Czytaj książkę: «Die Kunst, mit sich allein zu sein»
STEPHEN BATCHELOR
Die Kunst,
mit sich
allein zu sein
Übersetzung aus dem Englischen von Saskia Graf
Der Verlag dankt der Buddhastiftung für die Unterstützung bei der Übersetzung des Buches.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Originaltitel: The art of solitude
Originally published by Yale University Press
© 2020 by Stephen Batchelor
Textgrundlage dieses eBooks ist die gedruckte Version des gleichnamigen Titels.
Alle Rechte vorbehalten
Copyright eBook: © 2020 by edition steinrich, Berlin
Copyright der deutschen Ausgabe: © 2020 by edition steinrich, Berlin
Übersetzung: Saskia Graf, Buddhastiftung
Lektorat: Ursula Richard
Korrektorat: Carl Polónyi
Umschlagcollage: © Stephen Batchelor
Umschlaggestaltung: Grafikbüro Schadenberg, Berlin
Gestaltung und Satz: Traudel Reiß
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
ISBN Print 978-3-942085-73-1
ISBN ebook 978-3-942085-74-8
Inhalt
Einleitung
Die Kunst, mit sich allein zu sein
Anhang:
Die Vier Achter
Glossar
Bibliografie
Danksagungen
Über den Autor
Zieh dich in dich zurück, aber bereite dich allem voran darauf vor, dich dort zu empfangen. Wenn du es nicht verstehst, dich selbst zu geleiten, wäre es doch Wahnsinn, dich dir selbst anzuvertrauen. Es gibt Wege des Scheiterns in der Einsamkeit wie in der Gesellschaft.
MICHEL DE MONTAIGNE
Denn oft, wenn auf dem Sofa ich ruh’
Leer oder in Nachdenklichkeit,
Leuchten sie auf, jenem inner’n Auge zu,
Das ist die Wonne der Einsamkeit;
Mein Herz vor Freude hingerissen
Tanzt dann mit den Narzissen
WILLIAM WORDSWORTH
Solitude ist in der englischen Originalausgabe ein zentraler Begriff, was sich bereits im Titel The Art of Solitude ausdrückt. Im Deutschen haben wir, um bei diesem (im Französischen wie im Englischen) äußerst vielschichtigen Begriff die jeweils stimmige Nuance zu treffen, je nach Kontext, Einsamkeit, Mit-sich-Alleinsein, Fürsichsein oder Abgeschiedenheit als Übersetzung gewählt.
Einleitung
Mit sich allein sein ist ein fließendes Konzept, das von den Tiefen eines Verlassenheitsgefühls bis zur mystischen Entrückung eines Heiligen reicht. In seinem Gedicht La Fin de Satan [Das Ende Satans] unterstrich der Schriftsteller Victor Hugo, dass »die Gesamtheit der Hölle in einem einzigen Wort enthalten ist: Einsamkeit«. Später räumte er ein: »Einsamkeit ist gut für große Geister, aber schlecht für kleine. Sie plagt den Verstand, den sie nicht erhellt.« Allerdings vermochte Hugo nicht so weit zu gehen wie sein älterer englischer Zeitgenosse, William Wordsworth, für den Einsamkeit eine »Wonne« war, die das Herz mit Freude erfüllte. Ich vermeide weitgehend die Extreme von Hölle und Glückseligkeit und werde hier den mittleren Weg des Mit-sich-Alleinseins untersuchen, den ich als Ort der Autonomie, des Staunens, der Kontemplation, der Vorstellungskraft, der Inspiration und der Fürsorge betrachte.
