Czytaj książkę: «Abendlicht»

Czcionka:

Die Erstausgabe erschien 1979 als Quartheft im Verlag Klaus Wagenbach.

E-Book-Ausgabe 2020

© 1979, 1987, 2015 Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Covergestaltung Julie August.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 978 3 8031 4295 5

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3271 0

www.wagenbach.de

Man sah den Wegen am Abendlicht an, daß es Heimwege waren.

Robert Walser

Vorn zwei Oboen und eine Oboe da caccia, im Hintergrund Streicher und Continuo setzen mit dem Thema ein, das der Chor von Takt 24 an homophon wiederholt. Von den Wäldern atmet Kühle her. Wie schnell ist der Tag vergangen. Es hat sich eine Dämmerung aufgemacht; aus ihren Falten werden tiefere Finsternisse fallen. Wo einer fragt, werden andere keine Antwort wissen, und wo Antworten gegeben werden, werden Fragen warten. Mit Allabreve beginnt beschleunigt eine Chorfuge. Später schreitet der Alt in Ganztönen immer tiefer nach unten. Die Dunkelheit löscht die Gesichter aus, die Merkmale der Arbeit, die helleren Farben der Straßen; kein Fenster schimmert mehr, kein nachbarliches Haus, keine Siedlung wartet. Die Streicher beschreiben mit g-d-b-fis ein Kreuz. Bleibe bei uns.

Wer recht in Freuden wandern will sangen wir, der geh der Sonn entgegen. Die Sonne stand dicht über dem östlichen Bergkamm, als wir über die Innbrücke zogen. Auf der Brücke, gerade in der Mitte des breiten, unendlich langen Tales, hielt ich inne, eine Minute hindurch taub für das Rufen der Lehrer. In der Tiefe des schnellen graugrünen Wassers glaubte ich die Forellenschwärme zu erblicken, die in ihm wohnten, und sah dann fern im Süden den Berg, der das Tal abschloß, den ich meinen Berg nannte und nie vergaß, La Margna. Und der Himmel da oben, wie ist er so weit, wie still konnte er damals sein, noch zeichnete ihn keine Kondensspur, über den fernen Berg hinweg zog er den Blick nach oben, ließ ihn von Tiefe zu Tiefe stürzen, denn die Tiefe war nicht nur unten in den Gewässern, sie umgab mich von allen Seiten, ihr anderer Name war Stille, nirgendwo war sie tiefer als im Blau da oben, in das ich hinaufschwebte, in das ich niedersank. Mein Blick suchte, wie schon immer, die Wolken, die dahinwanderten wie ich selber, einander gleichend wie vor, wie nach Jahrtausenden, und doch so schmerzhaft unbeständig und mir bedeutend, daß kein künftiger Augenblick mehr sein würde wie dieser.

Die Sonne erstarkte, sie glühte im unheimlichen Blau hoch über den Wäldern am Hang, in deren Schatten ich hierhin und dorthin lief, Alpenrosen pflückend, die ich in meinen kleinen Rucksack stopfte; sie würden nicht verletzt werden, nicht gleich welken, es waren kräftige Blumen, die in meinem Gedächtnis weiterflammen würden, lange noch, nachdem ich die Gläser zu Hause mit ihnen gefüllt hatte.

Aus den Wäldern rief der Kuckuck, man brauchte seine Rufe nicht zu zählen, endlos lag das Leben vor mir. Der Tag wölbte sich höher, nur selten sah man Menschen, doch spürte man überall ihre ruhige, freundliche Gegenwart in den festen, jahrhundertealten Häusern, auf den sauberen Straßen, durch die manchmal ein Wagen dahin knarrte; fern lehnte ein Hirt an seinem Stab neben den Lärchen. Stündlich fuhr der elektrische Zug durch das Tal; sein Rollen und Rauschen verhallte schnell.

