt. Irgendwann einmal schlug mir dann ein aggressiver Junge einen Ziegelstein auf den Kopf. Ich musste ins Krankenhaus gebracht und genäht werden. Mit nur einem Stich zwar, aber immerhin. Und der Junge bekam es mit der Polizei zu tun.
An den Wochenenden hing ich mit meinen Freunden herum. Wenn uns eine Situation zu ungefährlich erschien, dann sahen wir eben selbst zu, dass sie gefährlicher wurde! So schossen wir etwa brennende Feuerpfeile auf strategische Ziele wie den Garten eines Freundes oder einen Kohlebunker. Chemie-Baukästen wurden verwendet, um Raketen zu befeuern, die von unseren selbst zusammengeschraubten Metallrampen aus gezündet wurden. Im Keller eines anderen Freundes aktivierten wir hingegen ein paar Rauchbomben. Oft genug schwelte mysteriöserweise Schwefel auf den Stufen hinauf zu den Wohnungen. Einmal drangen wir auch in ein verlassenes Kino ein und spielten inmitten von Staub und toten Tauben. Irgendwann wurde das aber ein wenig unheimlich, und ich entkam schließlich durch eine Tür, die nirgendwohin führte – außer man war in der Lage, eine drei Meter hohe Mauer, die mit Glasscherben bedeckt war, zu erklimmen. Da es nun einmal der einzige Ausweg war, versuchte ich genau das zu bewerkstelligen. Wie das Mitglied einer militärischen Spezialeinheit kraxelte ich die Wand hoch und sprang auf die andere Seite in die Freiheit. Ich erinnere mich noch, wie ich mit Staub und Schmutz bedeckt nach Hause kam und versuchte, mich zu verstecken, bevor ich mich waschen konnte. Doch vor Mum gab es kein Entkommen. Allerdings fragte sie bloß nach, ob auch alles in Ordnung sei …
Alles, was sowohl unser Nervenkostüm als auch unsere körperliche Ausdauer strapazierte, genoss höchste Priorität bei uns. Das wirkte wie ein Exorzismus gegen meine Ängste. Mithilfe meines törichten Wagemuts befreite ich mich somit schon sehr früh von der dunklen Seite. Doch rückten diese kindischen Herausforderungen schließlich Schritt für Schritt in den Hintergrund. Dadurch eröffnete sich die Möglichkeit, meine Fantasie für sinnvollere Unternehmungen einzusetzen.
Als ich zehn Jahre alt war, begann ich mich, für Musik zu interessieren. Sie motivierte mich geistig und körperlich. So spielte ich denn lebhafte Musik auf der Musiktruhe in unserem Wohnzimmer, wovon auch die Unordnung zeugte, die ich dabei hinterließ. Ich hüpfte zwischen Sofa und Sesseln hin und her und vermied dabei, den Boden zu berühren. Diese Art zu tanzen löste mich auf eine seltsame Weise aus meiner Wirklichkeit heraus, was mir sehr zusagte. Ich legte Platten von Marschkapellen und Schnulzensängern aus der Sammlung meiner Eltern auf, darunter auch Filmmusiken wie etwa South Pacific. Diese verwunschenen Abende wurden für mich eine Flucht aus meinem gewohnten, straff organisierten Alltag. Die Musik bot mir eine zweite Heimat. Das ließ sich aber nur sehr schwer kontrollieren.
Meine nächste Schule war die Barnsbury Boys in Islington. Ich war nun elf Jahre alt, man schrieb das Jahr 1958, und der Lehrplan gestaltete sich durchaus anspruchsvoll. Die einzelnen Fächer waren schwierig, und unbeholfene Lehrer bestimmten mit kompromissloser Autorität über uns. Nur der Werkunterricht und Technisches Zeichnen gefielen mir, wohingegen mir der ganze Rest schwerfiel. Die meisten Lehrer sahen in mir einen braven Jungen, doch konnte ich mich auch eigensinnig verhalten. In der Regel schlich ich auf leisen Sohlen die Flure entlang, ohne dabei groß Aufsehen zu erregen oder irgendwo anzuecken. Auf diese Weise vermied ich es gekonnt, von meinen Mitschülern gehänselt und vom Lehrpersonal zurechtgewiesen zu werden. „HOWE, HÖR GEFÄLLIGST AUF, AUS DEM FENSTER ZU STARREN!“, bringt meinen damaligen Schulalltag ganz gut auf den Punkt.
An der Schule herrschte ein Gewaltniveau, das mitunter aus dem Ruder zu laufen drohte – dies betraf sowohl Schüler als auch Lehrer. Als ich mich einmal ganz beiläufig im Werkunterricht über irgendetwas beklagte, wurde mir schon mit einem Lineal auf die Knöchel meiner Hand gehauen. Ein anderes Mal bezog die ganze Klasse Dresche mit dem Stock, weil ein Missetäter nicht zu seiner Regelüberschreitung stehen wollte. Er hatte, als der Lehrer mit dem Rücken zu uns stand, ein Tintenfass quer durchs Klassenzimmer gepfeffert. Einmal knöpften sich ein paar ältere Schüler meine Wenigkeit vor. Sie boxten und traten mich, aber nicht allzu hart.