Ich behandle Mit-sich-Alleinsein als eine Form der Praxis, eine Lebensweise – wie sie gleichermaßen von Buddha und Montaigne verstanden wurde –, anstatt sie als einen individuellen psychischen Zustand zu analysieren. Isolation und Entfremdung betrachte ich als die dunklen, tragischen Seiten des Mit-sich-Alleinseins. Eingebettet in unser sterbliches Dasein sind aber beide Teil dessen, was es bedeutet, allein zu sein, ob in einer Klosterzelle, einem Künstleratelier oder einer problembeladenen Ehe. Mit sich allein sein ist, wie die Liebe, zu komplex und eine zu grundlegende Dimension menschlichen Lebens, als dass sie je mit einer einzigen Definition erfasst werden könnte. Meine Absicht ist es nicht, Mit-sich-Alleinsein zu »erklären«. Ich möchte seinen Reichtum und seine Tiefe offenlegen, indem ich Geschichten von Menschen erzähle, die Mit-sich-Alleinsein gelebt haben und leben.
Dieses Buch ist eine facettenreiche, parataktische Erkundung dessen, was meine eigene Praxis des Mit-sich-Alleinseins in den vergangenen vierzig Jahren unterstützt hat. Ich habe Zeit an abgelegenen Orten verbracht, schätze die Kunst und betätige mich selbst künstlerisch, praktiziere Meditation und nehme an Retreats teil, habe Peyote und Ayahuasca zu mir genommen und übe mich darin, mir einen offenen, hinterfragenden Geist zu bewahren – all das hat dazu beigetragen, dass ich gut allein sein und mich dabei wohlfühlen kann.
2013 bin ich sechzig Jahre alt geworden. Ich habe eine einjährige Auszeit von meiner Arbeit als Meditations- und Philosophielehrer genommen und einen Großteil des Jahres mit Reisen, Studieren und dem Erstellen von Collagen verbracht. Im Januar fuhr ich mit dem Bus von Mumbai nach Bhopal, um die alten Felsentempel Indiens zu besuchen; im März nahm ich an einem Kolloquium über Säkularen Buddhismus im Barre Center for Buddhist Studies in Massachusetts teil; im Oktober führte mich eine Pilgerreise nach Südkorea zu Ehren des dreißigsten Todestages meines Zen-Lehrers Kusan Sunim; und im November flog ich nach Mexiko, um mit Don Toño, einem Schamanen des Huichol-Stammes, an einem Medizinkreis teilzunehmen.
Im Rahmen des Kolloquiums in Barre präsentierte der Dharma-Lehrer und Gelehrte Gil Fronsdal seine Arbeit über eine frühe buddhistische Schrift auf Pali namens Achter-Buch (Aṭṭhakavagga). In ihrer Direktheit, Einfachheit und Nüchternheit halten die 209 Verse des Achter-Buches die prägnanten Äußerungen des Buddha fest, als er in den Jahren vor der Gründung einer Gemeinschaft, » allein wie ein Nashorn umherwanderte«. Die Verse kommen weitgehend ohne buddhistische Terminologie aus und sie propagieren ein von Meinungen und Dogmatismus befreites Leben.
Das Achter-Buch hat mich tief beeindruckt. Fasziniert von der Möglichkeit, die vier achtstrophigen Gedichte ziemlich am Anfang des Textes könnten die frühesten Aufzeichnungen der Lehre des Buddha sein, beschloss ich, sie ins Englische zu übersetzen. Inspiriert von ihrem Rhythmus und ihren Metaphern habe ich sie eher als Poesie denn als heilige Schrift behandelt. Ich nannte meine Übersetzung die Vier Achter.
Die Vier Achter beginnt mit der Frage nach dem Mit-sich-Alleinsein an sich:
Die Kreatur, in ihrer Zelle verborgen –
ein Mensch, in dunklen Leidenschaften versunken,
ist weit, weit davon entfernt, mit sich allein in Frieden zu sein.
VIER ACHTER, 1:1
Ich habe den Pali-Begriff guhā mit »Zelle« übersetzt, obwohl man ihn ebenso als »Höhle« oder »Versteck« hätte übertragen können. Guhā ist auch mit dem Wort guyha verwandt, was »Geheimnis« bedeutet. Wir können uns im dunklen, stillen Innern einer Höhle verstecken und uns sicher fühlen. Ebenso können wir uns an jene intimen Orte in uns selbst zurückziehen, die einen vergleichbaren Schutz zu bieten scheinen, an denen wir unser geheimes Leben allein und ungestört führen können.