Am späteren Nachmittag, wenn ich die Schule und die Mittagsruhe hinter mir hatte, ging ich am Hause der Plantas vorbei durch die Wiesen flußabwärts auf den nadelspitzen Kirchturm von Scanf zu, wo mich der alte Pfarrer erwartete, der mit mir den Comelius Nepos las. Eine Wanduhr tickte langsam und beharrlich. Eingehüllt in das warme Licht, das in einer Säule aus tanzendem Staub und Tabaksdunst auf mein Buch fiel, folgte ich schläfrig und zufrieden den grammatikalischen Erläuterungen des Pfarrers. Auf dem Heimweg verweilte ich neben den Gruppen der Bauern, die auf der Dorfstraße beisammen standen. Ich mühte mich, nicht allzu neugierig zu erscheinen; ich lauschte dem Klang ihres ladinischen oder deutschen Redens; manchmal warf mir der eine oder andere einen gleichmütig-milden Blick zu. Ich betrachtete ihre mächtigen Gestalten, ihre breiten, dunklen Hände; was sie sprachen, verstand ich nur zum Teil. Sonntags standen sie in Feiertagskleidung neben der Kirche, die Frauen trugen die schwarz-rote goldgesäumte Tracht der Gegend. Diese Menschen flößten mir Scheu ein; sie herrschten über die Acker, die Weiden, die Almen, die Tiere; immer wußten sie, während die Jahreszeiten wechselten, einen Tag um den anderen, was zu tun war, ihre Wege durch das Tal, ihr Verweilen an dem oder jenem Ort bildeten die Linien und Punkte eines Systems, eines Entwurfs. Sie wußten etwas, das mir unbekannt war und das ich wissen wollte.

Aber wieder wurde mein Blick emporgerissen, eine Bläue türmte sich unergründlich auf die andere, ein rötlicher Schein drang über die westlichen Bergzüge, die ersten Sterne traten zwischen den scharfen Konturen der Wölkchen blaß hervor, und, mit Grauen über die Schulter zurückblickend, sah ich hoch oben den abendlichen Adler über dem finsteren Dreieck des Piz d’Esan seine Kreise ziehen.

Dieses langsame, tastende Wiederfinden des eigenen Körpers, des Ortes, der Jahreszeit, der ungefähren Stunde. Was war das doch … Durch einen Fensterausschnitt werden drei kalt funkelnde Sterne sichtbar. Es ist Winter. Aber eben war da noch eine Wärme gewesen, mehr, eine Glut, wüstenhaft, sengend, erstickend. Dabei war ich auf offener See, ja über ihr, denn ich flog, ohne daß ein Laut zu vernehmen war, in einem Gerät, das ich nicht zu erkennen, wohl aber zu steuern vermochte. Ich flog über einer so gut wie unbewegten, bleiernen, biblischen See, wie ich sie vor Jahrzehnten während eines Hochwassers auf Föhr gesehen hatte. Mein Gerät flog schnell, es war überaus wendig, ich konnte im Augenblick aus der Höhe eines Raumfliegers nach unten stoßen und dicht über der Wasserfläche dahinschießen.

All diese Unbewegtheit unter mir, oder vielmehr dieses langsame, kaum wahrnehmbare, träge Atmen der Wasser in einem Licht, das von nirgendwoher kommt. Die Winde ruhen. Keine Küste, keine Insel, kein Schiff. Aber irgend etwas sagt mir, daß ich über dem Kanal sein muß, etwa dort, wo er in die Nordsee hinaus geht. Wie kommt es denn aber, daß ich nichts von Harwich sehen kann, nichts von Holland, vielleicht bin ich doch viel weiter westlich über dem offenen Ozean. Aber gerade jetzt kann ich aus meiner sehr großen Höhe etwas sehen, ein Boot vielleicht oder eine Planke, etwas jedenfalls, das im langsamen Auf und Ab des Wassers schaukelt, und als ich tiefer gehe, ist es der Flügel eines Flugzeugs, es ist, wie ich jetzt deutlich erkenne, die Tragfläche einer Spitfire, und quer über ihr liegt ein Mann auf dem Rücken, ich ahne, was mir bevorsteht, und einen Augenblick später sehe ich meinen Bruder. Er liegt gerade neben der Kokarde, er trägt seine Mae West und die Haube mit den Kopfhörern, sein blasses Gesicht ist ein wenig gedunsen, aber fast so, wie es im Leben gewesen war, und als ich noch tiefer gehe, sehe ich, daß er etwas Weißes in der einen Hand hat, ein Blatt Papier, einen Zettel. Ich steige sofort wieder höher – man müßte Hilfe holen oder vielmehr ihn bergen lassen, damit er sein Grab bekommt und die Squadron ihren Ehrensalut schießen kann. Merkwürdigerweise wende ich mich aber nach Osten statt nach Westen. Schon liegt Land unter mir, ich kann die Küsten des Kontinents deutlich erkennen, ich bin wieder zum Raumfahrer geworden, keine Wolke stört meinen Blick, von neuem nehme ich die Hitze wahr, die mich umgibt, jetzt riecht es auch brandig, wäre es möglich, daß die Wälder unter mir brennen, ich fliege wieder sehr tief, ich streife fast die Baumwipfel, nichts brennt, keinerlei Bewegung, obwohl ich manchmal über halb oder ganz zertrümmerte Städte und Dörfer fliege, aber diese Brände da unten sind seit langem erloschen. Niemand ist zu sehen, ich fliege über die langsamen Flüsse, die zwischen flachen Ufern nach Norden ziehen, ich fliege über riesige, frisch gepflügte Felder, dann wieder über Ansammlungen langer, ebenerdiger Häuser, sind es Kasernen, Baracken, schlanke, hohe Schornsteine werden gelegentlich sichtbar neben Werkhallen, aber da ist niemand, kein Mensch, keine Bewegung, nur liegt alles in dieser toten, zähen Glut. In einer weiten Kurve wende ich mich wieder nach Westen, weit drüben taucht die See auf, unverändert schaukelt der tote Flieger auf seiner Tragfläche, unverändert hält er das weiße Blatt in seiner Hand, etwas steht darauf, ich gehe tiefer, um lesen zu können, was darauf steht, es ist kein Zettel, es ist ein Kalenderblatt und es zeigt das Datum des 22. Juni, und in diesem Augenblick beginnt um mich her ein Geheul, es ist, das weiß ich erst später, mein eigenes Schreien, denn das Kalenderblatt oder vielmehr die Macht, die es meinem Bruder in die Hand gedrückt hat, will deutlich machen, daß dieses Datum aus der Zeit getilgt ist, es gibt diesen Tag nicht, es wird ihn nie mehr geben, es gibt nur den 21. Juni, auf den der 23. Juni folgt, und der 23. wird sein wie der 21. war, es ist so vereinbart worden, und von nun an werden alle Tage ohne Änderung einander folgen, mit dieser Lautlosigkeit, dieser Windstille, dieser Glut, diesem trägen Schaukeln der Gewässer unter einem tageszeitlosen Licht.

Die Jahre in den Bergen fielen mir nicht leicht, ich gewöhnte mich nur langsam an die fremden Kinder, nachdem ich so lange allein gewesen war. Mir fehlten meine Hauslehrer, meine Erzieherin, die Mädchen, alle die Menschen, die mich Tag für Tag umgeben hatten, ehe ich in das Internat kam. Sie standen unwandelbar um mich her, voll unergründlicher Weisheit und Erfahrung, stets in Sorge um mich, manchmal streng auf einer Forderung bestehend, aber immer freundlich und Vertrauen spendend. Meine Eltern sah ich die ganze Zeit nicht, nur einmal tauchten sie jung und strahlend auf, sie waren durch Italien gereist, jetzt nahmen sie mich ins Suvretta-House mit, wir aßen unter lauter fremden Leuten, am nächsten Tag war der Nationalfeiertag, als es dunkel wurde, erstrahlten Feuer auf den Berggipfeln, wir mußten vor den Hotelgästen in der Halle singen, ich sah meine Eltern in Abendtoilette unter anderen festlich gekleideten Gästen, wir sangen In Sempach der kleinen Stadt, wir waren im Internat auf drollige Weise patriotisch gesinnt, obwohl wir Zöglinge allesamt Ausländer waren, dann stoben meine Eltern davon und ich sah sie erst viel später wieder.