In einem Brief an ihre Freundin Monna Alessa dei Saracini schrieb die Gelehrte und Mystikerin Katharina von Siena im 14. Jahrhundert:
Errichte zwei Häuser für dich selbst, meine Tochter. Ein tatsächliches Zuhause in deiner Zelle, um nicht an vielen Orten umherlaufen zu müssen, es sei denn, dies sei notwendig oder aus Gehorsam gegenüber der Priorin oder um der Nächstenliebe willen; und ein anderes geistiges Zuhause, das du immer bei dir tragen solltest – die Zelle der wahren Selbsterkenntnis, in der du in dir selbst Einsicht in die Güte Gottes finden wirst.
Die »Kreatur, verborgen in ihrer Zelle« muss keine Nonne sein, die in einem Kloster meditiert. Es könnte jeder sein, der sich in einer geschäftigen, lauten Stadt isoliert und allein fühlt. Doch jeder dieser einsamen, von geheimen Ängsten heimgesuchten und paralysierten Menschen wäre für den Autor der Vier Achter »weit, weit entfernt davon, mit sich allein in Frieden zu sein«.
Mit sich allein sein bedeutet mehr als einfach nur allein sein. Wahres Mit-sich-Alleinsein ist eine Weise zu sein, die der Kultivierung bedarf. Man kann sie nicht nach Belieben ein- und ausschalten. Mit-sich-Alleinsein ist eine Kunst. Man benötigt Geistesschulung, um sie zu verfeinern und zu stabilisieren. Wenn man Mit-sich-Alleinsein praktiziert, gibt man sich der Pflege der Seele hin.
Für diejenigen, die Religion zugunsten eines säkularen Humanismus verworfen haben, kann der Begriff des Mit-sich-Alleinseins Genusssucht, Nabelschau oder Solipsismus implizieren. Manche mögen sich vom Mit-sich-Alleinsein als Weg angezogen fühlen, weil sie meinen, sich so der Verantwortung entziehen und Beziehungen vermeiden zu können. Aber für viele bietet Mit-sich-Alleinsein die Zeit und den Raum, um die nötige innere Ruhe und Autonomie zu entwickeln, sich wirkungsvoll und kreativ mit der Welt auseinanderzusetzen. Momente der stillen Kontemplation, sei es vor einem Kunstwerk oder während man den eigenen Atem beobachtet, ermöglichen es uns, zu überdenken, worum es uns im eigenen Leben geht, und darüber nachzusinnen, was für uns am wichtigsten ist. Mit-sich-Alleinsein ist kein Luxus für die wenigen, die Muße haben. Es ist eine Dimension des Menschseins, der wir nicht entrinnen können. Ob wir nun eifrige Gläubige oder eifrige Atheistinnen sind, im Mit-sich-Alleinsein begegnen wir den gleichen existenziellen Fragen und untersuchen sie.
Meine Berichte in diesem Buch über die Einnahme von Psychedelika bei schamanischen Zeremonien sollten nicht als pauschale Befürwortung ihrer Verwendung verstanden werden. Ich beschreibe eine in meiner persönlichen und kulturellen Geschichte verwurzelte Reise. Sie mag für Leserinnen und Leser von Belang sein oder auch nicht. Die meisten Buddhistinnen und Buddhisten werden die Einnahme von Peyote und Ayahuasca wohl als Verletzung der Ethikregel bezüglich den Geist berauschender Mittel ansehen und somit als mit der Dharma-Praxis unvereinbar. Beim Schreiben von Die Kunst, mit sich allein zu sein ist es eines meiner Hauptanliegen gewesen, einen konstruktiveren Weg zu finden, über das umstrittene Thema Drogen in unserer gehörig unter Medikamenteneinfluss stehenden Gesellschaft zu sprechen. Wie die aktuelle Opioid-Epidemie in den Vereinigten Staaten verdeutlicht, mühen sich sowohl weltliche als auch religiöse Institutionen damit ab, Wege zu finden, um klug und mitfühlend auf diese Krise zu reagieren. Statt eine Reaktion auf die binäre Opposition zwischen Genuss (schlecht) und Abstinenz (gut) zu stützen, benötigen wir ein fundierteres und differenzierteres Verständnis, wie man Substanzen nutzt, die das menschliche Bewusstsein, Empfinden und Verhalten verändern. Indem ich die Anwendung von Psychedelika in die Praxis des Mitsich-Alleinseins einbeziehe, möchte ich sie in einen breiteren kulturellen Diskurs integrieren, der Meditation, Therapie, Philosophie, Religion und Kunst umfasst.