Wir wurden gut nach modernen Grundsätzen unterrichtet, ich hatte begonnen die Lehrer zu lieben, wenn auch sie alle mir nicht die abwesenden vertrauten Menschen ersetzen konnten. Am meisten liebte ich ein Fräulein Zehnder. Einmal saß sie im Gespräch mit anderen Lehrern und Lehrerinnen, ich stand zutraulich daneben, es war etwas Ernstes, ja Trauriges in ihren Gesichtern. Fräulein Zehnder wandte sich plötzlich an mich und sagte: »Wie alt bin ich wohl, was glaubst du …« Alle sahen mich erwartungsvoll an. Mir fiel es schwer, das Alter von Erwachsenen zu schätzen, es war ungreifbar; ich zögerte. »Das Seminar hat unsere Jugend verbraucht«, sagte Fräulein Zehnder leise. Zum ersten Mal fühlte ich unklar, daß es in der Welt Versäumtes, Mißlungenes, daß es Reue gab.

Der Besuch der Sonntagsschule machte mir das größte Vergnügen. Man lehrte uns die schönen Choräle von Paul Gerhardt, man las uns Erzählungen aus dem Neuen Testament vor, die wir nacherzählen mußten. Wer gut lernte, erhielt kleine Bildchen, auf denen Episoden aus der Heiligen Schrift dargestellt waren. Plötzlich schienen mir die bunten, grellen Bilder das Schönste zu sein, was ich je gesehen hatte; sie waren viel schöner als die Bilder, die mich zu Hause umgaben. Ich träumte die ganze Woche hindurch von den Bildchen, die ich am kommenden Sonntag erlangen würde. Am Sonntagnachmittag saß ich in meinem kleinen Zimmer unter dem Dach und betrachtete die Bildchen, die mich so sehr entzückten, ich sah die Stadt Emmaus in der Ferne, und im Vordergrund den Kleophas, wie er Christus begegnet. Darunter stand: Bleibe bei uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneiget.

Der Winter dauerte zu unserer Freude lange, er begann im Oktober und endete im April. Der Schnee lag so hoch, daß der Pedell an manchen Tagen die Haustür freischaufeln mußte. Wir wurden zum Skifahren angehalten, was die meisten von uns gern und mit wachsendem Geschick taten. Einige der großen Jungen besaßen Skeleton-Schlitten, und wir blickten ihnen lange nach, wenn sie zur Crestabahn zogen.

Abends im Bett las ich den »Oliver Twist«, die Kerze sorgfältig schirmend, damit kein Lehrer auf seinem Kontrollgang den Lichtschein an der Schwelle wahrnehmen könne. Dann lag ich eine Weile im Dunkel, blickte aus dem warmen Zimmer in die eisige Nacht mit ihren großen Sternen und dachte über Oliver Twists Schicksal nach. Mich erfaßte heftiges Mitleid mit armen Kindern, die es glücklicherweise nur in Büchern gab. Diese Nächte waren fast ohne Laut, nur selten ertönte der Pfiff eines Zuges im Tal. Dann kam der Frühling, und die erstarrten Wasserfälle in den Schluchten begannen wieder zu rauschen. Lawinen donnerten die ganze Nacht durch in meinen Schlaf hinein, wenn man erwachte, bedeckte blauer und gelber Krokus die Wiesen bis hinauf, wo der nackte Fels begann. So schön dies war, traf es mich doch wie ein scharfer Schmerz. Ich war Teil einer Winterwelt geworden, einer einförmigen Weiße, in der alles zur Ruhe kam, was sonst einander widersprach, über der der Himmel tiefer blaute und die Stille unterbrochen, aber nicht gestört wurde von jenen nahen und fernen Stimmen, die hallend und deutlich das Tal hinab wanderten.

Von frühen Leseerlebnissen sind mir zwei, aus gänzlich verschiedenen Gründen, merkwürdig geworden. Das erste bezieht sich auf ein Buch oder einige Bücher, das oder die ich in der Tat ganz früh, also zwischen dem sechsten und achten Lebensjahr las. Ich denke an »Tausendundeine Nacht«, daneben schieben sich aber Andersens »Bilderbuch ohne Bilder« und der »Lederstrumpf«. Daß die Grenzen, die Ränder dieser ganz unterschiedlichen Werke undeutlich werden, daß sie ineinander überzugehen versuchen, muß damit zusammenhängen, daß dargestellte Personen und Handlungen nicht so sehr wichtig waren für mich, sondern vielmehr eine vorgestellte Landschaft, eine Tageszeit, eine Aura, in denen sich Personen bewegten, ihre Handlungen vollbrachten.

Unterstützt wurde die Neigung, Atmosphärisches über das eigentlich Berichtete zu stellen, oder, wie man auch sagen könnte, in einem gegebenen Text einen zweiten, anderen zu lesen, durch beigegebene Illustrationen, deren Urheber ich vergessen, wenn ich sie überhaupt je gekannt habe. In meiner Ausgabe der Grimmschen Märchen, die ich ständig las, befand sich das Bild eines ansteigenden Wiesenhanges, über dem ein blaßblauer, mit weißen Wolken betupfter Himmel stand. Über diesen Wiesenhang stiegen, an ihm lagerten die Märchenfiguren in einer Lautlosigkeit, nach der ich mich sehnte. Als Erwachsener kam ich in einige orientalische Städte (Bagdad war nicht unter ihnen) – überall suchte ich nach den Gassen, den Basaren, in denen langsam ein heiteres und unheimliches Leben verging. Seit ich zum erstenmal »Tausendundeine Nacht« gelesen hatte, drang immer die gleiche rubinene Glut aus der Nacht der Basare, lief der gleiche kleine Wasserverkäufer durch die schweren Schlagschatten, stand die gleiche unsichtbare Sonne an einem tiefblauen Himmel über der Morgenkühle in den Häuserschluchten. Umgeben von Armut und Verfall und dem Einbruch einer widerwärtigen Technik stand ich lange neben den Märchenerzählern an den Straßenecken. Ihre Sprache verstand ich nicht; nur in den Augen ihrer zerlumpten Zuhörer lebten die Bilder und Gestalten meiner Kindheit. Lange suchte ich nach einem Licht, das ich einmal deutlich gesehen hatte. Ich habe es nicht gefunden.

Mit dreizehn Jahren las ich zufällig das »Kommunistische Manifest«; es hatte später Folgen. Mich bestach daran der große poetische Stil, dann die Schlüssigkeit des Gesagten. Zu den Folgen gehörte, daß ich es mehrmals las, im Laufe der Jahre sicher zwei dutzendmal. In drei Ländern hörte ich bei meinem Lehrer Hermann Duncker Vorlesungen über das Manifest; Duncker, der das Werk vom ersten bis zum letzten Wort hätte auswendig hersagen können, gehörte zu jenen nicht mehr Lebenden, die noch mit Tränen der Ergriffenheit in den Augen über marxistische Theorie sprachen. Das berühmte Werk führte mich zu schwierigeren, umfangreicheren Schriften der marxistischen Literatur, aber ich kehrte immer wieder auch zu ihm zurück. Längst schon glaubte ich, es genau zu kennen, als ich, es war etwa in meinem fünfzigsten Lebensjahr, eine unheimliche Entdeckung machte. Unter den Sätzen, die für mich seit langem selbstverständlich geworden waren, befand sich einer, der folgendermaßen lautete: »An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung aller die Bedingung für die freie Entwicklung eines jeden ist.« Ich weiß nicht, wann ich begonnen hatte, den Satz so zu lesen, wie er hier steht. Ich las ihn so, er lautete für mich so, weil er meinem damaligen Weltverständnis auf diese Weise entsprach. Wie groß war mein Erstaunen, ja mein Entsetzen, als ich nach vielen Jahren fand, daß der Satz in Wirklichkeit gerade das Gegenteil besagte: »… worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.«

Mir war klar, daß ich auch hier gewissermaßen in einem Text einen anderen Text gelesen hatte, meine eigenen Vorstellungen, meine eigene Unreife; daß aber, was dort erlaubt, ja geboten sein konnte, weil das Wort auf andere Worte, auf Unausgesprochenes hinwies, hier absurd war, weil in meinem Kopf eine Erkenntnis, eine Prophetie auf dem Kopf stand. Dennoch mischte sich in mein Entsetzen Erleichterung. Plötzlich war eine Schrift vor meinem Auge erschienen, die ich lange erwartet, auf die ich gehofft hatte.