Dieses Buch ist aus meinen Wanderungen, Erkundungen und Studien heraus erwachsen; seine Struktur wurde jedoch durch meine zwanzigjährige Praxis, Collagen aus gefundenen Materialien herzustellen, geformt. Wohin ich auch gehe, ich sammle weggeworfene Papier-, Stoff- und Plastikreste, die ich auf Karton klebe, dann zerschneide und zu quadratischen Mosaiken anordne. Dieser Prozess verwandelt zufällig gefundene Müllfetzen in Kunstwerke, die nach vorher festgelegten, formalen Regeln strukturiert sind, und macht jede Collage zu einer Kombination aus Zufall und Ordnung. Die Kunst, mit sich allein zu sein wurde auf ähnliche Weise konzipiert und ausgearbeitet. Beim Schreiben habe ich sowohl die strenge metrische Struktur der Vier Achter als auch die chaotische Organisation von Montaignes Essais berücksichtigt, die beide die Form dieses Buches inspiriert haben.
Montaigne beobachtete, dass sich in der Malerei »manchmal das Werk aus der Hand des Malers losreißt, seine Vorstellungskraft und sein Verständnis überflügelt, ihn staunen lässt und tief bewegt«. Die Anmut und die Schönheit solcher Werke werden »nicht nur ohne die Absicht des Künstlers, sondern auch ohne sein Wissen« erreicht. In gleicher Weise »findet ein aufmerksamer Leser oftmals in den Schriften anderer noch weitere Schätze als diejenigen, die dort vom Autor platziert oder auch nur von ihm bemerkt wurden, und verleiht so diesen Texten einen reicheren Bedeutungsgehalt und Charakter«. Indem ich dieses Buch in Form einer Collage verfasste, habe ich versucht, meine schriftstellerische Einflussnahme zu dämpfen und so den Text zu befreien, damit er seine eigene Stimme findet.
Meine Collagen sind Übungsstücke in Komposition und Differenzierung. Während der Entfaltung dieses Prozesses hat mich die Frage in ihren Bann gezogen, wie unterschiedliche Dinge zusammenpassen. Eines meiner Leitprinzipien ist das des Nichtangrenzens. Es bedeutet, dass in der endgültigen Komposition keine zwei Stücke, die ich aus demselben Material ausgeschnitten habe, nebeneinander liegen dürfen. So ist sichergestellt, dass jedes Stück der Collage sich maximal von den es umgebenden Stücken unterscheidet. Dies ermöglicht jedem einzelnen Stück, sich in seinem eigenen »Fürsichsein« deutlich von der Matrix abzuheben, deren integraler Bestandteil es zugleich ist. Das gleiche Prinzip habe ich beim Schreiben dieses Buches angewandt. Keines seiner 32 Kapitel ist einem anderen vorangestellt oder folgt auf eines, das dasselbe Thema behandelt. Und da die Reihenfolge der Kapitel teilweise durch das Zufallsprinzip festgelegt wurde, bedeutete dies, dass ich beim Schreiben eines bestimmten Kapitels keine Ahnung hatte, welches andere Kapitel ihm in der endgültigen Fassung vorausgehen oder nachfolgen würde. Jedes Kapitel musste ich daher als eigenständigen Beitrag schreiben. Indem ich auf jede logische oder erzählerische Kontinuität zwischen den aufeinanderfolgenden Kapiteln verzichte, lasse ich zu, dass die grundverschiedenen Motive und Themenbereiche des Buches in überraschender und erhellender Weise aufeinanderprallen.
Dieses Projekt hat mich zu meinen Anfängen als Autor zurückgeführt. Mein erstes Buch, das 1983 erschien, trug den Titel Alone with Others: An Existential Approach to Buddhism [Mit anderen allein. Eine existentialistische Annäherung an den Buddhismus]. Wie ich es damals ausdrückte, war ich fasziniert von dem Paradoxon, »immer unausweichlich allein und gleichzeitig unausweichlich zusammen mit anderen zu sein«. Ich erkenne jetzt, dass eine vergleichbare ästhetische Spannung meine Collagenarbeit geprägt hat. Sich auf die westliche Phänomenologie und den Existenzialismus stützend, vermittelte Mit anderen allein ein buddhistisches Verständnis menschlicher Erfüllung (»Erwachen«) durch die Verknüpfung von Weisheit (allein) und Mitgefühl (mit anderen). Mein Interesse am Mit-sich-Alleinsein ist immer noch von dem gleichen Wunsch getrieben, dieses grundlegende Paradoxon menschlicher Existenz zu verstehen.
Während dieses Buch – manchmal explizit, manchmal implizit – die innere Geschichte meines eigenen Ringens mit dem Buddhismus erzählt und obwohl ich weiterhin auf Quellen und Motive aus jener Tradition zurückgreife, betrachte ich Die Kunst, mit sich allein zu sein nicht als ein buddhistisches Buch. Ich bin nicht daran interessiert, eine buddhistische Interpretation des Mit-sich-Alleinseins zu präsentieren. Ich möchte mit Ihnen teilen, was Praktizierende des Mit-sich-Alleinseins mit unterschiedlichen Hintergründen und aus unterschiedlichen Fachgebieten und Traditionen über ihre konkrete Praxis zu berichten haben.
Sechzig zu werden bedeutet für die Chinesen, fünf Zwölfjahreszyklen des Tierkreises abgeschlossen zu haben. Jedes weitere Lebensjahr wird als Bonus, als Geschenk, betrachtet. In Korea lockern sich die strengen Verhaltensregeln der konfuzianischen Gesellschaft mit sechzig. Oft begegnet man Seniorengruppen, die durch die Hügel streifen, Lieder singen, Soju trinken und sich zum Affen machen. Ich sehe die fünf Jahre, die ich benötigt habe, um dieses Buch zu schreiben, als ein Geschenk an. Ich hoffe, ich habe sie nicht vergeudet. Meine Übersetzung der Vier Achter ist als Anhang beigefügt.
Alle ursprünglich auf Französisch, Pali und Tibetisch verfassten Materialien wurden von mir für dieses Buch neu (ins Englische) übersetzt.
Stephen Batchelor
Aquitaine, Frankreich
Juni 2019
Die Kunst,
mit sich
allein zu sein
1
Selbst an langen Sommertagen im ländlichen England, wenn es nicht vor 22 Uhr dunkel wurde, bestand meine Mutter darauf, ihre zwei Söhne früh ins Bett zu schicken, was ich sowohl für unfair als auch für sinnlos hielt. Da ich nicht schlafen konnte, pflegte ich meine Augen zu schließen und mir vorzustellen, wie mein liegender Körper sich im Schlafanzug die Wände des Schlafzimmers hinauf und hinab bewegte, gegen die Decke glitt und dann an einem Punkt meiner Wahl verharrte. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass ich mich tatsächlich an diesen unmöglichen Orten befand und nicht in meinem Bett. Ich führte diese Manöver Abend für Abend durch. Ich habe sie sehr ernst genommen. Ich habe nie mit jemand darüber gesprochen, was ich tat. Es waren Übungen in reinem Mit-mir-Alleinsein.
Eine weitere Kontemplation während dieser schlaflosen Abende bestand darin, unbeirrbar bei einem Geschmack zu verweilen, der mir nicht von dieser Welt schien. Dieser Geschmack war weder angenehm noch unangenehm, nur völlig anders als alle Geschmäcker, die ich kannte. Er war mir zutiefst vertraut, obwohl ich keine Ahnung hatte, woher er kam. Jetzt kann ich gerade noch einen entfernten, mehr und mehr schwindenden Hauch davon wiederaufleben lassen.