Meine Verwandten interessierten mich nicht, ich liebte keinen von ihnen mit Ausnahme meines Onkels Herbert, der der jüngere Bruder meines Vaters war. Onkel Herbert kam selten, er tauchte nur zwei-, dreimal im Jahr auf, immer in Gesellschaft eines mächtigen Neufundländers, der schwarz und lautlos in der Diele Platz nahm. Mein Bruder und ich erhoben ein Freudengeschrei beim Erscheinen des Onkels, denn er brachte uns jedesmal schöne Bücher mit oder ein mechanisches Spielzeug, wie wir es noch nicht gesehen hatten. Wir lachten über seinen schwarzen, breitkrempigen Hut; der Onkel lächelte uns vergnügt zu. Manchmal erschien mit ihm der Maler S., dessen verführerische, in grauen und graublauen Tönen gemalte Bilder mein Vater schätzte. S. blieb dann ebenfalls für einige Tage. Das Haus war groß und wir hatten oft Gäste.

Mein Vater war kein Mann lauter Freudenbekundungen, aber die Freude leuchtete förmlich aus ihm, wenn Onkel Herbert zu uns kam. Der Onkel sah meinem Vater ähnlich, er war mittelgroß wie dieser und hatte die gleichen blauen Augen, nur war er breiter, er neigte ein wenig zur Fülle, und in seinem Lächeln lag etwas von Schwäche. Wenn er kam, schien meine Mutter, die selten zu Hause war, noch beschäftigter als sonst zu sein – von ihren Lippen drangen die magischen Namen des Modisten Gerson, des Juweliers Markus, des Friseurs Karsten. Sobald Onkel Herbert sich ein wenig erfrischt hatte, schloß sich mein Vater mit ihm für eine Weile in seinem Arbeitszimmer ein, aus dem kein Laut nach draußen drang. Wenn beide wieder zum Vorschein kamen, setzten sie sich an den Flügel und spielten die f-moll-Fantasie von Schubert und andere vierhändige Stücke. Ich hatte den Eindruck, daß sie beim Musizieren oder vielmehr durch die Musik ihre Unterhaltung fortsetzten. Onkel Herbert spielte ebensogut wie mein Vater. Wenn mein Vater nicht zu Hause war, spielte er allein. Stets brachte er aus seinem Gepäck einen dicken Stoß Noten zum Vorschein, er spielte Komponisten, die sonst bei uns nicht zu hören waren, ziemlich neue Komponisten wie Skrjabin, Ravel und einen Engländer namens Cyrill Scott. Ich blickte, während er spielte, auf seine Hände, deren Finger vom Rauchen gelblich verfärbt waren – beide Brüder waren starke Raucher, sie rauchten sogar oft am Klavier, aber Onkel Herberts Zigaretten waren ganz verschieden von denen meines Vaters, sie hatten einen merkwürdigen süßen Geruch. Manchmal trat der Onkel leise ins Musikzimmer, wenn ich beim Üben war, er hörte mir eine Weile zu und lobte dann meine Fortschritte. Ich merkte, daß er auch vom Violinspiel manches verstand; er korrigierte meine Haltung des Kinns und der linken Hand, um mein Vibrato zu verbessern.

Nie hörte ich von ihm ein lautes Wort, nie sah ich in seinen Zügen etwas, das nicht Güte und Liebe war. Einmal stellte ich ihm eine Frage, deren kaum wahrnehmbare Wirkung mich beunruhigte. Nachdem er so oft allein mit S. zu uns gekommen war, fragte ich ihn, ob er denn ganz allein, ob er nicht verheiratet sei. Onkel Herbert verneinte mit seinem vertrauten, jetzt aber ein wenig verzerrten Lächeln. Er strich mir übers Haar und setzte sich ans Klavier.