Ich hatte immer wieder Träume vom Fliegen. Mit minimalem Aufwand schwebte ich dann durch die Luft, stieß hinab und stieg hinauf, wie ich wollte. Die Landschaften unter mir waren in Sonnenlicht getaucht, reich an Details und Farben. Als Träumender war mir bewusst, dass diese Träume realer waren als andere Träume. Sobald ein Flugtraum begann, frohlockte mein träumendes Selbst. Wieder wach erinnerte ich mich an diese Flüge mit der Sehnsucht eines Menschen, der in ein bleiernes Reich verbannt worden war.
Manchmal gab ich mir größte Mühe, mein Denken zum Stillstand zu bringen. Mein ständiges Scheitern dabei beunruhigte mich. Ich war machtlos gegenüber dem unerbittlichen Gedankenstrom, der sich fortwährend in mir ergoss. Oder ich verfolgte meinen Weg sorgfältig zurück durch die wachen Stunden des Tages auf der Suche nach Momenten, in denen ich frei von Sorgen gewesen war. Wenn ich mich für »glücklich« hielt, war ich mir stets eines blassen Schattens von Angst bewusst, der in der Nähe lauerte. Etwas konnte immer schiefgehen.
Dies waren meine ersten, naiven, nicht angeleiteten Versuche in dem, was ich heutzutage als Meditation bezeichnen würde. Durch die Erforschung der Texturen und Konturen meines Innenlebens gelang es mir, der Langeweile und Einsamkeit eines schlaflosen Kindes zu entkommen, und ich entdeckte die zufriedene Selbstgenügsamkeit des Mit-sich-Alleinseins. Thomas de Quincy sprach von »dieser inneren Welt, jener Welt geheimen Selbstbewusstseins, in der jeder von uns ein zweites Leben für sich und mit sich allein führt, parallel zu seinem anderen Leben, das er gemeinsam mit anderen führt«. In der Schule grübelte ich darüber, warum keiner der Lehrer die Existenz dieses inneren Lebens zur Kenntnis nahm, geschweige denn thematisierte. Erst als ich buddhistische Mönche traf, begegnete ich zum ersten Mal Menschen, die mit diesem Bereich vertraut waren und offen darüber sprachen, ohne Verlegenheit oder Zurückhaltung.
2
Nimm an, was du erkennst, und überquer die Fluten.
Der Weise ist nicht an Besitz gebunden –
Bleib wachsam, nachdem du den Pfeil herausgezogen –
sehn dich weder nach dieser noch nach der nächsten Welt.
VIER ACHTER, 1:8
Im Jahr 1570 verkaufte Michel de Montaigne im Alter von 37 Jahren sein Amt als Gerichtsrat in Bordeaux, das er dreizehn Jahre lang innegehabt hatte, um sich einem Leben in Abgeschiedenheit zu widmen. Er baute einen dreistöckigen Wehrturm auf seinem Gutshof in einen Rückzugsort um. Das Erdgeschoss diente als Kapelle, das Mittelgeschoss als sein Wohnbereich und das Obergeschoss als Bibliothek. Das Dachgeschoss über der Bibliothek beherbergte die Glocke des Anwesens. »Jeden Tag, bei Tagesanbruch und Sonnenuntergang«, schrieb er, »lässt eine große Glocke das Ave Maria erklingen. Dieses Getöse lässt meinen Turm erzittern.«
An einer Wand schrieb Montaigne seine Absicht auf: »mich zurückziehen und meinen Kopf in den Schoß der Weisen Jungfrauen legen, wo ich in Ruhe und Gleichmut den Rest meiner Tage verbringen werde.« Entbunden vom Druck eines öffentlichen Amtes wollte er sich der Freiheit, Beschaulichkeit und Muße widmen. Das war leichter gesagt als getan. »Der größte Dienst, den ich meinem Geist erweisen könnte«, hatte er gedacht, »wäre, ihn in völligem Nichtstun zu belassen, damit er sich um sich selbst kümmerte, sich zum Stillstand brächte und zur Ruhe käme.« Stattdessen
brachte er, wie ein entlaufenes Pferd, das durch den ganzen Ort galoppiert, seltsame fantastische Monster hervor, eins nach dem anderen, ohne Ordnung oder Plan.
Nicht in der Lage, mit diesen Turbulenzen umzugehen, verfiel Montaigne in eine tiefe Depression. Er zog sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf, indem er eine genaue Beobachtung und Analyse seines Innenlebens vornahm, die er in der Hoffnung niederschrieb, »meinen Geist dazu zu bringen, sich seiner selbst zu schämen«. Auf diese Weise begann seine Karriere als Philosoph und Essayist.
Der Tumult beschränkte sich nicht nur auf seinen Geist. Er tobte überall in seiner Umgebung. Acht Jahre zuvor, 1562, war in ganz Frankreich ein blutiger Bürgerkrieg zwischen Katholiken und Protestanten ausgebrochen. Die Provinz Guyenne, in der er lebte, war ein bedeutendes Zentrum dieser Religionskriege, die, mit Unterbrechungen, für den Rest seines Lebens wüten sollten. Im Laufe des ersten Jahres der Gewalt wurde die nahe gelegene Kirche von Montcaret durch katholische Truppen bei dem Versuch, sie von den Protestanten zurückzuerobern, zerstört. Die nur fünf Gehminuten von seinem Haus entfernte Kirche Saint Michel de Montaigne wurde bis auf die Grundmauern niedergebrannt. »Der Ort, an dem ich wohne«, schrieb er, »wird immer als Erstes und Letztes von unseren Wirren heimgesucht.« Er erzählt, dass er häufig zu Bett gegangen sei und sich dabei ausgemalt habe, er würde »noch in dieser Nacht verraten und zu Tode geprügelt « werden.
Während Montaignes ersten Sommers in seinem Turm initiierten König Karl IX und dessen Mutter, Katharina von Medici, das Bartholomäusnacht-Massaker. Aus Rache für den versuchten Mord am protestantischen Admiral de Coligny befahlen sie die Ermordung aller führenden Protestanten in Paris. Es kam zu Gewalttätigkeiten seitens des Mobs; Katholiken zogen randalierend durch die Straßen und griffen Protestanten an. Das Blutvergießen breitete sich auf zwölf weitere Städte Frankreichs aus, darunter auch Bordeaux. Rund zehntausend Protestanten wurden abgeschlachtet.
Montaigne räumte ein, dass er, wäre er jünger gewesen, hätte versucht sein können, »sich an den Wagnissen und Herausforderungen« der Reformation »zu beteiligen«. Inspiriert von Persönlichen wie dem christlichen Humanisten Erasmus, begrüßte er mit offenen Armen das Wiederaufleben der Vernunft und der klassischen Philosophie, das die Renaissance prägte. Sein engster Freund, Étienne de la Boétie, war der Autor der Abhandlung Von der freiwilligen Knechtschaft [Discours de la servitude volontaire] über das tyrannische Wesen von Regierungen. Auf Wunsch seines Vaters hatte Montaigne Das Buch der Geschöpfe [Theologia naturalis] übersetzt, ein lateinisches Werk des katalanischen Arztes und Philosophen Raimundus Sabundus aus dem 15. Jahrhundert. Sabundus plädierte für ein Gottesverständnis, das sich aus Beobachtungen der natürlichen Welt ableitet und so die Erfordernisse von Glauben und Vernunft, Religion und Wissenschaft in Einklang bringt.
Ein Jahr nach Ausbruch des Bürgerkriegs starb Étienne de la Boétie im Alter von 33 Jahren an der Ruhr. Montaigne war am Boden zerstört. Seine innige Verbundenheit mit Étienne war ein intellektueller und emotionaler Eckpfeiler seines Lebens. Er beschreibt ihre Freundschaft als eine, in der »Seelen miteinander vermischt und in so perfekter Verbindung miteinander verschmolzen sind, dass die Naht, die sie verbindet, sich aufgelöst hat und nicht mehr gefunden werden kann«. La Boétie vermachte seine Bücher Montaigne und diese bildeten das Herzstück der Bibliothek im Turm. La Boétie blieb für immer, stelle ich mir vor, der implizite Leser der Essais.