Mir fiel auf, daß die Dienstboten Onkel Herbert mit etwas übertriebener Höflichkeit behandelten, als machten sie sich insgeheim über ihn lustig. Er schien es nicht zu bemerken; er dankte leise für eine Handreichung, eine Auskunft; ich sah, daß er dabei die Augen niederschlug.

Einmal sagte ich zu meiner Erzieherin, ich hätte Onkel Herbert ebenso lieb wie meinen Vater. Sie preßte die Lippen zusammen und blickte hart auf die Wand. »Dein Onkel ist lieb und gut«, sagte sie nach einer Weile kalt, »aber er taugt nicht fürs Leben.« Ich wollte wissen, was das heißen sollte. »Er kann ja nur Klavier spielen und fremdes Geld ausgeben. Der gnä’ Herr« – sie sprach von meinem Vater und meiner Mutter nie anders als von dem »gnä’ Herrn« und der »gnä’ Frau« – »der gnä’ Herr hält ihn ja aus, er zahlt ja alles für ihn, es ist der reine Jammer, dein Onkel ist ja wie ein Kind … Mit dem gnä’ Herrn ist er nicht zu vergleichen. Und überhaupt …« Mit diesem rätselhaften »und überhaupt« schloß sie ihre Belehrung, die auf mich geringen Eindruck machte. Mir war, als hätte ich Onkel Herbert jetzt noch lieber, weil er ihren Worten nach einem Kind glich.

Etwa um diese Zeit wurde ich ungewollt Zeuge einer Auseinandersetzung zwischen meinen Eltern, der ich keine Aufmerksamkeit geschenkt haben würde, wenn sie sich nicht, wie ich sofort erriet, um Onkel Herbert gedreht hätte. Ich saß in der Ecke eines Zimmers auf dem Boden und hatte ein Buch vor mir, als meine Eltern das Nebenzimmer betraten. Sie konnten mich nicht sehen. Meine Mutter sprach heftig auf meinen Vater ein, der sich in einen Sessel geworfen hatte. »Du solltest wenigstens einmal Rücksicht nehmen«, hörte ich meine Mutter sagen, »du weißt sehr wohl, daß diese Sorte von Menschen unzuverlässig ist.« Wie es mitunter ihre etwas törichte Art war, wiederholte sie den Satz auf englisch: »People like him are rather unreliable, you know …« »Bitte, schweig«, hörte ich meinen Vater leise sagen, »schweig jetzt, bitte …« Ich verließ das Zimmer auf Zehenspitzen, ohne daß sie mich bemerkten.

Ich muß neun Jahre alt gewesen sein, und Onkel Herbert hatte uns schon seit vielen Monaten nicht mehr besucht, als während einer Unterrichtsstunde im Hause eine Unruhe entstand. Ich hörte Hin- und Herlaufen, eine Tür schlug, unterdrücktes Reden und Klagen wurde hörbar. Ich lief aus dem Zimmer, verfolgt von den Ordnungsrufen und Protesten meines Hauslehrers. Auf dem Gang begegnete mir meine Erzieherin, die rotgeweinte Augen hatte; sie weinte bei jeder sich bietenden Gelegenheit. »Dein Onkel Herbert ist tot«, flüsterte sie, »welch ein Unglück …« Ich schlich mich zum Arbeitszimmer meines Vaters und öffnete leise die Tür. Mein Vater stand mit weißem Gesicht mitten im Zimmer und sah mit blindem Blick in meine Richtung.

Onkel Herbert hatte sich erschossen, irgendwo in einem anderen Land. Mein Vater fuhr zu seinem Begräbnis. Man sprach nicht mehr von ihm, man vergaß ihn allmählich, auch ich. Nur manchmal, später, in der Dämmerung, wenn ich allein im leeren Musikzimmer saß, drang noch die fremde Musik zu mir, die unter seinen unsichtbaren Händen entstanden war.

Darmowy fragment się skończył.

399 ₽
42,81 zł