Um seines Freundes Andenken in Ehren zu halten, beabsichtigte Montaigne, Von der freiwilligen Knechtschaft in den ersten Band seiner Essais aufzunehmen. Er verwarf diese Idee jedoch, als er entdeckte, dass dieser Text bereits veröffentlicht worden war »zu einem üblen Zweck, von jenen, die versuchen, den Zustand unseres politischen Systems umzustürzen und zu verändern, ohne sich darum zu scheren, ob es zu einer Verbesserung führen wird«. Ein ähnliches Schicksal ereilte seine Übersetzung von Raimundus Sabundus’ Das Buch der Geschöpfe, die auch unter protestantischen Denkern Anklang gefunden hatte. Dies führte zu Montaignes längstem Essai, einem Mea culpa in Buchlänge mit dem Titel Apologie des Raimundus Sabundus [Apologie de Raimond Sebond], in dem er Sabundus’ Glauben an die erlösende Kraft der Vernunft zurückweist und durch eine Philosophie radikaler Unwissenheit und bedingungslosen Glaubens ersetzt.
Zehn Jahre lang studierte, sinnierte und schrieb er in seinem Turm. Die erste Ausgabe der Essais in zwei Bänden erschien 1580 in Bordeaux. Montaigne war da 48 Jahre alt. Wie es sich für einen treuen Seigneur gehörte, machte er sich unverzüglich auf den Weg nach Paris, um dem neuen König, Heinrich III., ein Exemplar zu überreichen. Nachdem er bei Hof einen guten Eindruck hinterlassen hatte, begab er sich auf eine Reise, die ihn durch die Schweiz, Deutschland, Österreich und weite Teile Italiens führte. Ende November kam er in Rom an.
Montaigne ging nach Rom, um sich als Nachfolger des scheidenden französischen Botschafters am Hof von Papst Gregor XIII. zur Verfügung zu stellen. Als Kammerherr des Königs von Frankreich, gläubiger Katholik, fließend Latein sprechender Gelehrter und inzwischen auch Philosoph und Literat, war er für diese Position gut geeignet. Da er ebenfalls ein Kammerherr des jungen protestantischen Königs Heinrich von Navarra war (der auch Gouverneur von Guyenne war und zweiter in der französischen Thronfolge), wäre Montaigne ein Verhandlungspartner von unschätzbarem Wert für die beiden Konfliktparteien in den Religionskriegen gewesen. Er mietete ein geräumiges möbliertes Zimmer an, besichtigte die historischen Stätten, hatte eine Audienz beim Papst und reichte die Essais bei den päpstlichen Behörden zur Genehmigung ein. Dann wartete er geduldig auf den Brief aus Paris, der über sein Schicksal entscheiden würde.
»Ehrgeiz«, hatte er in seinem Essai »Über die Einsamkeit« geschrieben, das in dem Buch enthalten ist, welches gerade im Apostolischen Palast einer genauen Überprüfung unterzogen wurde, »ist die Laune, die am stärksten im Widerspruch zum Rückzug steht. Ruhm und Ruhe können sich nicht dieselbe Behausung teilen.« Er kritisierte die römischen Staatsmänner Plinius und Cicero dafür, dass sie die Abgeschiedenheit als einen besonnenen Karriereschritt betrachteten, als ein Mittel, um andere mit ihrer Gelehrsamkeit und philosophischen Finesse zu beeindrucken. Diese Herren, stellte er fest, »haben lediglich ihre Arme und Beine außerhalb der Gesellschaft: ihre Seelen und Gedanken bleiben mehr denn je mit ihr beschäftigt. Sie sind nur einen Schritt zurückgetreten, um zu einem noch gewaltigeren Sprung anzusetzen.« Weltlicher Ruhm, erklärte er, »ist weit abseits meiner Überlegungen«.